Moin,
nach mehreren Romanen, in denen wir Herbert Tamban, als Ermittler kurz vor der Pensionierung kennengelernt haben, springen wir endlich an den Anfang
nach mehreren Romanen, in denen wir Herbert Tamban, als Ermittler kurz vor der Pensionierung kennengelernt haben, springen wir endlich an den Anfang
Ich teile mit euch die ersten zwölf Kapitel.
Herbert Tamban
Lagholz
In einer Zeit, in der die Koteletten bis zum Kinn wucherten, Röcke dagegen kaum die Pobacken verdeckten, in der man Scheiben drehte und nicht auf Glas hämmerte, um zu telefonieren, wurde Herbert endgültig vom Kind zum Erwachsenen. Der Ernst des Lebens rückt näher, die Reifeprüfung. Was danach? Zivildienst unausweichlich. Die Urgroßmutter aus der einen Linie präferiert für ihn den Friseurberuf, wie schon viele Generationen vor ihr diesen ausgeübt haben. Der Großvater aus der anderen Linie würde ihn gern bei der Polizei sehen. Das er diese Tradition weiter führt wie er, dessen Söhne und Ahnen. Dabei will Herbert nur das machen, was er kann: Malen, Kunst studieren. Die Arbeit im Frisiersalon kennt er, regelmäßig hilft er im Salon der Tante aus. Vor den Sommerferien setzt sich endlich der Großvater durch und übergibt den Enkel seinem ältesten Sohn Richard. Dieser soll während eines Praktikums Herbert die Arbeit bei der Kriminalpolizei schmackhaft machen.Lagholz
Bereits am Sonntag, einen Tag vor Beginn des Praktikums, beordert Onkel Richard Herbert zu einem Leichenfundort. Was niemand ahnt: Bei der weiblichen Leiche handelt es sich um die Schwester von Herberts Freundin Rosanna.
1
Kriminalhauptkommissar Richard Tamban strich über seine Koteletten, hockte sich nieder und klopfte auf die Schulter des Mannes, der neben ihm kniete. „Hinnak, wat wissen wir?“
Der Angesprochene schob den Elbsegler zurück und zupfte am knallroten Minirock der Frau, die rücklings auf dem Waldboden lag. „Wat du weetst, weet ik nich, wenn du meenst, wat ik von ehr weet, denn heff ik geern antert: Midden zwanzig, Verletzung am Hinterkopf, geh von stumpfem Schlag ut.“ Dabei schwang er einen Gehstock wie einen Degen.
„Worde sie … du weest?“
Hinnerk hob den Saum des Rockes an. „Kann, kann nich wesen. Zumindest hett een ehr …“ Er legte den Saum auf ihre kurzärmlige weiße Rüschenbluse ab.
Der Kriminalhauptkommissar verdeckte den Mund und murmelte: „Widerlich.“ Er wandte sich ab und richtete die Schiebermütze. „Ham wir aan Namen. Aba bitte kaan dumm Spruch.“
Hinnerk wies voraus. „Ehr Handtasch liggt bi ehr, aber se is leer.“
„Allegra!“ Herbert beobachtete seinen Onkel Richard, wie dieser sich ihm zuwandte. Dieser Hinnerk dagegen, der wie ein ertappter Verbrecher zusammenzuckte, ferner hektisch mit dem Rock ihre Scham bedeckte, irritierte ihn. Während ihre rote Unterhose weiterhin ihre Knie umschmeichelte, als hätte sie zuvor gepinkelt.
Onkel Richard erhob sich. „Wat machst hiaa?“
Manchmal zweifelte Herbert an Onkel Richards Verstand. „Du hast mich angerufen.“ Er betrachtete erneut Allegra. Erst in diesem Augenblick realisierte er, dass sie tot war. Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Ein eiskalter Schauer rann ihm über den Rücken, während er sich umsah. Zwischen den Bäumen des Waldes Lagholz bei Hötzum wuselten Polizisten herum, als wäre es vollkommen normal, dass dort auf einem Bett aus Buchenblättern sowie Kiefernnadeln eine Frau lag. Wobei ihr Kopf eher im Dunstkreis der Kiefer nahe einem Ameisenhaufen ruhte. Er trat vor – Übelkeit überkam ihn – die Insekten hatten bereits von ihr Besitz ergriffen. Schleunigst schaute er weg, dafür Onkel Richard an.
Dieser drohte mit der Rechten. „Gluubst, ich bin senil? Ich maan, warum stehst hinta mich und weshalb kommst erst jetze? Zu lang jefaaat, wie?“
„Feiern, was sollte ich feiern? Ich war wie jeden Samstag im Kino. Hey, außerdem, weißt du, wie weit das mit dem Rad von Atzum hierher ist?“
Herbert wohnte seit gut einem Jahr bei den Großeltern in Atzum. Ein mickriges Dorf, das Wolfenbüttel sich vor Kurzem einverleibt hatte. Abgesehen von seiner Familie, hatte er mit Wolfenbüttel nichts zu schaffen, denn er besuchte weiterhin die Oberstufe in Braunschweig. Ein Linienbus verband die beiden angrenzenden Städte. Wie Potsdam und Berlin vor dem Mauerbau, bloß eben kleiner.
„Höre ma, die Brasilianer ham jestan im klaanen Finale aan richtich Klatsche kassiaat. Ich bin ja nich för die Polacken, aba in deren Mannschhaft spielen zumindest Dötsche. Sagen dörfen sie es zwar nich, Aba in ihra Seele sind sie es. Wennglaach da Oberparteibonze von denen, diesa Edward Gierek Schlesia is und man munkelt, er spräche mit’m Brandt Dötsch. So’n siech faaat man und jeht nich inne Kino. Du wirst seh’n, heut waden wir Fußballweltmaasta.“ Er schüttelte den Kopf. „Die Jugend von heut hat kaane Werte mehr.“
Da standen sie vor einer Leiche und Onkel Richard brabbelte von Fußball und Schlesier. Wurde man bei der Polizei irgendwann derart abgebrüht? Er kannte die Gesinnung seines Onkels. Er war zwar kein Nazi, dennoch der Auffassung, die Juden seien für den Untergang verantwortlich gewesen, daher keine Opfer, sondern Täter. Mit dieser Haltung war er nicht allein. Herbert bekam stets Bauchschmerzen, wenn er daran dachte, wie der Hitler zum Deutschen wurde. Die Braunschweiger hatten ihren Otto den I., Heinrich den Löwen, Till Eulenspiegel, den Freiherrn von Münchhausen und – Adolf. In Herberts Stadt wurde aus dem Österreicher ein Deutscher: Schande. Weil er jedoch keine Lust empfand, Onkel Richard zum einhundertsten Mal zu erklären, wer wen ermordet hatte, vermied er dieses Thema. Er glaubte, er musste kotzen. „Sehr witzig.“
Onkel Richard drohte erneut. „Wird mich nich frech! Geh‘ ma lieba zu maan Schwaga, Daan Onkel, der soll dir aan anständigen Putz verpassen. Mit daan lang Loden siehst uus wie aan Hippie, kannst dich bald aan Zopf flechten.“
Seine Tante, Onkel Richards und seines Vaters Schwester, besaß mit ihrem Mann einen Frisiersalon in der Innenstadt von Wolfenbüttel.
„Tante kann das besser“, konterte Herbert, starrte erneut Allegra an und glaubte ein Zwinkern ihrer Augen zu sehen. Schlief sie vielleicht doch?
Er sah, wie Onkel Richard ausholte, wich der Ohrfeige aus und versteckte sich hinter diesem Hinnerk, der inzwischen aufgestanden war.
Dieser wies zu Boden. „Se heet Allegra. Jung, wo weetst du dat her?“
Onkel Richard nicht aus dem Blick lassend, antwortete er: „Ich gehe mit ihrer Schwester auf dieselbe Penne.“
Hinnerk wandte sich zu Herbert um, stützte sich auf seinem Gehstock auf, als wäre er der leitende Beamte. Herbert starrte diesen hochgewachsenen Mann an, der ihn mehr als einen Kopf überragte. Er verkörperte, geschuldet dem Vollbart, dem der Schnurrbart fehlte, dieser Schifferfräse sowie dem Elbsegler, der auf seinem Schädel thronte, eine Symbiose aus Abraham Lincoln und dem Bundeskanzler Helmut Schmidt. Dabei entsprach er Herberts Ebenbild von Kapitän Ahab aus Hermann Melvilles Moby-Dick. Jedenfalls sah er nicht wie ein Kriminalbeamter aus. Onkel Richard kleidete sich seinem Beruf angemessen: schwarzer Anzug, Krawatte. Einzig die schmierige Schiebermütze biss sich mit dem Rest.
Onkel Richard trat auf ihn zu und umfasste sogleich ungefragt seine Schulter. „Hinnak, kennst ihn noch? Herbat, maan Neffe.“
„Nee, dat glööv ik nich, toletzt weer he noch“, Hinnerk schlug mit der Rechten an sein Becken, „so lütt.“
„Jetze öbertraabst’s. Uußerdem snackt Düütsch, de Jung versteiht di doch gaar nich. He snackt keen Platt, dat lehrt de jung Lüüd vondaag nich?“
Herbert betrachtete Onkel Richard, als wäre dieser ein Außerirdischer. Hinnerk hielt ihm die Rechte hin, die dermaßen gigantisch war, dass er sich wie ein Kleinkind fühlte, während er diese zum Gruß ergriff und „Hinnerk Momsen“ vernahm. „Herbert Tamban“, stotterte er und war froh, seine Hand in Gänze wieder in die Hosentasche stecken zu können.
„Richard, wat mook de Kleene hier am Tatort?“
„Praktikum.“
„Wie, Praktikum?“
„Nich so aan offizielles. Er hat Faaien und ich dacht mich“, Onkel Richard stieß Hinnerk in die Seite, „ich zach ihm aanmal, wie toll es baa da Polizaa is.“
In diesem Augenblick hätte Herbert gern gekotzt. Er hatte keinen Drang, diese dämliche Familientradition fortzuführen. Bloß, weil Onkel Richard keine Söhne gezeugt und sein Alter nur einen hinbekommen hatte, musste er sich nicht opfern. Für ihn stand seine Reise fest. In einem Jahr würde er die Reifeprüfung ablegen, dann seinen Zivildienst abdienen. Den Kriegsdienstverweigerungsantrag hatte er bereits gestellt und wartete auf seine mündliche Anhörung. Von dieser hatte er weniger Bammel als vor der Reaktion der Großväter. Dabei waren sie der Grund, weshalb er nie eine Waffe anfassen wollte. Anschließend war der Weg frei für ein Kunststudium.
Hinnerk Momsens Stimme donnerte durch den Wald. „Richard, hest du den Benno sehen?“
„Warte! Ich gluub Oberwachtmaasta Mölla …“
Herbert beobachtete Onkel Richard, wie er sich umsah.
„Ja, dort is er.“ Er hob den rechten Arm und schrie: „Mölla.“
Ein Mann, den Herbert in dessen blau-grauer Uniform eindeutig als Schutzpolizisten erkannte, kam auf sie zu. Besser gesagt, er versuchte es. Ein unbekanntes Etwas zog ihn in die entgegengesetzte Richtung. Erst als dieser in Wurfweite herankam, erkannte Herbert, was diesen peinigte: ein Dackel.
„Müller, hat he geschiittert?“
Der Uniformierte salutierte. „Nein, Herr Kriminalrat.“
„Aadee“, hörte er Momsen, während jener die Leine übernahm. „Ich wees nich, siet dree Daag kann he nich.“
Onkel Richard hockte sich nieder, kraulte den Kopf des Tiers. „Musst zum Tierarzt. Aba saach, saat wann bist wieda da?“
„Siet een Maand. Ik kann mien Margot doch nich alleen laten.“
„Saat aan Monat und da meldst dir nich und wieso, allaan?“
„De spinnt. Doran sünd düsse Sozialisten schuld. Dor sitt man friedlich op sein Bank, kiekst op dat Watt, smöökt en Piep un genießt den Ruhestand, dar kummt se, segg mi, se harr en Stäe as Afkaat.“
Onkel Richard schüttelte den Kopf. „aane Stelle als Rechtsanwältin? Hat daan Fruu studiert. Du hast ihr dat aluubt?“
„Natürlich heff ik dat ehr verbaden. Aver ik segg doch: de Sozialisten. Se woll mi verklagen, se woll, dat uns Kinner ut dat Huus weern un ik nich mehr in‘ Deenst. Wo schölen se denn Probleme hebben, hör Huusplichten to erfüllen..“
„Ja dat Ding mit den Huuspflichten.“ Onkel Richard griff sich an den Schritt. „Kommt die damit dorch?“
„Natürlich nich, aver de Spegel oder düsse anner sozialistischen Kampbläder töövt bloot darop.“
„Jo, der Spiegel. Die warten auf so’n Schlagzaal. Dat kommt davon, wenn man aane waatuus jönga Fruu haarat.“
„Mensch, Richard, hättest du vor dreißig Jahren …“ Momsen winkte ab. „Vergiss es.“
„Zumindest is jetze der Schmidt drane. Immeahin hat er jedient.“
„Dor geev ik di recht. Man bedenk, de Vadderlandverrader un Deserteur, düsse Brandt un de Kommunist, düsse Russe, Wehner sünd noch dar. De harr man denn an de Wand stellt..“
Herbert wollte nicht mehr zuhören. Änderten sich diese ewig Gestrigen, diese Altnazis nie? Noch ein, zwei Worte und er hätte gegöbelt. Hatten sie keinen Respekt vor dem Tod: vor Allegra. Anstatt, dass er sich übergab, rann eine Träne über sein Gesicht und er fing sich. „Onkel Richard, Herr Momsen, was macht ein Polizist“, er zeigte auf Allegra, „an einem Tatort?“
2
Herbert klemmte den Bleistift hinter das rechte Ohr und betrachtete die Zeichnung. Er hatte es nicht über das Herz gebracht, Allegra eins-zu-eins abzubilden, sie für die Ewigkeit in dieser Todespose einzufangen. Dieses hatte bereits ein Polizeibeamter mit seinem Fotoapparat übernommen. Bei jedem Strich, den er gesetzt hatte, sah er sie wieder im Atelier seines Lateinlehrers, Hans Huth, nackt, wollüstig, dennoch anmutig posierend. Es war sein erster Akt gewesen. Herr Huth hatte nur die Jungen der Zeichengruppe eingeladen. Die beiden Mädchen waren zwar sauer gewesen, nicht dabei zu sein, aber sahen es ein. Anstand und Sitte verbat es ihnen, denn Herr Huth hatte neben Allegra auch ein männliches Model dazu gebeten.
