Herbstvergessen

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Luca Signer

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Mit weit aufgerissenem Maul und starren Augen ragte das gewaltige Clownsgesicht vor ihm auf. Die Haut war weiss, die Haare grün, und die Nase, ebenso wie die an den Mundwinkeln nach oben verzogenen Lippen, tiefrot.
Die Farbe war an vielen Stellen abgeblättert und offenbarte das Holz darunter. Trotzdem bildete es nach wie vor einen passenden Eingang zu dem dahinter liegenden Vergnügungspark.
Leichter Nebel war aufgezogen und die Wolken verdeckten die letzten Sonnenstrahlen des Tages, als der junge Mann durch diesen Eingang schritt, über die Teppichzunge hinweg in den Park.
Schilder führten ihn an den Ticketschaltern vorbei, deren grösstenteils zerbrochene Glasfronten das staubige, von Spinnweben dominierte Innere der Kabinen offenbarten.
Er kam an mit Brettern zugenagelten Ständen und verwahrlosten Attraktionen vorbei, die allesamt grau und bedrückend auf ihn wirkten und von einer Schicht aus Dreck und Blättern bedeckt waren.
An den Achterbahnstützen kletterten Efeuranken entlang, er hielt einen respektvollen Abstand zu diesen, um das Risiko eines herabstürzenden rostigen Gerüsts oder von Maden zerfressenen Balkens zu umgehen.
Auf den Kieswegen spriesste Gras und Unkraut, es verlieh dem Grau und Braun einen passenden Grünstick. Wo einst hunderte Füsse den Boden platt traten, nimmt sich nun die Natur das Land zurück.
Auch wenn sich hier vieles verändert hatte und er es gerne verhindert hätte, begannen Erinnerungen sich schleichend vor seinem inneren Auge abzuspielen.
Denn er ist schon einmal hier gewesen, vor vielen Jahren, als
noch niemand ahnte, dass dieser Ort schon kurz darauf für immer verlassen sein würde.
Der Park war ihm in seinen Kinderaugen wie eine eigene kleine Welt erschienen, eine Welt in der er sich nur zu gerne verloren hatte.
Damals stürzte er sich enthusiastisch ins Vergnügen, einzig gebremst von seinem kleinen Anhängsel.
Es war ihm eine Last, doch musste er sich damit abgeben, denn seine Eltern hatten ihm an diesem Tag die Verantwortung für den Kleinen übergeben. Den Kleinen, den Welpen, der diese dichten, schwarzen Locken hatte und bei dem man sich immer fragte, ob sein schelmisches Grinsen beabsichtigt war.
Wie üblich zu jener Zeit strömten neben den beiden die Menschen massenweise in den Park, um einiger Stunden der Sorglosigkeit und Freude zu frönen.
Einmal mittendrin, wurden seine Sinne sogleich von allen Seiten angeregt und sein grösstes Problem bestand auf einmal darin, wohin er seine Aufmerksamkeit als Erstes richten sollte.
Kostümierte Darsteller lockten durch allerlei Klamauk die Gäste zu den verschiedenen Attraktionen. Diese verliehen mit ihren grellen Farben und wabernden Lichterketten dem Ort eine besondere, schrille Atmosphäre.
Grosse Scheinwerfer belichteten die Achterbahn, deren Schienen rund um den Park führten.
Deren schreienden und jauchzenden Fahrgäste übertönten selbst die Musikboxen, die, wohin er auch ging, etwas anderes abspielten, sodass die Stücke sich Teilorts zu einem misstönenden Chaos formten.
In all dem versuchten die Verkäufer sich Gehör zu verschaffen und sich gegenseitig zu übertönen, während sie ihre Waren als die besten und günstigsten darboten. Die Buden hatten sie offenbar in diesen Wettstreit miteinbezogen, denn er entdeckte immer wieder eine die noch kunstvoller und extravaganter geschmückt war als die letzte. Die süssen Leckereien verströmten einen verführerischen Duft, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen liess. Von glasierten Äpfeln, über lange Gummischlangen bis zu fluffiger Zuckerwatte war alles da, was man sich wünschen konnte.
Er stand inmitten von alldem, die Leute um ihn lachten und erfreuten sich ihres Lebens, als ob es an diesem Ort nichts Schlechtes gäbe.
Erpicht darauf alles auszuprobieren rannte er hierin und dorthin, nahm sich kaum Zeit für die einzelnen Dinge, um jede Faser dieses Parks auszukosten
Dabei merkte er kaum, dass er ununterbrochen ein breites Lachen im Gesicht hatte. Auch der Welpe schien ganz aufgeregt, während er ihm hinterher trippelte und versuchte Schritt zu halten.
Aber das Gedränge war gross und der Welpe klein.
Zu Beginn hatte er immer wieder mit einem raschen Blick nach ihm gesehen und den Welpen jedes Mal gleich hinter ihm entdeckt. Als die Zeit weiter voranschritt und seine Gedanken mehr und mehr seiner eigenen Befriedigung galten, wurden die Abstände grösser, nach denen er nach ihm sah. Er begann ihn zu vergessen, und als er sich gerade in einer Traube von Menschen befand, wurde er an der Schulter angerempelt. Oder vielleicht war auch er es, der jemanden angerempelt hatte. Entschuldigend wandte er sich zu der Person um, diese aber ging einfach weiter. Es war nichts weiter passiert, ausser dass er für einen Moment von seinem Tunnelblick losgerissen wurde. In seinem Kopf fand wieder mehr Platz als nur seine eigenen Belange und er erinnerte sich, dass er nicht allein hergekommen war.
Aber nun war er allein, denn der Welpe war nicht mehr da.
Hastig drehte er sich einmal um sich selbst, der vertraute Anblick der schwarzen Locken war nirgends auszumachen.
Die Freude war gänzlich aus seinem Gesicht gewichen und sein Herz begann spürbar in seiner Brust zu klopfen. Die Menschen um ihn schienen nichts von alledem mitzubekommen, sie beachteten ihn nicht, ahnten nichts von der Schwere die sich in ihm ausbreitete. Alles bekam für ihn einen grotesken Schleier, die lachenden Gesichter widerten ihn an, es schien ihm, als würden sie ihn verhöhnen.
Mit lauter, leicht zittriger Stimme rief er einmal den Namen des Welpen, hoffend. Die einzige Reaktion kam in Form einiger der Umstehenden, die sich zu ihm wandten. Er sah in ihre ausdruckslosen Gesichter, in die leeren Augenhöhlen, umrahmt von bleichen Knochen.
In seinem Kopf war eine unheimliche Stille eingekehrt, das Lachen und die Musik waren verstummt.
Er hörte nur diesen Schrei, dieses wehklagende Heulen.
Sein Körper erstarrte, einzig sein Kopf drehte sich langsam in die Richtung.
Kalte Schauer liefen seinen Rücken hinunter, während ihm gleichzeitig der Schweiss ausbrach. Zögerlich gehorchte ihm der Rest seines Körpers, trug ihn vorwärts. Die Menge schien eine Gasse für ihn zu bilden, er meinte vorwurfsvolle Mienen zu erkennen, sie klagten ihn an da er seine Verantwortung vernachlässigt hatte.
Das Karussell kam näher, von dort war der Schrei gekommen, und dort standen die Leute, starrten auf den kleinen Körper, der zwischen die Drehscheiben geraten war. Es fuhr noch, die Pferde hoben und senkten sich immer wieder, in ihrer glänzenden Lackierung spiegelten sich die Lichter, blendeten ihn.
Metallenes rattern, quitschen und knöchernes Knacken war zu hören gewesen, woraufhin das Karussell stehen blieb, und sich nie wieder drehen sollte.

