Hitzegespenster

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Hitzegespenster


Es ist Sommer. Sechsunddreißig Grad!
Bereits nach drei Stunden am Steuer eines Busses ohne Klimaanlage bin ich ziemlich gar gekocht.
Die gelegentliche Freizügigkeit meiner weiblichen Fahrgäste entschädigt mich jedoch für diese Strapazen.
Ich gestehe, ich bin ein Mann und habe eine Schwäche. Ich erfreue mich an diesen Schönheiten des Lebens. Dennoch bemühe ich mich um das Gebot der Höflichkeit, nicht allzu genau hinzuschauen. Es gelingt mir nicht immer …

Auf den Werbeplakaten an den Wartehäuschen sind oft Menschen abgebildet, die beinahe lebensgroß erscheinen. So kann mein erschöpfter Blick manchmal erst recht spät erkennen, ob mich dort nur das Werbegesicht anlacht, oder ob dort tatsächlich jemand an der Haltestelle wartet.
Dann kommt es natürlich vor, dass das Motiv zudem optisch reizvoll daherkommt. Sei es Werbung für ein Getränk, irgendwelche Lebensmittel, Kosmetika oder andere Produkte des Alltags, dann lachen mich oft hübsche Gesichter an. Oder seien es die vermeintlich zu vermittelnden Kundinnen einer Partnervermittlung. Da schaut man immer wieder gerne hin. Oder die zwei Bikinischönheiten, die Werbung für Bademoden machen …

Noch über fünf Stunden habe ich vor mir. Der Dienst scheint heute kein Ende zu nehmen. Die brütende Hitze und die Schwüle lassen meine Augen ermüden. Die Hitze ist unerträglich. Meine Konzentrationsfähigkeit wabert am unteren Limit.
Bilde ich mir das nur ein, oder waren jetzt an jeder zweiten Haltestelle diese Badenixen auf den Plakaten?
Drei Haltestellen weiter erneut. Wie in Trance fahre ich die Haltestelle an, obwohl niemand den Wunsch kundgetan hatte, dort aussteigen zu wollen. Es steht aber auch niemand an der Haltestelle, der einsteigen könnte. Oder doch?
Wieder dieses Plakat mit der Bademode.
Ich stoppe den Bus, starre auf das Plakat. Plötzlich bewegen sich diese zwei Damen! Sie treten aus ihrem Werbehintergrund heraus und schauen mich an.
Ich öffne die Tür. Und prompt steigen diese beiden wunderschönen Frauen in meinen Bus. Das muss ich doch träumen!

„Guten Tag, junger Mann“, sagt die eine. „Danke, dass Sie uns mitnehmen.“
Völlig paralysiert antworte ich: „Ihr wollt sicher zum Badesee. Da müsst ihr an der Endhaltestelle noch mit einem anderen Bus weiter.“
„Herzlichen Dank, junger Mann“, sagt nun die andere.
„Ich habe zu danken für solch reizende Fahrgäste.“
Habe ich das jetzt wirklich gesagt? Das ist ja wohl unerhört! Klar, die beiden sind äußerst reizend, aber ich sollte mir solche Äußerungen dennoch verkneifen.

Plötzlich muss ich hart bremsen, weil so ein Trottel einfach aus einer Seitenstraße geschossen kommt, ohne auf mich zu achten. Meine Reflexe sind also noch da. Jetzt bin ich wieder hellwach. Kurzzeitig.
Ich schaue in den Spiegel, um zu erkennen, ob sich jemand verletzt hat. Dies scheint nicht der Fall zu sein.
Aber wo sind die zwei Badenixen?
Sie sind nicht im Bus. Habe ich mir das also doch nur eingebildet.

Der Aufreger mit dem Beinahezusammenstoß ist schnell aus dem Sinn. Der alte Trott, die hitzebedingte Erschöpfung kommt sehr schnell zurück.

Seit einigen Tagen fallen mir diese Werbeplakate für einen Freizeitpark auf. Darauf ist das Maskottchen abgebildet. Eine Mischung aus Mickey Mouse, Miss Piggy und irgendeinem Fürst Protz, was die Bekleidung betrifft.
Auf meiner weiteren Fahrt erscheint dieses Plakat immer häufiger. Komischerweise hat es auf mein Wahrnehmungsvermögen die gleiche hypnotische Wirkung wie die Bikinischönheiten zuvor.
Schließlich erreiche ich eine Haltestelle mit diesem Plakat. Ich starre es an, als wenn ich fragen wolle: „Willst du mitfahren?“
Und dann löst sich die Figur aus ihrem Hintergrund, tritt an die offene Tür und fragt mich: „Wann willst du mich mal wieder besuchen? Du warst vor über zwanzig Jahren das letzte mal da.“

Die Hitze macht mich fertig. Was ist das für ein Alptraum? Ich rufe die Leitstelle und sage: „Ich kann nicht mehr, ich sehe schon Gespenster.“
Der Kollege, der vor der Tür steht, fragt mich: „Was ist los? Ich löse dich jetzt ab, oder?“
 
Zuletzt bearbeitet:

Blue Sky

Mitglied
Wahre Geschichte ne ... Wenn Wünsche anfangen, einem Streiche zu spielen.
Phantasialand ist doch nicht weit, da kann man auf andere Gedanken kommen, chillen und was zu kucken gibt es auch. Mach mal Urlaub.:cool:
Unklimatisierter Bus ... Ne ne ...