Beinahe schüchtern betrachtete Herbert erneut sein Werk, hörte, als wäre keine Sekunde vergangen, die Stimme seines Paukers, der gleichzeitig Herberts Rechte führte: „Fang’ ihre Seele ein!“, und im selben Moment stand er wieder in dessen Atelier.
***
„Herbert, lass dich nicht von deinen Hormonen lenken. Nicht dein Schwanz, sondern dein Bleistift zeichnet. Anstatt der Wollust, die du dir einbildest, solltest du ihre Anmut, ihr wahres ‚Ich‘ auf das Papier bannen. Schau in ihre Seele, in ihre braunen Augen.“ Herr Huth ergriff Herberts letzte Zeichnung, hielt diese ihm hin. „Schaue dir deinen David an, wie er kraftvoll posiert. Dennoch ist er kein dummer Muskelprotz, sondern jeder Betrachter sieht sein Geschick, seine Genialität. Er ist die personalisierte Männlichkeit.“ Er legte das Blatt ab, tippte auf die Staffelei. „Erschaffe eine Venus, keine Hure.“Der Alte hatte gut Reden. Allegra war die erste Frau, die am helllichten Tag nackt vor ihm stand und nicht mehr oder minder verschämt im Dunklen unter einer Decke unter ihm lag. Wenngleich ‚stand‘ bloß im übertragenden Sinn zutraf. Sie hockte wie die Kopenhagener ‚Kleine Meerjungfrau‘ im Seitsitz auf einem Podest. Allerdings hatte sie zuvor keine Scham besessen, ihm und seine Schulkameraden ihre Weiblichkeit ausgiebig zu präsentieren. Genau an diese dachte er, stellte sich vor, diese zu berühren. Er schmachtete danach, dass ihre Lippen sich wie sonst seine Finger um ihn schmiegten, während er das Playmate im Playboy anhimmelte. Es gab für ihn bloß eine Lösung. Er legte den Bleistift beiseite.
„Herbert, wohin willst du?“
„Herr Huth, ich muss mal!“
***
Bei diesem ersten Mal kokettierten ihre glatten, rückenlangen kastanienbraunen Haare mit dem blutroten Lippenstift und sie hatte etwas von einer Femme fatal. Er hätte sie gerne so gezeichnet, aber das war nicht sein Auftrag. Dabei erinnerte er sich genau an den Tag ihrer Transformation.***
„Allegra, willst du das wirklich?“„Herbert, du bist doch auch blondiert.“ Sie kicherte. „Oder tut das weh?“
Er zupfte an seinem gewellten, schulterlangen blonden Haar. „Das war meine Cousine, gab richtig mecker.“
„Mecker gibt es höchstens, wenn du nicht in die Puschen kommst.“
„Keine Angst, die sind alle in der Kirche.“
Sie streckte sich auf den Frisierstuhl und hielt ihm die Schere entgegen. „Dann fang endlich an.“
***
Schlussendlich war er von seinem Werk begeistert. Er hatte sich kaum verschnitten und die Blondierung war ihm gleichmäßig gelungen.Ein Schlag auf seine Schulter holte ihn aus der Erinnerung.
„Jung, du hest Talent.“
Er schaute sich um, erblickte Momsens faltiges Gesicht und flüsterte: „Danke.“
Momsen strich über die Schifferfräse, stützte sich auf den Gehstock ab. „Ik weet nich mien Jung. Dat sütt ut as wenn du ehr op’t Geweten harrst.“
„Hinnak, mach‘ den Bengel nich bang‘.“
Diesmal schaute er Onkel Richard an. Dieser schnappte sich die Skizze. „Obwohl? Wenn ich es mich echt beschau: Ihr Ausdruck, als wär sie im Todeskampf. Woha kennst sie nochmal?“
„Sie ist die Schwester meiner Schulfreundin Rosanna, Rosanna Santis.“
„Baa der warst du und hast sie jesehen?“
„Nein.“ Schweiß trat auf seinen Handflächen aus. „Sie ist nach dem Abi weg.“
„Wer?“
„Onkel Richard“, er zeigte auf Allegra, „sie.“
„Dat een schließt dat anner nich ut“, hörte er Momsen schallen.
Angsterfüllt schaute er sich um. Außer Momsen und Onkel Richard erblickte er niemanden mehr im Wald – abgesehen von Allegra, die ihn anzulächeln schien. Ein Kuckuck rief, ein Specht hämmerte und er war wieder in Huths Atelier. Er hatte sich unter einem Vorwand den Schlüssel des Paukers geliehen, weil Allegra ihn gebeten hatte, einen weiteren Akt von ihr zu zeichnen.
***
„Hast du noch nie?“ Allegra streckte ihre Brüste vor. „Aber sei zärtlich, ich bin empfindlich!“Zögerlich hockte er sich hin, bis die Knie das Chaiselongue berührten. Er sah sich schüchtern im Atelier um, zählte bis drei und tippte an ihre Brust.
Sie lachte, ergriff seine Hand, zischte, als hätte er etwas missverstanden, dann sagte sie ihm, sie sei nicht aus Pudding, und presste seine Hand an ihre Brust. Sie führte ihn, schloss die Augen und schnurrte wie eine Katze. „Na, geht doch. Mach weiter.“
Während er ihre Brust streichelte, legte sie das rechte Bein auf die Rückenlehne der Chaiselongue und ihre Hand glitt an ihren Schritt. Er sah zu, wie sie genüsslich masturbierte.
***
„Hinnak, lass den Jung! Siehst nicht, wie er janz rot anlöpt? Er is noch Jungfruu.“Herbert ging auf den Satz nicht ein. Dafür warf er der Toten einen schmachtenden Blick zu und spürte, wie sein Onkel ihn berührte.
„So, hast dir aan Bild vom Fundort macht, die Position der Laiche festjehalten, wat kommt nun?“
Ein Schauer rann ihm über den Rücken. Er dachte an Erik Ode, der als Kommissar Herbert Keller regelmäßig am Freitag die Wohnzimmer besuchte und wann immer er eine junge weibliche Leiche auffand, den schweren Weg zu dessen Eltern antrat. Ihm fröstelte es – welch Parallelen. Zwar fand man in der letzten Folge die Tote auf einer Baustelle, trotzdem ein Mord an einer jungen Frau. „Wir müssen ihren Eltern Bescheid geben.“
„Sicha, diesa Kelch geht an uns nich vorbaa. Zuvor solltest jedoch die Zeugen befragen.“
Erneut wurde ihm übel und seine Finger begannen zu zittern. „Hat jemand gesehen, wie sie …?“ Er wies auf Allegra. „Du weißt schon.“
„Du maanst, ob jemand jesehen hat, wer sie ermordet hat?“
„Mord?“
„Mord, Totschlag, Verschlaaerung aans Unfalls, wat wees ich? Wir wissen nich ma, ob sie hier oda woandas ums Leben jekomm is.“
„Vielleicht ist sie gestolpert?“
Onkel Richard schritt an Allegra heran, stieß sacht gegen einen ihrer Stiefel. „Waldtuuglich sind die wahrlich nich, allerdings …“ Er winkte ihn heran, trat an ihren Kopf und hockte sich nieder. „Die Kopfverletzung könnt die Todesorsach saan.“
Zögerlich folgte er der Aufforderung, hockte sich gleichfalls nieder und betrachtete ein Trupp Ameisen, der in ihre Nase marschierte. Genau in diesem Moment konnte er nicht mehr an sich halten. Im letzten Augenblick wandte er sich ab und kotzte auf den Waldboden.
3
„Ja bitte?“Herbert rückte zur Seite.
„Herbert?“
„Frau Santis“, antwortete Onkel Richard für ihn und zückte derweil seinen Dienstausweis, „Kriminalhauptkommissar Tamban, könnte ich kurz reinkommen?“
„Hatte mein Mann Roberto einen Autounfall?“
„Nein! Es geht nicht um ihren Mann. Darf ich reinkommen?“
Frau Santis erhob den rechten Arm, drohte. „Herbert, was habt ihr wieder ausgefressen? Warte, der Rosanna werde ich die Hammelbeine langziehen.“
„Frau Santis, nicht hier! Wir sollten hinein, vielleicht in die Küche, dann können Sie etwas trinken. Und nein!“ Er legte einen Arm auf Herbert Schulter. „Er und …“
„Rosanna“, half ihm Herbert weiter.
„Haben nichts angestellt, eher im Gegenteil.“ Er drückte ihn an sich. „Vielleicht sollten wir uns erst unter vier Augen unterhalten.“
„Dann kommen Sie herein. Herbert, Rosanna ist oben.“
Herbert eilte ins Obergeschoss, um aus dem Gefahrenbereich zu entfliehen. Eins vertrug er nicht: kreischende, wehleidige Frauen. Daher war es die beste Lösung, ehe Frau Santis zu einer solchen mutierte. Vor Rosannas Zimmertür angekommen, erkannte er, wie sinnlos seine Flucht gewesen war. Auf der anderen Seite lag sicher Rosanna und las. Was sollte er ihr sagen? Er schwankte. Schwankte zwischen zusammenbrechender, flennender Mutter und gewiss hysterischer Schwester. Bevor er sich entschied, hatte bereits sein Unbewusstes reagiert. Er umfasste die Türklinke und drückte sie herab.
Rosanna schrie, fluchte „Du“ und deckte sich zu.
Er gehörte nie zu dem Menschenschlag, der sich durch extreme Neugier auszeichnete, jedoch in diesem Augenblick kitzelte es ihn. Mit Wonne hätte er sie aufgedeckt und – er sah an ihre Seite – gespickt, welch Lektüre sie zuvor gelesen hatte.
„Mensch, kannst du nicht anklopfen?“
„Seit wann klopfe ich an?“
Sie zog die Decke bis an den Hals, als wäre er ein Fremder, der sie noch nie oben ohne erblickt hatte: Dabei hatte sie ein T-Shirt an. „Schließt du bitte das Fenster.“
Welch Höflichkeit sie auf einmal an den Tag legte, verwunderte ihn. Der Bitte folgend, trat er auf das Fenster zu, zog beide Flügel heran und verriegelte diese. Dabei konnte er es nicht lassen, sie aus dem Augenwinkel anzulinsen. Ihr Schlingern, das Beben der Decke bestätigte seine Annahme und steigerte seinen Trieb, sodass er sämtliches Zartgefühl verlor, allein aus dem Grund, um sich abzulenken und „Deine Schwester ist tot“ schreien wollte, dennoch dieses unterließ.
Sie stieg aus dem Bett, richtete den Slip und schlenderte auf ihn zu. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Brüste pressten sich an seinen Oberkörper. Sie kam ihm derart nahe, dass er ihren Atem roch, als sie ihn schmachtend fragte, ob er vergessen hätte, wie eine Begrüßung aussehe. Er neigte sich vor, presste seine Lippen auf die ihren. Erst als er spürte, wie ihre Lust auf ihn übersprang, hielt er inne und flüsterte: „Deine Schwester ist tot.“
„Überdosis?“
Herbert zuckte. Mit welchem Unterton sie das Wort aussprach, die Frage gleichzeitig emotionslos stellte, erschrak ihn. Als wäre Allegra eine Fremde und sie ihm stecken wollte, wie gefährlich Drogen seien. Jedes Mal, wenn sie herausbekam, dass er nach der Penne im Braunschweiger Bürgerpark mit seinen Kumpeln sich einen Joint herein pfiff, segnete sie ihn mit einer Predigt, als wären sie verheiratet. Dabei gingen sie bloß miteinander. Aber wer vermochte sich in den Geisteszustand einer Frau zu versetzen? Weiber konnten grauenvoll sein. Was verband und – dieses erschien ihm weitaus wichtiger – trennte die Geschwister? Zumindest hätte er mehr erwartet als diese Frage. „Wie kommst du darauf?“
„Die enden doch alle so.“
„Hey, hör mal, sie war deine Schwester.“
„Nee!“
„Wie, nee?“
„Mein Alter hat sie mitgebracht.“
„Mitgebracht?“ Er griff an ihren Hintern, als gäbe es eine Beziehung zu der Frage.
