Herbstgedanken II
Herbstgedanken II
Immer, wenn ich ‚Allerheiligen’ bunte Lichter auf dem Grab meiner Großeltern anzünde, fallen mir die kleinen Weisheiten ein, die sie in mein Leben hinein getragen haben. Omas Ratschlag ’Hilf, wo du kannst, dann bist du nie allein’ und Opas Lieblingsspruch ’Achte die Menschen, aber respektiere auch alles Leben um dich herum’, den er jedem versuchte, ins Herz zu schreiben. Als wäre es erst gestern gewesen sehe ich, wie seine schmale Gestalt dem hoch gewachsenen Nachbarn furchtlos droht die Polizei zu rufen, falls dieser noch einmal mit seinem Luftgewehr auf Katzen oder Hunde schießt. Währenddessen stand unser Kurzhaardackel neben ihm und unterstützte knurrend die Worte seines Herrchens.
Seiner Lieblingsweisheit zum Trotz verschwand Opa regelmäßig mit einem unserer Stallkaninchen im Keller, um es eine Weile später bratfertig bei seiner Frau in der Küche abzuliefern. Die einzige Möglichkeit regelmäßig Fleisch auf den Tisch zu bringen. Aber das verstand ich erst viele Jahre später. Damals sank er in meiner Bewunderungsskala regelmäßig auf die unterste Stufe, wenn er rief: „Anna, halt Spätzchen bei dir, ich gehe schlachten!“ Tränen voller Wut und Schmerz heulte ich dann, stampfte in Omas Küche mit den Füßen auf, so fest ich nur konnte und schrie: „Du bist nicht mehr mein Opafreund!“ Das war die heftigste Bestrafung, die ich zu vergeben hatte. Zu meiner Schande sei’s gesagt, dass ich am folgenden Tag den duftenden Braten genussvoll mit verspeiste.
An einem Tag im September kam Opa von einer Kaninchenausstellung zurück. Er hatte einen neuen Bock geholt. „’Belgischer Riese’, die Zucht braucht frisches Blut“, erklärte er mir. Neugierig schaute ich auf eine zweite mitgebrachte Kiste. "Und was ist da drin?", fragte ich. „Ja, das ist ein Geschenk für mein Helferlein, das mir immer so fleißig beim Füttern hilft“, tat er geheimnisvoll. „Schau nach, ist wirklich für dich.“
Als ich den Deckel hob, blickte mich ein schneeweißes Kaninchen mit blauen Augen an. Opa hatte es bei der Verlosung gewonnen. Es bekam einen eigenen Stall, erhielt den Namen Flöckchen und lief mir nach ein paar Monaten wie ein Hund hinterher.
Es war ein Samstagmorgen, als ich Opa hörte: „Anna, ich schlachte heute Mittag. Hol Spätzchen zu dir in die Küche.“ Mein Flöckchen hatte auch Schlachtgewicht! Panik stieg in mir auf. Ich musste mein Langohr aus der Gefahrenzone schaffen, aber wohin? Es kam nur ein Ort in Frage, an dem niemand ein Kaninchen vermutete. Mein Bett! Das war es! Wer sucht schon ein Kaninchen in einem Bett? Flöckchen bekam also sein Versteck unter der Zudecke mit der Aufforderung, sich nicht zu mucken. Großmutter war arg verwundert, dass ich mich freiwillig ohne Stampfen und Toben zu ihr an den Küchentisch setzte.
Als Opa am späten Nachmittag hereinkam, schaute er mich nur an und fragte: „Wo ist es?“ Er war ganz ruhig, aber er lächelte nicht. Zunächst wand ich mich, wie ein Aal. „Du sagst doch immer, man muss alles Leben respektieren, und mein Flöckchen soll das auch haben.“ Ein dicker Kloß im Hals hinderte mich, weiter zu sprechen. „Wo, Gabi, wo ist das Tier?“ Wenn Großvater mich beim Namen nannte, wusste ich, was die Uhr geschlagen hatte. Tieftraurig führte ich ihn zum Versteck und hob die Bettdecke an. Wortlos nahm er das Kaninchen auf den Arm und bedeutete mir mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Klein fühlte ich mich in dem Moment, und hilflos.
Er setzte Flöckchen in den Stall und ich landete mit Schwung neben ihm auf der Gartenbank. „Hör zu Kind“, sagte er dann, und seine Stimme hatte einen merkwürdig weichen Klang. „Ohne unsere Gänse, Hühner und Kaninchen hätten wir kein Fleisch zu essen, das musst du verstehen. Aber, dass du gedacht hast, dein Opafreund würde dein Tierchen schlachten, das macht mich traurig. Ich habe dir Flöckchen doch geschenkt.“
Lange haben wir auf der Bank gesessen. Großvater waren wohl ein paar Mücken ins Auge geflogen und ich half, sie herauszuwischen.