Ein kräftiger Windstoss liess das Laub aufwirbeln und in sein Gesicht flattern.
Er zuckte zurück, öffnete wieder die Augen, als der Blätterschwarm weitergezogen war.
Um ihn war alles leer, niemand war da ausser ihm und einigen Raben, die krächzend ihre Bahnen flogen. Seine Schuhe traten auf Absperrband, etwas knirschte unter seinen Absätzen, während er langsam weiter vorwärtsging.
Sein Blick glitt über das Karussell. Seit vielen Jahren hatte es sich nicht bewegt, trotzdem strahlte es noch eine gewisse Schönheit und Unschuld aus.
Für ihn war es seit langem Nahrung für die finstersten Albträume gewesen.
Man konnte noch erkennen, an welchen Stellen man es aufgerissen hatte, um den kleinen Leichnam bergen zu können.
Mit zitternden Händen ging er langsam in die Knie, nah vor der runden Fläche des Karussells.
Umringt von Kerzen und verwelkten Blumen stand dort ein Bild, eingerahmt in verziertes Holz. Auf dem Bild war ein Kind zu erkennen, ein Junge mit dichten, schwarzen Locken und einem schelmischen Grinsen im Gesicht, von dem er sich fragte, ob es wohl beabsichtigt war.

Er hatte sich stets bemüht, diesem Jungen die Menschlichkeit zu nehmen, indem er ihn sich in seinen Erinnerungen als vierbeinigen Gefährten vorstellte.
Zum Teil hatte das funktioniert, und der Schmerz und die Schuldgefühle waren nicht ganz so unerträglich. Aber jetzt, wenn er das Bild vor sich sah, wusste er dass er die Vergangenheit nicht ändern konnte. Er konnte das Geschehene nicht ungeschehen machen, und sein kleiner Bruder, auf den er an diesem Tag hätte aufpassen sollen, würde niemals zurückkehren.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Luca Signer, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Du hast eine berührende und teilweise auch unheimliche Geschichte geschrieben, die an "Joyland" erinnert. Hat mir gefallen!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 



 
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