„Ist doch egal. Mein Alter war schon einmal verheiratet. Totgesoffen hatte sie sich. Na, der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.“
„Die Erziehung ist auch nicht ohne.“ Er kniff sie und er spürte, wie sie den Po anspannte. „Dann war sie eben deine Halbschwester.“
„Nee!“ Unvermittelt presste sie die Lippen seine. „Lass sie. Lass uns lieber …“ Sie löste die Umarmung, erfasste seine Rechte und zerrte an ihr. „Ich habe Lust.“
Herbert wusste nicht, wie ihm geschah, anstatt vor Trauer zu weinen, wollte sie Sex. „Wenn deine Mutter ins Zimmer kommt …“
„… begreift sie endlich, dass ich kein Kind mehr bin.“
Wieder erblickte er Allegra, sah, wie die Ameisen in ihre Nase krochen, als wollten diese ihr Gehirn verspeisen, ihre Seele rauben. Bloß lag sie diesmal nicht vor ihm, sondern spukte in seinem Kopf herum.
Er stieß Rosanna von sich. „So kenne ich dich gar nicht. Ist heute nicht der falsche Tag, um es deiner Mutter auf die Nase zu binden? Verdammt! Deine Schwester ist tot.“
Den Kopf nach hinten geneigt, verschränkte sie ihre Arme. „Gott! Ich war gerade zehn, als sie abhaute, außerdem war sie nicht einmal meine Halbschwester“, sie stockte und er bemerkte an ihrem Schlucken, wie sie mit den Tränen kämpfte, und versuchte, ihre Stimme zu bändigen, „sondern meine Cousine.“
Eine Stille, die beängstigte, hüllte sie ein. Herbert wagte nicht zu reden, gar sich zu bewegen. Er starrte sie bloß an.
Sie schlich rückwärts, bis ihre Beine das Bett berührten. „Woher weißt du überhaupt, dass sie …?“
Endlich fragte sie ihn. „Mein Onkel will mir den Bullenberuf schmackhaft machen. Da rief er mich heute Morgen an, sie hätten im Lagholz bei Hötzum eine Leiche gefunden.“
„Wie?“
Er zuckte mit den Achseln, worauf sie sich setzte und „weiß es seit heute“ murmelte. Herbert sie weiter anstarrend, auf sie zu trat und „Was?“ fragte.
„Dass meine Mutter mit meinem Onkel Lorenzo gevögelt hat.“
Ihm blieb die Spucke weg und ohne weiter nachzudenken, warf er ihr „Dein Onkel Lorenzo ist Allegras Vater“ entgegen.
Sie ballte ihre Hände, stieß mit der Rechten zu. „Hörst du mir nie zu?“
Verlegen steckte er die Hände in die Hosentaschen, bis der Gürtel seiner Jeans an seinem Hüftknochen zerrte.
Erneut schlug sie zu. „Lass das, das sieht scheiße aus.“ Im nächsten Augenblick packte sie ihn und zog ihn neben sich auf das Bett. „Vor drei Sekunden habe ich dir gesteckt, mein Alter hätte Allegra mitgebracht, und sie sei meine Cousine.“ Sie schlug ihm an die Stirn. „Wer hat dann wohl wen geschwängert?“
Langsam fing er sich wieder. „Das hat dir deine Mutter erzählt?“
„Nee, irgendwie beide.“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. „Als ich gestern Abend nach dem Kino heimkam, saß er neben ihr auf dem Sofa und glotzte eine Show: etwas mit dem Fuchsberger. Meine Mutter schmiegte sich an ihn. Sie hatte einen Bademantel an, sah aber nicht danach aus, dass sie gebadet hatte, und er nur Unterhose und Unterhemd. Er hatte gönnerhaft seinen Arm um sie gelegt und leerte eine Pulle Bier. Ich schnallte es sofort.“
Was für ein Sonntag war dies? Träumte er? Zuerst der grausige Fund im Lagholz: Allegra, dann … er sah sich um, erblickte das Buch, das Rosanna zur Seite geworfen hatte, als er eingetreten war: Momo von Michael Ende. Ein Bestseller, ein Mädchenbuch. Jedenfalls kannte er keinen Jungen, der es las. Unverhofft spürte er ihre Angst. „Wer weiß. Man kann doch feststellen, ob er dein Vater ist.“
„Ausschließen“, warf sie ihm erbost entgegen. „Aber das spielt keine Rolle, denn mein Alter kann nicht mein Vater sein. Ob Lorenzo es ist, steht in den Sternen und ist mir“, sie drehte sich, sodass er ihre feuchten Augen erblickte, „scheißegal.“
Er konnte sich nicht zurückhalten, grinste und schmetterte ihr begeistert, als wäre er Archimedes, „kann er nicht“ entgegen, obwohl er ihre Verzweiflung, ihre Trauer sah. Kaum hatte er seine Verbalattacke herausgespien, erwartete er eine Reaktion ihrerseits in Form einer Bratsche. Allerdings nichts dergleichen geschah.
„Er war im Knast“, hörte er sie, eher zu sich selbst sprechen als zu ihm.
An alles hätte er gedacht, aber nicht, dass ihr Vater einmal eingesessen hatte. Die Geschichte, die sie ihm in einer monotonen Stimmlage vortrug, als wolle sie Karl-Heinz Köpcke als erste Tagesschausprecherin beerben, berührte ihn. Allerdings passte sie partout nicht zu der streng katholischen, aus Italien stammende Familie, die er kannte. Dachte er zuvor immer, Allegra wäre das schwarze Schaf, entpuppte diese sich eher als Lamm. Weshalb ihr Vater damals gesiebte Luft geatmet hatte, erfuhr er nicht. Ob sie es ihm gegenüber verheimlichte oder selbst nicht erfahren hatte, vermochte er nicht einzuschätzen. Jedenfalls übernahm sein jüngerer Bruder Lorenzo die Rolle des Ehemanns. Niemanden schien es gestört zu haben, weder Freunde, Verwandte noch Eltern, wie Rosannas Mutter es ihr gesagt hätte.
Herbert musterte sie, sah, wie sie förmlich zusammenbrach, ihr Gesicht kreidebleich, ihre Augen feucht wurden, diese kurz davorstanden, die Tränen nicht mehr halten zu können. „Wo warst du nach dem Kino?“, hörte er ihre zarte Stimme, die ihre Monotonie abgelegt hatte und mit einem Vibrato erklang, welches das Ende ihrer Disziplin ankündigte.
„Bei meinen Großeltern.“
„Rede nicht, ich habe bei ihnen angerufen. Ich habe gleich die nächste Straßenbahn bis zum Heidberg genommen und bin dann mit Mamas Borgward Isabella heim.“
Sollte, konnte er es ihr erzählen? War sie in der Lage, es dermaßen aufzufassen, wie er es sah? Er dachte an Allegra, erblickte erneut die Ameisen, die Teile von ihr aus ihrem Nasenloch beförderten. „Ich war noch mit dem Fahrrad unterwegs … brauchte frische Luft.“
„Ich hätte dich gebraucht.“
Er kratzte sich am Nacken, versuchte sie auf eine andere Fährte zu bringen. „Ich weiß nicht, ob ich“, er druckste, „du, deine Mutter, dein Onkel und ich dazwischen.“
„Meine Mutter war bei der Nachbarin, vor Mitternacht kommt sie nie zurück und Lorenzo war unterwegs, er wollte sich mit Allegra treffen.“
Als hätte er sich verhört, stammelte er: „Mit Allegra treffen“, fasste sich sofort und schob zügig „Was wollte er von ihr?“ hinterher.
„Ihr einen Brief von meinem Vater geben, aber sie war nicht dort, jetzt“, sie schluckte, gluckste, als wollte sie ihre Gefühle zügeln, „weiß ich …“
Sie umschlang seinen Hals, presste ihr Gesicht an seine Schulter und tränkte sein T-Shirt mit ihren Tränen.
4
Herbert starrte aus dem Fenster des City-Imbisses und beobachtete die Kirchgänger, die von der Petruskirche kommend zuerst an der Kreuzung warteten, sich umsahen, sodann die Bahnhofstraße entlangspazierten. Einige flanierten auf der Seite des Landratsamtes, andere direkt am Schaufenster des Imbisses vorbei. Er stach in die Frittentüte, holte eine Fritte heraus und steckte sie in den Mund. Auf Ketchup und Mayo hatte er verzichtet, denn Allegra ging ihm nicht aus dem Kopf. Ihr Anblick, die Ameisen, die ihr Gehirn verspeisten, hatten sich in ihm eingegraben.
„Nich doch lieba Schaschlich?“
Er ignorierte Onkel Richard, beobachtete, wie die Soße über dessen Kinn rann, und wandte sich angewidert ab. Dafür musterte er Trude, die Eigentümerin dieses Gourmettempels. Sie stand wie eh und je hinter dem Tresen und blies, während die Fluppe in ihrem Mundwinkel hing, deren Rauch in den Gastraum. Ihr Körperumfang sowie die Schürze, auf dem jeder den ganzen Speiseplan erkannte, verrieten, dass sie mit vollem Leibe Köchin war. Sie war ein Original dieser piefigen Provinzmetropole. Eine Stadt, deren einziges Warenhaus Monopol hieß, die Eingeborenen sie Lessingstadt nannten und dessen Ruhm in einen Kräuterlikör wurzelte, sagte alles.
Herbert glotzte erneut aus dem Fenster, erblickte seine Tante, Onkel Richards Ex-Frau, wenngleich sie bislang nicht geschieden waren, mit deren Neuen, wie beide von der Kirche kamen, anschließend die Kreuzung überquerten. Schleunigst versuchte er, Onkel Richard in ein Gespräch zu verwickeln, damit dieser beide nicht wahrnahm. Er sagte zwar immerfort, es mache ihm nichts aus, das Leben ginge weiter, allerdings nahm Herbert ihm das nicht ab. „Onkel Richard, dieser Herr Momsen, wer ist er genau? Ein Kollege?“
Onkel Richard schluckte, wischte sich die Soße vom Mund ab. „Maan Ex-Chef und Partna.“ Er schwang den Kopf. „Zuerst war’n wir Partna. Wat för Fälle ham wir jelöst? Hab ich dir beraats von Panzerschrank-Kalle erzählt?“
Hundertmal, dachte Herbert, schielte zur anderen Straßenseite, auf dessen Bürgersteig die Tante mit dem Neuen stehenblieb. „Nee!“
Gemächlich holte Onkel Richard Luft und Herbert tat, als hörte er zu, linste weiter aus dem Fenster. Einen Wimpernschlag später erkannte er den Grund des Stopps: Petra. Seine Cousine, engumschlungen von ihrem Freund, trat auf die beiden zu, während ihm das Herz krampfte und seine Hände sich ballten. Ja, er konnte Onkel Richard verstehen. Petra war ein Hingucker, eine Traumfrau, glich Jane Birkin, deren Stimme immerdar durch sein Zimmer flatterte, wenn er betrübt war. Dann schmachtete er, vernahm ihr gehauchtes ‚Je t’aime‘. Dann in der Nacht nach der Geburtstagsfeier seiner Großmutter passierte es. Er lag bereits in seinem Zelt, da kam sie zu ihm und er wurde zum Mann.
Der Schlag einer Hand holte Herbert aus den trüben Gedanken. Er schaute in die Richtung, von der dieser kam und starrte den Onkel Richard an. Die Rechte an die Tischplatte gepresst, ergriff er sein Bierglas und gönnte sich einen kräftigen Schluck. „So war dat mit Panzerschrank Kalle.“
„Dein Boss ist jetzt in einer anderen Dienststelle?“
„Wer?“
„Na, der Herr Momsen.“
Onkel Richard setzte das Glas ab. „Nee, pensioniert. Jenaua Fröhpensionierung!“ Er zog eine Schnute. „Genaues wees kaana, aber da Florfunk munkelte, er jenoss zum Schluss die Freuden der andan Saate, war nich mehr trachbar. Für mich war er imma aan juter und aan ehrlicha Polizist, der sich als Vorgesetzta stets vor saan Leut stellt und nie nach oben buckelte. Weest“, er wies hinauf, „dat könn die da oben gar nich verknusen.“
Herbert runzelte die Stirn.
„Gut, er hat ma wat anjedeutet, jemand erpresse ihn, aba bitte, so aana war er nich. Wat gluubst , wie oft ich beraats …?“ Er verdrehte die Augen. „Jedenfalls hat er das Richtich jemacht: Ruus uus dem Dunstkraas, die Bröcken abjerissen und zoröck in die Haamat. Wenn die Waaba nich wärn …“
Wie so oft verstand Herbert nichts. Warum faselten die Alten immer? „Wie?“
„Saan Alte musste unbedinjcht aan Stelle in Broonschwaach annehmen. Dat zaacht ma wieda, wie jutmütich er ist. Also ich“, er klopfte herausfordernd gegen seine Brust, „hät’s ihr verboten. Wenn ich mir vorstell, daan Tant hät mich jefraacht, ob sie abaaten könn … wie sieht dat den uus? Als wär ich nich mannsgenuch, maan Familie zu ernähren. aane Fruu jehört ins Huus.“
Herbert konnte sich ein Schmunzeln verkneifen, schluckte und leitete das Thema zurück. „Hinnerk wohnt jetzt in Hötzum?“
„Wer saacht dat? Bienrode.“
„Bienrode?“
„Direkt anne Fluchplatz von Broonschwaach.“
„Ich weiß, wo Bienrode ist.“
„Warum fregst du danne?“
„Ich war bloß verwundert, da Hötzum nicht in der Nähe liegt, eher auf der anderen Seite von Braunschweig.“
Onkel Richard ergriff erneut sein Glas, leerte es und murmelte ein „Benno“ hinein.
