Werter James,
dein Angebot erscheint mir fair und reell. Ich würde mich dann mal um die Kategorie E (=Totalverriss) bemühen wollen.
https://www.leselupe.de/lw/showthread.php?threadid=133333&pagenumber=3
Verehrtester Lord,
hier lese ich eine sorgfältig ausgearbeitete Kurzgeschichte, an der es sprachlich kaum etwas auszusetzen gibt. Der unmittelbare Einstieg in media res, das schrittweise Aufdecken der Situation, der enge Zeitausschnitt, die Konzentration auf einen personalen Erzähler, die lakonische Erzählweise, der offene Schluss und die Beschränkung auf einen Wortumfang von 1.162 Worten formen hier eine Kurzgeschichte klassischen Stils.
So angenehm dies auch zu lesen ist, so macht es zugleich den vom Autor erwünschten Totalverriss schwierig. Denn dazu bedarf es entweder einer besonders stümperhaften Ausführung der Form - oder eines möglichst grandios gescheiterten Versuchs künstlerischen Experimentierens. Beides ist hier aber nicht gegeben - und so lässt sich schlimmstbestenfalls konstatieren, dass die Stärke des Textes zugleich seine Schwäche offenlegt: Zu sehr auf seine ansprechende Form und auf die inhaltliche Plausibilität bedacht, verliert der Text zunehmend seine Kraft in der Endlosschleife der Ausbruchsversuche seines in die Demenz abgleitenden Protagonisten.
Die Einstiegsspannung der zwischen den Regalen verschwundenen Frau verflacht zusehends und wird bereits nach dem ersten Drittel ganz aufgelöst: "Es war ein Heim!" Damit ist der Leser hinreichend aufgeklärt. Mit der im zweiten Drittel einsetzenden Rückkehr der Erinnerung an die eigene Situation wird zugleich die Handlung des letzten Teils vorweggenommen, die nun von vornherein als Wiederholungstat feststeht. Am Ende wird diese Programmatik der Wiederholung durch den Protagonisten lediglich noch bestätigt.
Diese heilose Melange aus Vergessenem, Erinnertem und Wiedervergessenem ist nachvollziehbar und ansprechend beschrieben und wohl auch kennzeichnend für den Weg in die Demenz. Im Sinne eines fortgesetzten Suspense wäre es allerdings besser, auch den Leser etwas länger im Dunkeln zu lassen und die Lichtblicke der Erinnerung auf Taschenlampenformat zu schrumpfen, wo schrittchenweise etwas erhellt wird und dem Leser das Zusammensetzen der Puzzleteile überlassen bleibt. So wie er ist, fehlt dem Text die Überraschungswürze einer Kurzgeschichte: die dramatische Wende kurz vor Schluss, die dann alles in ein neues Licht wirft.
Mein Urteil: Eine gelungene Übung, aber zu wenig Geschichte.
Grüße
JB