LG
BS
 

Matula

Mitglied
Ist tatschlich "parallelisiert" und nicht eher "paralysiert" gemeint ? Im vorletzten Absatz muss es aber jedenfalls "löst sich die Figur aus ihrem Hintergrund" lauten.

Freundliche Grüße,
Matula
 

petrasmiles

Mitglied
EIne eindringliche Schilderung, was diese Umwelteinflüsse mit uns machen - und in welche (Un-)Tiefen da eingedrungen wird :)
LG Petra
 
Hallo Rainer,

gerne gelesen, amüsant.

Auf den Werbeplakaten an den Wartehäuschen der Haltestellen sind oft Menschen abgebildet, die beinahe lebensgroß erscheinen.
den ... den ... der
Nimmt ja fast französische Züge ein à la "Die Halme des Grases des Rasens des Gartens meines Hauses." :)
Könnte man eleganter lösen. "der Haltestellen" könnte ganz raus. Man weiß ja, was Wartehäuschen sind.

Ich stoppe den Bus, starre auf das Plakat. Und plötzlich bewegen sich diese zwei Damen! Sie treten aus ihrem Werbehintergrund heraus und schauen mich an.
Ich öffne die Tür. Und prompt steigen diese beiden wunderschönen Frauen in meinen Bus.
Klasse!

Ja, wie die Hitze so mit einem spielen kann.

LG, Franklyn
 
Hallo BlueSky,

yeah! Ich danke Dir. Endlich 100!
Ja, ohne Klima ist das am Steuer bei solchen Temperaturen echt unerträglich.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

ahorn

Mitglied
Moin Rainer Zufall,

mir wird's ganz schummrig :eek:, grauenvoll, beängstigend.
Allerdings würde ich zumindest auf das erste 'UND' in
Ich stoppe den Bus, starre auf das Plakat. Und plötzlich bewegen sich diese zwei Damen! Sie treten aus ihrem Werbehintergrund heraus und schauen mich an.
Ich öffne die Tür. Und prompt steigen diese beiden wunderschönen Frauen in meinen Bus.
das vor 'plötzlich' verzichten, das zweite genügt als rhetorisches 'UND'. Außerdem kann man das 'plötzlich' in diesem Zusammenhang hervorragend durch ein: unverhofft, unerwartet oder unvermittelt austauschen.

Liebe Grüße
Ahorn
 
Moin Ahorn,

okay, ich und meine Satzanfänge mit 'und' ... ;) Aber ist Dir das 'plötzlich' zu gewöhnlich? Ich denke drüber nach.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 

Hans Dotterich

Mitglied
Rainer,

Wie aus einem Guss, dein Text! Ich fahre selbst gern mit dem ÖPNV und werde einmal darauf achten. Den meisten Fahrgäste in Bus und Bahn entgeht das. Sie schauen lieber aufs Smartphone.
Unds und Danns erscheinen auch bei mir oft am Satzanfang, obwohl ich mir dessen gar nicht bewusst bin. Plötzlichs hatte ich noch nicht. Gegen Abers verwende ich einen 38er.

Grüße

Hans
 

ahorn

Mitglied
Moin Rainer Zufall,

Aber ist Dir das 'plötzlich' zu gewöhnlich?
Nee, wat klöövst du?
Umgangssprachlich eben, eher ein Verbalausruf als ein Adverb, wie 'Oh Gott, oh Gott' oder 'hui'. :cool: Versuche es ein mal zu personalisieren.
Für mich plötzlich bewegten sich ... :eek:
dagegen
Für mich unerwartet / unverhofft / unvermittelt bewegten sich ... ;)
Es ist gewissermaßen der Klang, aber wenn du 'plötzlich' bevorzugt, gefällt es mir gleichfalls, denn es ist dein Stil, deine Sprache, welcher, welche allerdings nicht in Stein gemeißelt sein sollte.

Liebe Grüße
Ahorn
 
Hallo Hans,

meinst Du jetzt die Werbeplakate oder die reizvollen Fahrgäste, auf die Du mal achten willst? ;)

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 
Hallo Ahorn,

ja, okay, das ist ein Argument.
Aber in Stein gemeißelt ist hier gar nix. Dafür machen wir uns ja hier die Mühe, uns gegenseitig mit netten Vorschlägen zum Feinschliff zu versorgen.

Liebe Grüße,
Rainer Zufall
 



 
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