„Benno?“
„Saan Köter! Hät der nich Schiitern mössen, wär er nich inne Wald und hät nich die Laache entdeckt. Wer wees, wie lang sie jelegen hät, da unta den Tannen.“
„Fichten und Kiefern“, warf Herbert neunmalklug ein. „Sie lag nahe einer Fichtenschonung und dort, wo sie lag, waren es Kiefern. Also“, er spreizte Daumen und Zeigefinger ab, „Kiefern haben …“
„Halts Maul!“
„Was hat eigentlich ihre Mutter erzählt?“
„Mutter?“ Onkel Richard schnappte sich das Glas, hob es an und rief: „Trude!“
„Von der Toten?“
„Hast wat mit der Schwesta?“
„Wie kommst du darauf?“ Herbert spürte, wie er rot anlief.
„Bist glaach uuf ihr Zimma.“
Trude stellte eine Bierflasche auf den Tisch ab, warf einen Flaschenöffner daneben und zeterte: „Fass ist leer!“
Woraufhin Onkel Richard die Flasche öffnete und sogleich ansetzte. „Hast wusst, dass die Tote nich die Schwesta von daan Freundin is?“
„Schulfreundin! Nee.“ Er legte ein überraschtes Gesicht auf.
„Der Santis hat sie mit inne Ehe jebracht. Wenn du mich fregst, die verstanden sich nich.“
„Wer?“
„Gott, Herbat, bist doch sonst so jewieft. Die Santis und die Tote. Wenn ich mir vorstelle, ich wörd dat Balch aana Andan, aana Rabenmutta, großziehen?“
„Du meinst“, Herbert strich über seine Kehle, „Frau Santis hat Allegra kaltgemacht?“
„Quatsch. Aba dat Leben zor Hölle. Ma sehen, wat der Vater saacht. Aba der is grad dienstlich wech.“
„Aha!“ Kurzzeitig überlegte er, ob er Onkel Richard das erzählen sollte, was er von Rosanna gehört hatte. Aber er konnte es sich nicht vorstellen, dass Rosannas Onkel Lorenzo etwas mit Allegras Tod zu schaffen hatte. Er verdächtigte Momsen.
5
Herbert saß oben im Büssing-Anderthalbdecker, fuhr von Wolfenbüttel nach Braunschweig und versuchte zu verhindern, dass die Augenlider herabsanken. Die Müdigkeit wurzelte in seinen jugendlichen Leichtsinn, dass er, wenn es hochkam, eine Stunde geschlafen hatte. Wie dämlich konnte man sein? Okay, ein Waldspaziergang half in vielen Fällen, allerdings mit geschulterter Schrotflinte mehr als grenzwertig. Zumal wenn man zuvor eine so genannte nahestehende Person tot im Wald gesehen hatte, an der bereits die Ameisen fraßen.
***
„Herbert, kommst mit?“ Der Großvater zog sich seinen Janker an, setzte den Jagdhut auf. „Ich will mit dem Herman ins Revier auf Schwarzwild.“***
Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen „Nö“ zu antworten, aber es blubberte ihm ein „Jo“ über die Lippen. Dabei konnte er Onkel Hermann, wie er ihn ansprach, nicht verknusen. Alle anderen nannten ihn hinter dem Rücken Gestapo-Hermann. Seine Abneigung ihm gegenüber lag nicht in seiner Art gegründet, eher im Gegenteil. Er besaß Humor. Seine Vita war es. Gestapo-Hermann war wie der Großvater pensionierter Bulle. Fraglos ein angesehener Beruf. Er ging diesem bereits vor dreiunddreißig, was für sich nicht gegen ihn sprach. Jedoch sorgte er sich dazumal nicht wie Opa darum, ob der Straßenverkehr reibungslos floss, sondern gehörte der Gestapo an. Anstatt sich zu verstecken, seine Anschauung zu verbergen, hielt er nicht damit hinter dem Berg zurück, prahlte gern mit seinen Taten. Seinen Engsten verkündete er gern, wie ihm es gelang, den Besatzern ein Schnippchen zu schlagen. Eigentlich war es eher Glück. Der Richter, der 1949 über seine Reputation entschied, war gleichfalls ein reingewaschener Nazi. Ein Scherge, mit dem Hermann Volksverrätern ihrer gerechten Strafe zugeführt hatte, wie er sich mit stolzem Unterton brüstete. Auf gut Deutsch: Er führte die Liste an, die Herbert zusammen mit seiner Clique aufgestellt hatte. Er gehörte zu dem Kreis, den die Clique, wenn sie an entscheidender Stelle stehen würden, zur Strecke bringen wollten. Dabei waren sie sich darüber bewusst, dass jede ihrer Familien braune Flecken besaß. Gab es damals überhaupt rechtschaffene Bürger? Bei dem Gedanken dachte er an Hermans ältesten: ehemaliger, hochrangiger Angestellter der Braunschweiger Landessparkasse, der nach deren Fusion zur Norddeutschen Landesbank als Frühpensionär für die Sozialdemokraten im Braunschweiger Stadtrat saß. Nein, dieser Hermann war wahrlich kein Mensch, mit dem Herbert länger als nötig Zeit verbrachte. Hermann residierte in Wittmar am Fuße der Asse, ein für alpenerprobte mickriger, gerade einmal 230 Meter über Normalnull aufragender Höhenzug im Landkreis Wolfenbüttel. Allerdings ruhte dieser für Herbert auf dem gleichen Rang wie der Brocken oder dem Schauinsland. Jedenfalls zu einer Zeit, als er noch Ritter und Burgfräulein spielte. In Meine, nördlich von Braunschweig, dem Dorf, in dem er bis vor einem Jahr gelebt hatte, ehe er vor seinem Vater geflüchtet war, war der höchste Gebirgszug der Misthaufen von Bauer Brink und im Herbst die Rübenhaufen in der Zuckerfabrik. Ach, wie schön war die Zeit mit Petra. Beide als Ritter verkleidet, kämpften sie um das Fräulein von der Asse: eine von ihnen hergerichtete Schaufensterpuppe, die auf der letzten Mauer der Ruine der Asseburg auf den Sieger wartete. Bereits auf dem Parkplatz der Waldschänke spukten ihm die Geister durchs Gehirn. Unter jedem Baum lagen Leichen, teilweise ganz, teilweise verstümmelt, an denen sich entweder Wildschweine oder Ameisen labten. Es stank nach Verwesung und Blut. Das Einzige, was er hörte, war das Krächzen der Krähen, die darauf warteten, sich am Mahl zu beteiligen.
Wieder bei den Großeltern, rührte er das Abendbrot nicht an, ging dafür auf die Toilette und kotzte.
Im Bett wälzte er sich, rang mit dem Kissen, um die Gedanken zu verdrängen. Es gelang ihm nicht. Daher stand er auf, kramte seinen Skizzenblock hervor und schlug die vorletzte Zeichnung auf, die er von Allegra hatte. Auf der letzten war sie tot und diese hatte ihm Onkel Richard abgeluchst.
***
Bar jeglicher Kleidung rekelte sich Allegra auf der Ottomane in Huths Atelier.„Kleiner, was hältst du davon, wenn ich beim nächsten Mal zwei Freunde mitbringe. Dann kannst du uns malen, während sie mich vögeln.“
Herbert schluckte. Seine Finger begannen zu zittern, sodass der Strich ihm misslang.
Sie winkte ihn heran. „Komm zu mir!“
Er klemmte den Bleistift hinter das rechte Ohr und ging auf sie zu.
Als er neben ihr stand, ihr Parfüm roch, griff sie an seinen Gürtel. „Ziehe dich aus!“
Mehr als Gestammel brachte er nicht hervor.
„Hör mal, ich bin nackt, dann gilt das auch für dich. Zieh dich aus!“
Unwillig folgte er ihrem Befehl, versuchte es hinauszuzögern.
„Beeile dich!“ Sie zerrte an seiner Hose, kicherte. „Wusste ich es doch, du hast einen Ständer. Zeig mir, was er kann!“
Allegra war die schönste Frau, die er kannte: pralle Brüste, geschwungene, weibliche Form und ein liebreizendes Gesicht zum Dahinschmelzen. Aber ihre vulgäre Art verabscheute er.
„Stelle dich nicht so an. Mit meiner Schwester schläfst du auch.“
Er erschrak.
Sie tippte an ihre Nase. „Das rieche ich. Runter mit den Klamotten.“
Als er nackt vor ihr stand, rutschte sie von der Ottomane, kniete sich vor ihm hin. „Aber“, sie umfasste sein Glied, „hat sie dir schon einmal einen …“
Herbert spürte ihre Lippen, ihre Zunge und schloss die Augen.
***
Ehe der Bus die Haltestelle Münzstraße erreichte, stand Herbert auf, nahm die gewendelte Treppe vom Oberdeck mit drei Sprüngen und wartete an der Hecktür, bis der Bus hielt. Er stoppte zielgenau am Klamottenladen seiner Albträume aus Kindheitstagen. Dem Laden, in dem die Stiefmutter ihm und seiner Schwester Palomino-Mode aufzwang, egal ob diese passgenau oder gar der Hersteller sie dem jeweiligen Geschlecht zugeordnet hatte: Hauptsache billig. Herbert gab ihr nicht die Schuld, sein Vater hielt sie an der kurzen Leine. Erst als er täglich nach Braunschweig fuhr, um das Gymnasium zu besuchen, schaffte er es, sie davon zu überzeugen, dass rosa Shirts mit Pferdemotiv das Ansehen eines Jungen nicht hoben. Ein dunkelblaues T-Shirt mit Motorradmotiv angesagter sei. Egal, ob es zwei Mark teurer war. Seine Schwester fand es schrecklich, plärrte und schrie, sie würde es nie anziehen. Sie hatte die gleiche Statur, Körperlänge wie er, obwohl sie anderthalb Jahre nach ihm auf die Welt kam. Der Kompromiss lag mehr auf ihrer Seite, zumindest war es weder rosa noch besaß es ein pferdemotiv. Außer dem auf dem Pflegeetikett, jedoch war dies dummerweise das Markenemblem.Er hatte mit der Stiefmutter abgeschlossen. Nicht, weil sie behauptete, sein Vater hätte sie jahrelang misshandelt – dieses traute er ihm zu, ging sogar davon aus –, sondern aufgrund der Tatsache, da sie seine Schwester überredet hatte, mit ihr zu gehen. Damit nahm sie seine Schwester in Haft. Nein, sie war genauso ein Monster, kein Deut besser.
Herbert erreichte das 1. Polizeirevier und drückte die Eingangstür auf. Er war fest entschlossen, seine Ansicht, dass Momsen der Täter wäre, Onkel Richard auf die Nase zu drücken. Beweise besaß er zwar keine, aber sein Bauch sagte ihm das.
„Fräulein, wohin wollen Sie?“
Er sah nach rechts, von wo die Stimme gekommen war, schaute den Uniformierten an, der hinter einem Fenster saß und ignorierte dessen falsche Ansprache. „Zu …“
„Is schon jut, Petasen, der jehört zu mich.“
Im selben Augenblick spürte er einen Schlag im Nacken.
„Herbat, wie imma zu spät. Komm glaach mit. Ich will zor Rechtsmedizin.“
6
Die Rechtsmedizin war weitaus weniger gruselig, als es sich Herbert vorgestellt hatte. Die in Gläsern eingelegten Gedärme und Körperteile ließen ihm zwar ein gewisses Unwohlsein aufkommen, jedoch kannte er derart Präparate aus der Schule. Allerdings schwammen dort keine Menschenteile im Alkohol, sondern meist Reptilien. Wäre er nicht mit dem Onkel dort gewesen, hätte er es sich sogar vorstellen können, den Skizzenblock zu zücken, um sich anatomischen Studien hinzugeben. Was ihm mehr Schauer über den Rücken rinnen ließ, war der Ort: der Keller. Keller hauchten ihm ein Frösteln, ein Unbehagen ein. Erst recht an allen Seiten sowie auf dem Boden geflieste Flure: kalt, tot, klinisch eben. Es roch wie im Schwimmbad nach Chlorreiniger.
Sie betraten einen ebenfalls gefliesten Raum. Fahles Sonnenlicht drang durch zwei vergitterte Kellerfenster. Es beschien einen mit einem Tuch abgedeckten, hüfthohen Tisch.
„Frederick?“ Onkel Richards Stimme hallte wider.
Das letzte Echo war nicht einmal verklungen, da öffnete sich neben ihnen eine Tür. Im nächsten Augenblick fingen zwei Neonröhren, die an der Decke hingen, an zu flackern. Sie hüllten, nachdem das Flackern geendet hatte, den Raum in ihr grelles Licht. Ein glatzköpfiger, untersetzter Mann, der einen wadenlangen Kittel anhatte, kam hinter dem Türflügel hervor. Er marschierte auf Onkel Richard zu, begrüßte ihn mit Handschlag.
„Fredaisch, stör’n wir dir baam Fröhstöch?“, fragte Onkel Richard ihn.
Der Mann trat zurück, stellte einen Becher auf den Tisch ab und nuschelte: „Mö.“
„Noch aan Kata?“
„Ich habe keine Haustiere.“
„Frederick, witzich. Von der Faaa.“
„Was sollte ich feiern?“
Onkel Richard ballte eine Faust und spannte den Bizeps, als wolle er dem anderen diese ins Gesicht treiben und schrie: „Weltmaasta!“
Da der Mann im Kittel nicht reagierte, plusterte sich Onkel Richard auf und gestikulierte wild um sich herum. „Fußballweltmaasta. Als Mölla in’er 43. dat zwaate raankloppte, war mir klar: so seh’n Siega uus. Und wat saach ich dir, in’er 59. hätten wir dat draa zu aans jehabt, aba diesa Schiri, total partaaüsch, der stand natörlich aufsaaten der Käsköppe. Klar, die Englända sind imma auf deren Saate.“
„Aha“, entfleuchte es Onkel Richards Gesprächspartner.
„Mann, dat is …“ Onkel Richard winkte ab. „Der aanziche Sport, den kennst, is Tennis. Du Snob.“
„Nein.“
„Wat treibst sonst?“
„Cricket.“
„Äh!“
„In Wolfenbüttel. Oben bei den Engländern. Ein Clubkamerad aus dem Lions Club, Militärarzt bei den Engländern, hat mich eingeladen. Eigentlich nehmen sie keine Deutschen auf. Wir dürfen nicht einmal auf das Gelände, aber mich …“
„Cricket!“, unterbrach ihn Onkel Richard und strich über den Schnauzer.
Der Mann den er Frederick nannte, winkte ab.
Herbert musterte Onkel Richard, sah, wie dieser die Augen verdrehte, ihm sodann auf die Schulter klopfte. „Herbat darf ich dir vorstell’n: Professor Doktor Fredaisch Vöhringer. Fredarisch, der Abjedröckte is maan Neffe Herbat.“
Professor Vöhringer zuckte mit den Schultern, presste ein gleichgültiges „Aha“ hervor, drehte Herbert den Rücken zu und zog das Laken von dem Tisch.
Er konnte gar nicht so schnell denken, wie ihm der Mageninhalt in die Speiseröhre schoss. Das Einzige, was er in diesem Augenblick anvisierte, war ein Waschbecken auf der anderen Seite des Raumes. Den Mund verdeckt, lief er hinüber und kotzte sofort hinein. Als der zweite Schwall, der nächste Teil des Frühstücks herauskam, hörte er den Professor „Ich habe es nicht geschafft sie zuzunähen“ mit einem gewissen hämischen Unterton.
Er wischte sich den Mund ab, kehrte dem Waschbecken den Rücken zu und beobachtete, wie Onkel Richard Allegra bis zur Brust zudeckte. „Und?“
Herbert schlich sich an, betrachtete den Professor.
„Richard, und was?“
„Todesorsach?“
Vöhringer nahm den Becher, trank. „Ertrunken ist sie nicht.“ Er pausierte, als erwartete er Applaus. „Mit der Kopfverletzung hätte sie hundert werden können, die Strangulation, ich tippe auf einen Lederriemen“, er strich über Allegras Hals, „sicher mehr als unangenehm und“, er erfasste das Tuch am Fußende, zog es so weit hinauf, bis Herbert ihr Geschlechtsteil sah, „die Penetration mit einem Stock, sehe dir die Splitter an, hätte sie sicher die nächsten Wochen davon abgehalten, den Beischlaf auszuführen. Welchen Beruf hatte sie?“
„Grundschullehrerin“, murmelte Onkel Richard.
Sein Gegenüber griff sich ans Kinn. „Sie hatte mehrfach Geschlechtsverkehr und 1,2 Promille Alkohol im Blut.“
„Fredaisch, Todesorsach?“, hakte Onkel Richard nach.
„Ohne mich zu weit hinauszulehnen, würde ich Herzversagen sagen. Aber warten wir die Laborberichte ab.“
„Kaan Mord?“
„Willst du einen? Sie hatte einen angeborenen Herzfehler. Lange hätte sie es bei ihrem Lebenswandel ohnehin nicht mehr gehabt. Was nun Huhn und Ei war, ist deine Aufgabe.“
Sie verließen den Raum. Während Herbert wieder an den Präparaten vorbeikam, verknüpfte er das Erfahrende mit seiner Annahme, baute daraus Indizien. An dem Sprichwort, dass der Täter wieder zum Tatort käme, war sicher etwas dran. Jemand hatte Allegra mit einem Lederriemen stranguliert, sie mit einem Stock penetriert. Momsen besaß als Hundebesitzer eine Hundeleine sowie einen Gehstock. Daher sprachen drei Indizien für ihn als Täter. Blieb für Herbert bloß das Motiv. Er pulte an der Nase, popelte. Onkel Richard hatte ihm im City-Imbiss anvertraut, es hätte damals Gerüchte gegeben, dass Momsen die Freuden der anderen Seite genossen hätte, ihn daher jemand erpresst. Von Rosanna hatte er gehört, ihr Vater wäre ein Knacki gewesen. Gab es Zusammenhänge? Was hatte Allegra damit zu schaffen? Den einzigen Bezug, den er fand, war: Rosannas Onkel Lorenzo wollte sich am Samstag, dem Tag ihres Todes, mit ihr treffen. Lauerte Hinnerk Lorenzo auf, oder hatte Allegra etwas mitbekommen? Musste sie zum Schweigen gebracht werden? Hatte Momsen sie stranguliert, dann penetriert, um es wie ein Sexualdelikt erscheinen zu lassen?
Herbert folgte Onkel Richard. Sie verließen den Keller, das Klinikum Celler-Straße. Er dackelte ihm hinterher, bis dieser an der nächsten Bushaltestelle stehenblieb. „Fahren wir zurück?“
„Nee!“ Onkel Richard rückte die Schiebermütze zurecht, strich über den Schnauzer, während er über den Fahrplan fuhr. „Melverode.“
„Melverode?“, wiederholte Herbert mechanisch.
„Grundschul.“
Das Wort reichte aus, um ihm aufzuzeigen, dass er aufmerksamer werden musste. Onkel Richard hatte dem Professor gesagt, Allegra wäre Grundschullehrerin gewesen. Anstatt ihn zu fragen, woher er es wusste, hatte er geschwiegen, es beinahe vergessen. Er versuchte, den Fehler auszumerzen. „Woher weißt du, dass sie Grundschullehrerin ist … war?“
Er hörte ein Kichern. „Kommissar Zufall, Herbat, Kommissar Zufall. Allegra war die Klassenlehrain des Sohnes aanes Kollejen. Er hat sie heut fröh auf daan Zaachnung erkannt. Gewiss, ich bin wahrlich nich so zaatich auf der Arbaat wie da Fredaisch, aba waat eha als maan Praktikant.“ Er wuschelte durch Herberts Haar. „Maan Partna.“
Herbert ging das Lob hinunter wie Öl, obgleich er nichts von der Polizei wissen wollte. War es an der Zeit Onkel Richard einzuweihen?
7
„Kriminalhauptkommissar Tamban“, Onkel Richard lüpfte die Schiebermütze, „könnte ich den Herrn Rektor sprechen?“
Herbert beobachtete eine Frau, die ihnen den Rücken zugewandt, einen Gummibaum putzte. Der Frühlingswind, der durch das gekippte Fenster blies, ließ sacht die Gardine, einzelne Blätter der Pflanze, sowie die weißblonden Strähnen, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatten, flattern. Sie musste es gewesen sein, die zuvor „Bitte“ gerufen hatte, denn außer ihr war niemand da. Neben ihr stand ein mickriger Schreibtisch, auf dem eine Schreibmaschine sowie ein schlichtes graues Telefon ruhte.
Sie strich über den mausgrauen Kostümrock und schniefte. „Der Herr Rektor Schubert ist nicht zugegen.“
„Wann erwarten sie ihn, Frau …?“, hörte er Onkel Richard fragen.
„Fräulein Schmitt mit ‚tt‘.“
Herbert schaute Onkel Richard an, sah, wie er sich ein Schmunzeln verkniff. „Fräulein Schmitt, wann erwarten Sie den Herrn Rektor?“
Nach einem nochmaligen Schniefen wandte sie sich um, tupfte mit dem Tuch, mit dem sie zuvor die Blätter geputzt hatte, über ihre Wangen.
Natürlich kannte Herbert den Begriff ‚Fräulein‘. Allerdings verband er damit nicht eine Frau, die nicht bloß allein durch ihren Dutt und der Lesebrille, die um ihren Hals hing, sondern ihrer Aussprache wegen weitab eines jungfräulichen Alters war. Was ihm allerdings weitaus mehr verwunderte als dieses Paradoxon, war die schlichte Tatsache, dass Onkel Richard Hochdeutsch sprach. Nie zuvor hatte er ihn Hochdeutsch sprechen hören. Hatte er noch andere Geheimnisse?
Fräulein Schmitt schniefte abermals, tupfte erneut Tränen von ihren Wangen. Schnäuzte sich sodann.
Mit einem leichten Zittern in der Stimme antwortete sie: „Der Herr Rektor ist für längere Zeit verkannt. Gestern hat ihn der Schlag getroffen.“
„Oh, wie bedauerlich“, bemerkte Onkel Richard.
„Dabei habe ich dem Herrn Rektor“, begann Fräulein Schmitt, „immerfort gesagt, er solle nicht so viel Trimmtrab betreiben, erst recht nicht im Lagholz. Allein die ganzen Wilden und Asozialen, die sich dort herumtreiben! Vor zwei Jahren das Mädchen, O-Gott-o-Gott, wenn ich nur daran denke. Gestern überfiel einer von diesem Gesindel eine junge Frau, man sagt, er hätte ihr das Schlimmste angetan. Ich fühle mit ihr, aber hätte der Ganove sie dort nicht abgelegt, wer weiß, ob der Herr Rektor überhaupt noch unter uns wäre.“ Abermals schniefte sie, tupfte sich die Tränen. Sie hielt inne und schaute in Onkel Richards Richtung. Als käme unerwartet der Heilige Geist in sie, verdeckte sie den Mund und nuschelte: „Sagen Sie bloß nicht, das Fräulein Allegra. Ich machte mir bereits heutfrüh Sorgen. Noch nie kam sie zu spät zum Unterricht, nie einmal krank im letzten Jahr. Sagen Sie es, es ist nicht wahr.“
Mitfühlend schloss Onkel Richard die Augen und nickte.
„Ich muss mich setzen.“
Das tat sie unverzüglich. Dabei fächelte sie sich Luft zu.
„Frau Schmitt, ist vielleicht der Stellvertreter des Rektors, der Konrektor zugegen?“
„Herr Graber ist im Schulferienlager.“
Herbert schaute Onkel Richard an, der die Schiebermütze abnahm, sie unter die linke Achsel klemmte. „Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen? Welch ist Ihre Stellung?“
„Schulsekretärin, Vertretungslehrerin und Lehrerin für katholische Religion.“ Sie griff sich ans linke Handgelenk, drehte die Armbanduhr. „Aber kurz. Ich muss in den Raum der 2b, da kommen gleich die Handwerker.“ Ohne aufzuschauen, stand sie auf. „Wir sollten ins Büro des Rektors gehen.“ Sie ging zu einer zweiten Tür. „Gehen Sie bitte vor. Ich“, sie strich über ihr stark gepudertes Gesicht, „mache mich derweil frisch.“
Onkel Richard schritt voran, trat in den Raum, marschierte zuerst zum Fenster und schob die Gardine ab. Dann setzte er den Rundgang fort. Er umkreiste einmal den Mahagonischreibtisch, auf dem ein Füllfederhalter, eine Ledermappe und soweit es Herbert einschätzte, zwei Bilderrahmen ruhten. Den Gang beendete er an der dem Fenster gegenüberliegenden Seite, an der ein Ölgemälde hing. Schrecklicher Schinken, dachte Herbert: dichter Forst, mit Jäger und Hund.
„Bitte!“ Die Schulsekretärin wies auf eine Sitzkombination aus einem Tisch und drei Stühlen.
Herbert wartete, bis zuerst die Dame und Onkel Richard sich gesetzt hatten.
„Ach, die armen jungen Dinger“, begann Fräulein Schmitt, nachdem sie einen tiefen Seufzer gelassen hatte. „Eigentlich sind sie selbst schuld, wie sie immer herumlaufen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Herr Kommissar …“
„Kriminalhauptkommissar Tamban.“
„In diesen kurzen Hosen und Röcken. Da wird doch jeder Mann närrisch. Obwohl“, sie schwang den Kopf, „bei dem Fräulein Allegra.“
„Bitte?“
„Ich kannte sie kaum, also privat. Hier in der Schule war sie immer akkurat gekleidet: Rock maximal eine Handbreit über dem Knie und Hosen … ich bitte Sie, Frauen und Hosen unschicklich wie die Dittrich.“ Sie tippte auf den Tisch. „Bei uns hier herrscht noch Anstand und Sitte. Wenn ich eins unserer Mädchen hier so sehen würde, würde ich es sofort heimschicken. Zum Glück wissen ihre Eltern, was sich gehört. Ich frage mich bloß immer, weshalb die jungen Dinger überhaupt Lehrerin werden wollen. Das ganze Studium ist doch meist für die Katz. Lehrerin ist kein Beruf, sondern Berufung. Das beißt sich mit Hausfrau und Mutter. Welch ein Mann sieht es gern, wenn die Frau …? Nein, Hauswirtschaft sollten sie lernen, damit sie recht kochen und nähen können, um ihren Gatten zu beglücken.“
Herbert dachte, ob die Schachtel den Beruf der Lehrerin nicht mit dem der Nonne verwechselte.
„Hatte das Fräulein Allegra denn private Kontakte zu Kollegen?“, wollte Onkel Richard wissen.
„Ich bitte Sie“, harschte sie ihn an, als klaute er ihre Jungfräulichkeit.
„Kolleginnen!“
„Da müssen Sie diese fragen, immerhin war das Fräulein Allegra Referendarin. Mit dem Fräulein Charlotte habe ich sie das eine oder andere Mal plauschen gesehen.“
„Fräulein Schmitt, ich beabsichtige, Sie nicht länger von Ihren Pflichten abzuhalten. Könnten Sie mir bitte die Wohnanschrift des Fräulein Allegra mitteilen sowie mir sagen, wo ich das Fräulein Charlotte finde.“
„Im Falkenheim auf der Asse. Schulferienlager.“
„Danke. Bestellen Sie bitte dem Herrn Rektor beste Genesung und seiner Frau Grüße.“
„Der Herr Rektor ist Witwer.“
Herbert atmete tief durch, als er wieder den Fußweg betrat. Er sah Onkel Richard an, der sich gemächlich die Schiebermütze auf den Kopf setzte. „Warum hast du diese Schabracke nicht festgenommen, die lügt doch?“
Er strich über seinen Schnauzer. „Jung, man merkt, welch Erbe in dich ruht. Aba dat is kaan Grund, sie festzunehmen. Is aan Verbrechen, aan Verhältnis mit saan Vorgesetzten aaeinzujehen? Außerdem darf ich dat nich ohne Grund. Du siehst zu viel fern. Ich könnt sie mitnehm, um sie erkennungsdienstlich aufzunehmen: Fingaabdröck, Fotos und so. Aba wat soll dat bring, außa sie zu schocken?“
Herbert war es klar, worauf er hinauswollte. Der Kommissar aus dem Fernsehen hatte nicht viel mit der Wirklichkeit zu schaffen. Dennoch wollte er nicht als dumm dastehen und versuchte eine zielführende Frage zu stellen. „Logisch, aber wie kommst du darauf, dass es kein Verbrechen ist, ein Verhältnis mit dem Chef zu haben?“ Kaum hatte er die Frage formuliert, war diese ihm peinlich. Er war erwachsen und kein Kind mehr.
„Diese Schabracke, wie sie nennst, wennglaach ich sie auf maximal Anfang vöazich schätz, hat wat mit den Schubat. Viellaacht war er froh, dat saan Alte öban Daasta is. Wovon ich jedoch nich ausjeh. Er is Viellaacht von saan Frau jetrennt, möglichawaase schieden, aba niemals Witwa. Auf’m Schraabtüsch standen zwo Fotos, aan Schwarz-Waaß-Foto, auf den aan junche Mann mit zwo Kindern, Mädchen und Junch, abjelichtet war. Auf den andan, aan Farbfoto, sah ich aan junch Mann sowie aan Fruu. Wat folgan wir drus? Denk nach!“
Herbert zupfte an der Nase. „Einmal die Familie Schubert früher. Einmal seine Kinder heute.“
„Wer fehlt?“
„Die Mutter der Kinder.“
„Wat ich aba interessanta fand, war dat Öljemälde.“
„Schrecklich!“
„Geschmacksache. Wat hast uuf diesen Bild sehen, fallst es dir anschuust hast?“
„Wald, Jäger und Hund, sage doch zum Kotzen.“
„Wer ist der Jäger?“
Herbert grübelte und bemerkte, die Frage war rein rhetorischer Natur. „Der junge Herr Rektor.“
„Erinnerst dich dran, wat da Fredaisch an Allegras Hals feststellte? Aus welchen Material sind Hundelaanen?“
„Aber, das heißt nicht, dass er heute noch zur Jagd geht, einen Hund besitzt.“
„Tut mir laad, aba dat konntest nich seh’n. Hintam Schraabtüsch war aan Hundenapf und ich gluub nich, der Herr Schubat isst drus saan Fröhstöck.“
Onkel Richards Vermutung gefiel ihm nicht, wenngleich sie in die richtige Richtung zielte. Denn er war gleichfalls davon überzeugt: Der Täter besaß einen Hund. Bloß bei ihm hieß er Momsen. „Was machen wir jetzt?“
„Wir schauen uns inne Allegras Zimma um.“
„Zimmer?“
„Ich jeh nich davon uus, dat aane Refaendarin sich aan aagen Wohnung laasten kann.“
„Welchen Bus nehmen wir?“
„Kaan. Es sind bloß aan paar Meta.“
8
Herbert nutzte den Spaziergang, um nachzudenken. Woher wusste dieses Fräulein Schmitt, diese alte Schabracke, vom Tode Allegras? Für ihn gab es bloß zwei Möglichkeiten. Entweder sie war vor Ort gewesen, entdeckte Allegra, unterließ es, die Polizei zu rufen, oder sie war Mittäterin. Waren es einzig Krokodilstränen, die sie für Allegra vergossen hatte? Denn ihre Allegra deckte sich nicht mit seiner. Von Anstand und Sitte hatte er bei ihr nichts bemerkt. Musste sie sterben, weil sie nicht dem Bild einer tugendhaften Frau entsprach? War Momsen gleichfalls so gestrickt? Er traute es ihm zu.
Ein Husten ließ ihn herumfahren. Onkel Richard nahm die Hand von dem Mund. „Erkältet?“, fragte Herbert eher aus Höflichkeit als aus Besorgnis. „Warum hast du die Schmitt nicht zumindest vorgeladen? Die hat sicher etwas mit Allegras Tod zu schaffen.“
„Wie kommst druf?“
„Hey, das liegt doch auf der Hand. Sie dachte sofort, die Leiche wäre Allegra.“
Onkel Richard schloss kurzzeitig die Augen. „Komm in maan Alta, dann wirst begraafen: Vorahnungen sind auf Lebenserfahrung jejönt.“
Herbert pulte an der Nase, popelte. „Du meinst, bei denen in der Grundschule kommt es häufiger vor, dass ein Lehrer morgens nicht zum Unterricht erscheint, weil er tot ist.“
„Quatsch. Hast mir nich zuhört? Die Schmitt und der Schubat ham aan Verhältnis. Allerdings wörd sie nie baa ihme öbernachten: Anstand. Punkt aans. Punkt zwo: Allegra worde bestimmt nich von aan außerirüschen entföhrt. Also, wie kam sie in den Wald? Entweda der Täta verbrachte sie dorthin oder sie ging selbst. Jedenfalls hat er sie nich mit’nem Auto bracht.“
„Wieso kommst du darauf?“, unterbracht ihn Herbert.
„Erfahrung! Der Lagholz is ja nich jerad riesich. Wenn ich aan Laache in aan Wald verbrinjch, möcht ich doch, dat sie nich jefunden wörd. Dann hät ich den Lechlumer Holz bei Wolfenböttel oda den Mascherode Forst jewählt, die sind glaach daneben. Nee, nee, der Fundort is der Tatort oder diesa fußnah. Rektor Schubat hat saan Schlag baam Laufen erlitten. Wat schlussfolgean wir drus? Er wohnt in der Nähe des Lagholz. Verbinden wir alles, is Foljens plausibel: Die Schmitt hat Allegra jesehen, ehe sie verstarb. Uns dies aanfach nich jestand, waal sie sonst das Verhältnis zum Rektor verraten hät.“
An seiner Logik war etwas, dachte Herbert, als Onkel Richard „Wir sind da!“ verkündete. Sie standen vor der Tür einer schlichten Siedler-Doppelhaushälfte.
Onkel Richard nahm die Schiebermütze ab, derweil die Haustür einen Spalt geöffnet wurde.
„Bring“, krächzte eine Frauenstimme.
„Kriminalhauptkommissar Tamban, Gnädigste.“
„Was wollen Sie?“
„Es geht um Fräulein Allegra Santis.“
Die faltige Frau öffnete vollends die Tür, steckte ein Staubtuch in die Tasche ihrer Kittelschürze und zupfte an dem Kopftuch, das denselben zierte. „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin bei der Wäsche. Kommen Sie erst einmal hinein.“ Sie ließ Onkel Richard und Herbert passieren, ehe sie die Haustür schloss. Sodann schritt sie an ihnen vorbei. „Bitte warten Sie kurz im Wohnzimmer. Ich bin gleich bei Ihnen.“
Nachdem sie die Wohnzimmertür geöffnet hatte, verschwand sie.
Herbert trat ein, sah sich um und wunderte sich. Er hatte nicht mit diesem Wohnstil gerechnet. Das Wohnzimmer war zwar nicht im neusten Design eingerichtet, aber im Stil der Sechziger: funktional, klare Linien, ein wenig Bauhaus. Ein Nierentisch, zwei Porträts in Öl im Stil der Expressionisten gemalt. Als Höhepunkt an der dem Sofa gegenüberliegenden Wand eine ‚Kuba-Imperial Komet‘, das legendärste und futuristische Tonmöbel der Fünfziger. Die Technik: Fernseher, Plattenspieler und Radio aus demselben Jahrzehnt, allerdings das Design wie aus einer Verfilmung eines Jules-Verne-Romans oder aus einem Kubrick-Films. Seine Tante, Onkel Richards Ex, hatte das gleiche Tonmöbel, jedoch stand es nicht mehr im Wohnzimmer, sondern auf dem Speicher, denn sie sah seit Neustem in Farbe. Sie hatte bei Kuba-Imperial gelernt: Sekretärin. Das hieß etwas. Kuba war bis Ende der sechziger nicht allein der größte Arbeitgeber in Wolfenbüttel, sondern gehörte zur Spitze der Deutschen Radio- und Fernsehindustrie. Darauf war sie stolz. Zumindest hämmerte sie ihn dieses immer ein, wenn er vor der Komet gestand hatte.
Die Hausherrin betrat den Raum. Sie hatte Kittel sowie Kopftuch abgelegt und präsentierte sich in einem mitternachtsblauen Kostüm. „Kaffee?“
„Danke. Nein“, antwortete Onkel Richard, ohne Herbert anzuschauen.
Sie wies auf den am Nierentisch stehenden Sessel. „Bitte setzen Sie sich.“ Wartete allerdings nicht darauf, dass sich Onkel Richard der Bitte nachkam, sondern schritt an ihm vorbei und glitt, dabei sich über das Gesäß streichend, auf das Sofa. Onkel Richard setzte sich daraufhin auf den Sessel, Herbert sich auf den Hocker ihm vis-à-vis und sie überschlug die Beine. Sie wandte sich Onkel Richard zu, wackelte mit ihren mitternachtsblauen Pumps, als wäre sie in seinem alter, als wolle sie sich an ihn heranschmeißen. „Was ist mit Fräulein Allegra?“
Anstatt ihr zu antworten, ergriff Onkel Richard einen Bilderrahmen. „Ihr Gatte?“
„Horst, er fiel im Osten.“
Er stellte das Bild derart zurück, dass Herbert es betrachten konnte. Herbert lehnte sich vor, als wolle er sich bequemer setzen und sah sich das Schwarz-Weiß-Foto an. Allerdings erblickte er keinen Landser in seiner grauen Uniform. Der Mann trug Schwarz.
„Frau Bring, wir müssen Ihnen mitteilen, dass wir gestern Ihre Mieterin Frau Allegra Santis tot aufgefunden haben.“
Sie verdeckte den Mund und nuschelte: „Schrecklich.“
„Leider wissen wir, außer dass sie bei ihnen wohnte, nicht viel von Frau Santis. Wissen Sie mehr, Familie, Bekannte, hatte sie ein Verehrer?“
„Ich bitte Sie, das ist ein anständiges Haus. Männerbesuch toleriere ich nicht, will mich ja nicht strafbar machen.“
„Familie, Eltern?“
Frau Bring zupfte an ihrem Dutt. „Kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sprach immerzu über ihre Arbeit. Sie ist …“ Sie pausierte, senkte den Blick. „Sie war hier in der Grundschule Referendarin. Das Fräulein Charlotte hat sie mir empfohlen, nachdem sie ausgezogen war. Sie wollte sich einen Hund zulegen. Aber bitte, Herr Inspektor …“
„Kriminalhauptkommissar Tamban“, verbesserte Onkel Richard sie.
„Hunde sind bei mir nicht gestattet.“
„Haben Sie öfter Lehrerinnen als Logiergast?“
„Nein, das Fräulein Charlotte war die erste, der Herr Rektor Schubert hatte sie mir ans Herz gelegt.“
„Frau Bring, können Sie uns bitte das Zimmer von Frau Santis zeigen?“
Allegras Zimmer passte genauso wenig zu ihr, wie das Wohnzimmer zu der Frau Bring, als sie die Haustür geöffnet hatte. Herbert hatte ein Wohnzimmer im Stil der Dreißiger erwartet, wie es seine Großeltern aus Atzum besaßen. „Gute Vorkriegsware“, bezeichnete es Opa, „solide, was für die Ewigkeit.“ Das einzig Moderne war der Fernseher: natürlich von Kuba.
Ein Bett, versehen mit einer Tagesdecke, einen Schrank, Vorkriegsware, einen Hocker sowie einen Waschtisch mit Schüssel und Kanne erblickte e in Allegras Zimmer: mehr nicht: weder Teppich noch Regal.
Herbert beobachtet, wie Onkel Richard den Schrank öffnete, woraufhin er hinein linste. Frauenklamotten, was hatte er sonst erwartet? Allerdings hätte er diese nie in Allegras Kleiderschrank vermutet, sie glichen denen, die seine Oma früher anhatte, als sie jung war.
***
„Gott, Herbert, wie schick sah ich damals aus. Die Männer liefen mir hinterher und ich …“, sie atmete tief durch, als Herbert den Opa im Erdgeschoss husten hörte. „Schade, dass du kein Mädchen bist.“ Sie hielt ihm das Kleid an, „dir würde es auch gut zu Gesicht stehen, wie zart deine Arme, deine Haut ist, fast wie bei einem Mädchen. Hast du schon eine Freundin? Die Rosanna finde ich nett. Du musst dich ja nicht immer mit Petra treffen.“ ***
Onkel Richard schloss den Schrank, trat an den Waschtisch und strich über diesen. Dann hob er den Zeigefinger an den Mund und blies Herbert den Staub entgegen. „Lass uns gehen, ich hab genug gesehen.“ Er zog den Schlüssel aus dem Schloss. „Komm raus!“Herbert verließ die Kammer und hätte beinahe die Hausherrin umgerannt.
„Frau Bring“, hörte er Onkel Richard, während dieser die Tür abschloss. „Das Zimmer bleibt bis auf Weiteres verriegelt.“
9
Herbert nippte am Halben, das genauso schal schmeckte wie die Kaschemme roch, an deren Theke er saß. Onkel Richard hatte ihn zum Mittag eingeladen. Mittag? Zwei lauwarme Buletten mit Senf und Brötchen, dazu – er presste das Glas – ein Halbes und einen Korn. Er schaute zur Seite, beobachtete, wie Onkel Richard den zweiten Korn sich hinter die Kiemen kippte, während er seine Zigarette ausdrückte.
Sie waren nicht allein in der Kneipe unweit der 1. Polizeidirektion. Jeder, der diese betrat, schlug Onkel Richard auf die Schulter, setzte sich an die Theke oder an einen Tisch, an dem bereits Männer, meist in Uniform, saßen. Sie tranken ihr Bier, gossen sich den Korn hinein und aßen, was die Karte hergab: Buletten, Brühwürste, ‚Strammen Max‘ oder für den kleinen Hunger: Soleier. Dabei zogen sie an einer Zigarette oder pafften Pfeife, während Mireille Mathieus ‚La Paloma, ade‘ und Bernd Clüvers ‚Der Junge mit der Mundharmonika‘ in Dauerschleife erklangen. Einzig lautstarke Lobeshymnen auf die Fußballnationalmannschaft, auf die Ballhelden Gerd Müller und Paul Breitner, unterbrachen deren Schmachten.
Onkel Richard grapschte sich die Zigarettenschachtel von der Theke, klappte diese auf und hielt sie Herbert vor die Nase. „Noch aan, dann jehn wir wieda an die Arbaat.“
Herbert schnappte sich einen Glimmstängel, ergriff einen Streichholzbrief und zündete die Kippe an, als wäre er seit Jahren Kettenraucher. Dabei war er absoluter Nichtraucher. Aber in dieser Luft, die zum Schneiden dick war, gab es keinen Unterschied zwischen ‚aktiv‘ und ‚passiv‘ rauchen.
Onkel Richard erhob sein Schnapsglas, rief: „Ralf, aan för'n Wech“ und stieß Herbert an. „Na, wie war daan asta Vormittach baa den Bullen?“
Just, als er etwas Geistreiches antworten wollte, stimmten sich die Anwesenden in ein gemeinsames „Müller, Breitner“ ein, in das Onkel Richard einfiel. Nachdem der Wirt ihm eingeschenkt, er das Glas geleert hatte, stieß er abermals Herbert an. „Wat hältst von da Brinchen?“
„Frau Bring lügt.“
„Jeda Mensch löcht mehrmals am Tach.“
„Sie schämt sich für ihren Mann.“
„Wieso?“
„Sie jibt ihn als jefallenen Soldaten uus, obwohl a baa da SS war.“
Onkel Richard zuckte mit den Achseln. „Gluube ich weniga. Ihr Horst jeht ihr am Arsch vorbaa. Es is doch schnuppe, ob er im Jefecht oda bei aan Autounfall för Volk und“, er kicherte schelmisch, „Föhra jefallen is. Nein, aaan Witwe allaan in aan großen Huus.“
Sofort dachte er an den Schubert. „Meinst du, sie hat auch etwas mit dem Rektor.“ Er vernahm ein herablassendes Lachen.
„Nee, se is nich die Kragenbreet von den Rektor.“
So viel Plattdeutsch verstand er. „Wieso?“
„Hast dir ihren Jarten anjesehen?“
„Nö!“
„Solltest aba. Der Jarten sacht aan Mang öba aan Menschen uus. Die leistet sich aan Järtner und die Kittelschörz war uuch nich von se. Die hat aan Putze. Warum hat se öberhaupt aan Huus?“
„Na ja, ihr Mann ist gestorben, nachdem er es gekauft hatte.“
„Bist dämlich! Der Schuppen is fast aan Neubau: aus’n Fönfzijan. Wann hat ihr Mann das Zaatliche jesegnet? Ich wett, sie wollt wat vertuschen und hat uns nich erwartet.“
„Hatten wir uns nicht angekündigt?“
„Jeistreich. Wat is faul im Staate Dänemark.“ Onkel Richard zündete sich eine an, steckte die Schachtel in die Anzugjacke. „Wenn wir zoröck sind, jeh ich glaach zu den Kollegen. Sie sollen alle Reviere benachrichtijen, damit die sie uns verständijen, falls jemand Allegra Santis als vermisst meldet. Und du“, abermals stieß er ihn an, „du wirst mit dem Weihe ins Archiv und alle Fälle heraussuchen, die um und mit dem Lagholz zu schaffen Ham.“
„Weihe, vermisst melden?“
„Kriminalkommissar Weihe, aaner von maan Mitarbaatan, fähijer Borsche. Wenn es Allegras Kamma war, die wir besichticht ham, dann hat sie nich dort jewohnt. Folglich hatte sie aan Freund. Der wird sie als vermisst melden.“
„Wieso?“
„Entweder hat er sie jeliebt, macht sich Sorgen oder er is mit für ihren Tod verantwortlich und wird es melden. Sonst macht er sich verdächtich. Der is nich dumm.“
„Nicht dumm?“
„Glaubst, so aan höbsches Ding wie die Allegra jab sich mit aan Straaßenkehra ab?“
Herbert verließ die Polizeidirektion und staubte sich ab. Das Archiv hatte gefühlt seit hundert Jahren keine Putzfrau mehr gesehen. Zumindest in dem Bereich, in dem er sich mit Fritz aufgehalten hatte. Fritz Weihe war Mitte zwanzig und seit kurzem Kriminalkommissar und von unübersehbar sportlicher Statur. Herbert schaute zu ihm hinauf. Was nicht darin begründet lag, dass er ihn schätzte oder Onkel Richard ihn als fähigen Burschen titulierte. Er kannte ihn ja nicht. Es war einer simplen Tatsache geschuldet: Fritz Weihes Körperlänge lag oberhalb und Herberts, wie bei den Tamban vererbt, unterhalb des Durchschnitts.
Es stellte sich als Sisyphusarbeit heraus, in einem Archiv, das chronologisch geordnet war, Anzeigen und Ermittlungsakten von Fällen zu finden, die eins gemeinsam hatten: den Tatort. Dennoch entdeckten sie erstaunlich viel für einen derart mickrigen Ort wie den Lagholz. Sie fanden Anzeigen von Belästigung, unsittlichen Verhaltens oder Autoaufbrüchen. Daneben sichteten sie Ermittlungsverfahren wegen Raubes, Diebstahls und eines Mordes. Das Letztere war das Interessanteste, Wertvollste.
***
„Herbert, schau einmal hier!“ Er trat auf Fritz zu, der ihm unverzüglich die Akte vor das Gesicht hielt. „Mordermittlung.“„Wie?“
„Ich möchte eher wissen, weshalb die Akte im Archiv liegt. Mord verjährt nicht und der Fall ist gerade einmal zwei Jahre her.“
„Vielleicht war es ein Unfall.“
„Dann würde etwas in der Akte vermerkt sein. Nein, eindeutig Mordermittlung. Im Lagholz wurde eine ungefähr Mitte zwanzig Jahre alte Frau aufgefunden. Jemand hatte sie erdrosselt und dann“, Fritz verzog das Gesicht, „ulk …“
Herbert entriss ihm die Akte, betrachtete das Foto. Es war zwar schwarz-weiß, dennoch erkannte er sofort die Misshandlung in ihrem Genitalbereich. „Wie bei Allegra.“
***
Fritz ging gleich von einem Serientäter aus und wollte das Onkel Richard berichten. Allerdings brauchte er es nicht, denn im selben Augenblick erschien dieser.***
„Es wird schon seinen Grund gehabt haben“, stellte Onkel Richard lapidar fest. „Fritz, bring alle Akten in mein Büro.“ Er erhob den rechten Arm und, drohte. „Alle!“ Dann richtete er sich an Herbert. „Und du machst für heute Feierabend. Ich hole dich morgen um neun ab.“***
Als Herbert Onkel Richard die Akte übergab, rückte Herbert ihn näher an Hinnerk heran. Denn zwei Namen hatte er gelesen: Kriminalrat Hinnerk Momsen sowie Kriminalhauptkommissar Richard Tamban.10
Herberts Oma schob ihm Rührei auf den Teller, schaute jedoch nicht ihn an, sondern an ihm vorbei. „Mensch, Alfred, kannst du daan Fußnägel nicht im Bad schnaaden?“
„Solang du dien Lockenwkern in’e Köök drägst, kann ik …“ Opa presste, als legte er ein Ei, woraufhin der Zehennagel durch die Küche schirrte.
Seit einem Jahr vermutete Herbert, dass Wolfgang Menge als Maus heimlich Szenen bei den Großeltern ausspioniert hatte und als Fernsehserie ‚Ein Herz und eine Seele‘ auf die Mattscheibe sandte. Bei diesem Vergleich spielten weiniger ihre Vornamen – der Opa hieß Alfred und die Oma Else – eine Rolle, denn viele ihrer Generation trugen diese Namen, sondern unter anderem ihre Größenverhältnisse. Oma war gut anderthalb Köpfe länger als Opa. Was allerdings für Herbert endgültig den Ausschlag gab, war ihre einzigartige Konversation, die, wenngleich sie vom Opa geprägt war, aufzeigte, wer der hellere Kopf war.
„Herbert, musst du nicht längst zu dem Richard? Du kommst bestimmt zu spät. Denke imma an die Leute.“
„Ja, Oma, Onkel …“
„Anstatt Unschüllige to jagen, schullt ji jo lever üm düsse Sozialisten kümmern, wenn de in Bonn so wieder maakt, warrt de Honecker de nächste Bundskanzler. Saarländer is he ja.“
In Ordnung Alfred Tetzlaff sprach nicht platt, dennoch hatte die gleiche Gesinnung wie sein Opa.
„Vielleicht hat das bereits der Gehlen fünfundvierzig geplant und den Honecker bei den Russen eingeschmuggelt“, konterte Herbert und schmunzelte sich eins.
„Mögelkerwies weer dat to em totroen. En Voss is he, dat mutt man em laten.“
Herbert stopfte sich das Rührei hinein, trank den Kaffee aus und stand schleunigst auf. „Oma, ich mache mich mal fertig. Onkel Richard holt mich gleich ab.“
Herbert verschwand ins Bad, zog die Hose herunter und setzte sich auf die Klosettschüssel. Mann, was für ein Tag war das gestern gewesen, sinnierte er, während er pisste. Konnte es wirklich sein, dass dieser Hinnerk und Onkel Richard die wortwörtliche Leiche im Keller hatten? Dabei war diese alles andere als wortwörtlich. Er konnte es in diesem Moment genauso wenig glauben, wie am Tag zuvor, als er auf den Bus von Braunschweig nach Wolfenbüttel wartete, in diesen stieg, bis jemand ihn von dem Grübeln abhielt.
***
Lippen pressten sich auf seine. „Bist du bereits im Nirwana?“
Er betrachtete sie. „Petra! Was machst du hier?“
Sie hob die Plastiktüten, während sie sich neben ihn setzte. „Ich laufe Werbung.“
Ungläubig runzelte er die Stirn.
„Mensch, es sind Ferien, ich war bummeln.“ Sie zog rote Dessous aus einer der Tüten. „Heiß. Oder?“
„Wenn’s ihm gefällt?“
„Und du?“ Petra lehnte sich zu ihm hinüber. „Du stinkst. Warst du Leichen ausbuddeln?“
„Mit deinem Alten unterwegs.“
„In der Kneipe?“
„Auch.“
„Wie weit bist du gesunken?“
Er verdrehte die Augen. „Frag Opa!“
„Alter, ich dachte, du willst nicht zu den Bullen.“
„Habe ich nicht vor, aber Opa spendiert mir den Lappen.“ Er kniff ein Auge zu. „Verstehst?“
„Was hab ich davon? Wolltest du mich nicht längst zeichnen?“
Seitdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten, nervte sie ihn, er solle sie im Akt festhalten. Aber wie sollte er das? Der Reiz war weg. Er wusste, wie sie roch, wie sie sich anfühlte, wie … „Komm irgendwann vorbei.“
„Wie wäre es, wenn wir uns nächsten Freitag verabreden? In Sickte soll eine neue Disco aufgemacht haben.“
„Nee, auf Dorf kann ich nicht.“
„Du kannst auch deine Freundin mitbringen. Ich fahre.“
„Meinst du, dein Stecher hat nichts dagegen?“
„Arschloch.“ Sie stand auf. „Ich entscheide immer noch, mit wem ich wohin gehe.“
Wie eine Furie marschierte sie nach vorne und ließ sich hinter dem Fahrer nieder.
***
Just als Herbert zurück in die Küche kam, sah er durchs Fenster, wie Onkel Richard mit seinem ‚Volkswagen 411 Variant‘ vorfuhr.„Ich mache die Flatter“, rief er Oma zu, die an der Spüle stand und abwusch.
„Soll ich dir nicht schnell aan paar Brote schmieren?“
„Lass stecken, Onkel Richard lädt mich bestimmt zum Mittag ein“, antwortete er und hoffte, er täte es nicht.
Onkel Richard lehnte aus dem Fahrerfenster. „Herbat, hast daan Zaachenkram am Mann?“, schrie er.
Ohne Umschweife griff er an die Gesäßtasche, zückte den Block. „Immer am Mann.“
„Ich maan wat Größeres, Professionelleres.“
Herbert hatte keinen blassen Schimmer, was er vorhatte, woher auch. Eins schloss er aus: Onkel Richard verlangte sicher keinen Akt von ihm. Deshalb trottete er zurück, rief: „Habe etwas vergessen“, in die Küche und stieg die Treppe zum Dachgeschoss hinauf, in dem sein Zimmer war. Er schnappte sich einen DIN-A4-Zeichenblock sowie Bleistifte und steckte alles in die alte Ledertasche des Opas, die jener ihm nach seiner Pensionierung geschenkt hatte. Zumindest hatte er ihm das erzählt. Daran erinnern konnte er sich genauso wenig, wie an den Grund, weshalb er die Diensttasche mit nach Atzum genommen hatte. Jedenfalls erfüllte sie wieder ihre Aufgabe.
Herbert setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Mensch, Vatas alte Tasche, wenn dat kaan Omen is.“
Er wusste nicht, wie Onkel Richard es meinte, daher warf er die Bemerkung beiseite. „Wo fahren wir hin?“
„Nachhem Falkenhaam. Ich will das Fräulaan Charlotte befrajen, ehe se zu ench mit de Kollegen wird und erst recht mit de Schmitt snackt.“ Er startete den Wagen, fuhr ab.
„Weshalb sollte ich den Block holen?“
„Na, um zu zaachnen. De wilde Nator is doch för jeden Könstler erbuulich.“
Die Frage, ob er sich bereits früh einen hinter die Binden gekippt hatte, verkniff sich Herbert. „Ich stehe nicht so auf Landschaften.“
„Dat wees ich. Also ich muss sajen, dat Nackedaabild von Rosanna Santis is dir jut jelunjen.“ Er stieß in an, zwinkerte. „Stramme Titten hat sie.“
Herbert schluckte und fühlte, wie er errötete und ein „Äh“ ihm abhandenkam.
„Petra hält viel von daan Kunst. Also ich jeb maan Sejen, wenn's zaachnest, immerhin ist'se daan Cousine und ihr habt schon maansam jebadet. Na jut, da wart ihr … Hast dat jesehen? Wie kann man hier öberholen?“
Onkel Richard trat in die Eisen und Herbert schlug vorn auf, nahm sich vor, Petra zu erwürgen. Wie konnte sie sich wagen, eine seiner Zeichnungen zu mopsen?
Onkel Richard bog rechts ab. „Maan Plan is janz aanfach: Du mallst dat Fräulaan Charlotte, während ich se uusfraje: zufällich eben.“
Er rieb sich das Kinn. „Zufällig?“
„Dat jeht schnella als aan Foto. Ehe jemand sich in’er Direktion dazu hinjibt, es zu vergrößern, verjehen Taje. Beamte sind ebent nich de Schnellsten. Ich wart saat jestern Abend uuf’n Bericht der Kriminaltechnik. Heut morjen war de imma nich fertich. Wenn man solch aan Sofortbildkamera, aan Polaroid, hät – hab ich letztens in de Drehschaabe jesehen – dann …? Aba bevor wir so waat sind … wir ham nich ma Farbfotos …“
Onkel Richard ergoss sich in einem Monolog über die miserabel ausgerüstete Polizei, bis sie die Auffahrt zum Falkenheim erreichten. Unschöne Kindheitserinnerungen kamen Herbert: Zeltferienlager.
Die aus Broonschwaach seien gerade aufgebrochen, sagte ihnen der Heimleiter, der genauso missgelaunt war wie zu seiner Zeit.
Onkel Richard grinste. „Is doch aan Wucht. Du kannst aan paar Zaachnung von der Asseborg machen und ich fahr röber zor Asseschänke, komm danne hoch.“
11
„Was malst du?“
„Philip, bist du blöd, das sieht doch jeder: Striche.“
Seit einer geschlagenen Viertelstunde sausten die Zwerge, die Jungen, an ihm vorbei, tobten über die Mauern, stellten dämliche Fragen. Die Mädchen spielten abseits, hatten sich gegenseitig gefasst, tanzten Ringelreihen und schwangen ihre Röcke, während eine Frau mit einem Tamburin den Takt angab.
Hatte sich in einem Jahrzehnt nichts geändert, war die Moderne, die Emanzipation so weit vom realen Leben entfernt oder Braunschweig das, wofür er es hielt: Provinz. Bestimmt war er als Mann nicht ein Vorreiter, der an der Spitze der Bewegung, das Schwert gezückt, mit der Fahne voraus zum Sturm blies, aber Manns genug, um denselben zu stehen. Was sollte aus der Gesellschaft werden, wenn nicht die Kinder den Mief vertrieben, die Erzieher nicht aufstanden, anstatt das Tamburin im Takt der Bourgeoisie zu schlagen. Herbert hob den rechten Arm, ballte eine Faust und summte:
„Völker, hört die Signale!
Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht!“
Menschen- nicht Männerrecht. Nichts hatte sich in den vergangenen Jahren geändert. Wenn er sich die Burgruine, den Wald wegdachte, war es nicht anders, wie damals auf dem Schulhof. Okay, zu seiner Grundschulzeit wohnten sie noch in Schnackendorf, ein Dorf im Wendland direkt an der Elbe. Klassen kannte er nicht. Alle Kinder saßen in einem Raum: links die Mädchen, rechts die Jungen. In der Pause spielten sie auf dem Hof. Die Jungen nahmen sogar die Straße, den Kirchhof sowie die Obstbäume von Tante Hilma mit in Beschlag und mopsten die Äpfel. Falls Tante Hilma oder der Lehrer sie erwischte, gab es Senge mit dem Rohrstock. Die Mädchen blieben auf dem Schulhof. Sie fassten sich, tanzten Ringelreihen, während die Älteste mit ihrem Gesang den Takt vorgab. Gerne hüpften sie auch über das Seil oder das Gummiband. Aber nie tobten sie wie die Jungen, beschmutzen nie ihre Kleider. Dennoch spürten sie den Rohrstock. Allerdings bekamen sie seltener Senge. Aber wenn, dann mussten sie sich nicht wie die Jungen bloß vorbeugen, ehe der Lehrer auf diese derart heftig, verbissen eindrosch, sodass manchmal der Stock zerbrach. Nein, er zelebrierte es. Er zwang sie, den Rock zu lüpfen, sich bäuchlings auf den Lehrertisch zu legen. Dann schob er ihnen die Unterhose hinab und betatschte sie ausgiebig. Erst danach schlug er ein einziges Mal gezielt zu. Bis Herbert neun war, kannte er es nicht anders, sprach mit keinen anderen Kindern als mit denen aus dem Dorf. In den Ferien nach der Dritten bei einer Geburtstagsfeier seiner Oma aus Atzum lernte er bei Kakao und Kuchen Petra kennen. Zuvor hatte er mit dem ihm fremden, sommersprossigen Jungen gespielt und nichts geschnallt. Woher sollte er wissen, dass auch Mädchen kurze Haare hatten und Hosen trugen? Petra tobte mit seinem Cousin durch den Garten, ärgerte seine Schwester, Cousine und ihn, wie die Jungen aus dem Dorf es taten, während sie abwechselnd schaukelten, sich anschubsten. Herbert den Wind an seinen nackten Beinen genoss. Erst als die Erwachsenen an der Kaffeetafel saßen, sie in einer Ecke mit ihren Puppen spielten, kam er zu ihnen und gab sich Petra als Mädchen zu erkennen, weil sie mitspielen wollte.
Onkel Richards Stimme holte ihn aus den trüben Gedanken. Er blickte sich um, sah ihn unweit des Lochs, an dessen Stelle im Mittelalter der Burgfried aufragte. Er quatschte mit einem Mann, der in einem lächerlichen knallroten Sportanzug steckte. Was sie sprachen, konnte er nicht hören. Erst als der Mann lauthals „Charlotte“ rief, war es Herbert bewusst, worüber, oder besser gesagt wen, sie sich unterhielten. Der Ruf war gerade verklungen, da erschien eine zierliche Frau, am Saum ihres Kleides zwei Mädchen und an einer Leine ein Dobermann. Gestapo-Hermann hatte ebenfalls einen. Kaum kam sie in die Nähe von Onkel Richard, da fing der Hund an zu knurren, zu bellen. Sie versuchte, ihn zu bändigen, was ihr nicht gelang. Zuerst strich sie durch ihr für eine Frau extrem kurzes, irisch rotes Haar, sodann wies sie zu Herbert hinüber. Onkel Richard kam auf ihn zu, blieb kurz vor ihm stehen. Die Frau folgte, nachdem sie die Mädchen zu den anderen gebracht hatte.
„Romulus, sitz.“ Der Hund folgte ihrem Befehl, knurrte jedoch erneut. „Entschuldigen Sie bitte, er hat Probleme mit Männern“, ein Junge lief auf Romulus zu, streichelte ihn, „erwachsenen Männern. Aber“, sie drehte den Kopf, verdrehte die Augen, „am meisten mit Dieter.“ Herbert verfolgte ihren Blick und landete bei dem schrill gekleideten Herrn. „Herr …“
„Kriminalhauptkommissar Tamban.“
„Sie wollen mich bestimmt nicht wegen meines Hundes sprechen.“
„Frau Banner, Sie kennen Fräulein Allegra Santis?“
„Ja, wir sind Kolleginnen.“
„Kennen Sie sie persönlich, also privat?“
„Weshalb fragen Sie, hat sie etwas ausgefressen?“
Herbert versuchte, die Mimik von Frau Banner, als Zeichnung festzuhalten.
„Frau Santis ist verstorben.“
„Wie, wann, wo?“ Sie verdeckte den Mund, schluchzte, dabei glitt ihr die Leine über die Hand. Der in diesem Augenblick freie Hund flitzte zu den Mädchen, die ihn freudig in Empfang nahmen. Dieses schien der Herr bemerkt zu haben, denn er eilte auf Frau Banner zu, umschlang ihre Taille.
„Aus ermittlungstechnischen Gründen darf ich Ihnen das nicht sagen.“, antworte Onkel Richard.
„Allegra ist tot!“ Sie hielt nicht mehr an sich, weinte.
Der Herr tröstete sie, stellte dieselbe Frage, auf die Onkel Richard genauso antwortete.
„Herr …“
„Graber.“
„Herr Graber, es scheint mir, sie kannten Frau Santis ebenfalls gut. Wissen sie was über sie? Familie, hatte sie ein Freund?“
„Nein! Allegra und ein Freund? Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie lebte nur für ihren Beruf.“ Er spreizte die Arme ab. „Ihre Kinder.“
Onkel Richard nickte bedächtig. „Frau Banner, Sie wohnten bei Frau Bring, ehe Frau Santis bei ihr einzog? Sie haben das Zimmer im Dachgeschoss gekündigt, weil sie einen Hund, ich nehme an“, er wies auf den Dobermann, „diesen bekamen?“
„Neben der Küche.“
Scheinbar auf seinen schusseligen Fehler hinweisend, schlug sich Onkel Richard gegen die Stirn. Herbert wusste gar nicht, dass Onkel Richard derart schauspielern konnte. Außerdem wunderte er sich erneut, wie gut er Hochdeutsch sprach, wenn er wollte. „Ich werde alt, klar Küche im Erdgeschoss.“
„Aber nicht Romulus wegen.“ Sie druckste. „Gut, Frau Bring ist kein Hundefreund, aber immer, wenn ich sie besuche, kann sie sich nicht von ihm loseisen. Ich habe ein Haus in Stöckheim geerbt. Von dort aus ist es auch nicht weit zur Schule.“
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen hier in dieser beschaulichen Umgebung eine derart schreckliche Nachricht übergeben musste. Aber ich dachte, Sie könnten mir weiterhelfen.“ Onkel Richard griff in die Innentasche seiner Anzugjacke, holte eine Visitenkarte heraus. „Vielleicht fällt Ihnen was ein. Sie können mich am Donnerstagvormittag in der Direktion erreichen“, er übergab Herrn Graber die Karte, „Adresse steht drauf.“
Frau Banner schmiegte sich an Herrn Graber an. „Das werden wir.“
Onkel Richard hob die Schiebermütze. „Danke.“ Er kehrte ihnen den Rücken zu, verharrte, drehte sich wieder ihnen zu. „Eine Frage noch. Wo hat Frau Bring gearbeitet?“
„Bis zu dessen Übernahme im Büssing-Werk. Sie war Sekretärin.“ Frau Banner streckte den rechten Arm hinauf. „Irgendwo weiter oben. Weshalb fragen Sie?“
„Wegen der Komet, dem Tonmöbel. Wir ham uuch aane, seh´n aba jetze in Farbe. Konnt sich ja dunnemals nich jeda laasten.“ Erneut hob er die Schiebermütze. „Frau Banna, Herr Graba.“
-- Fortsetzung folgt --
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