Hi Scal!
"hinfühlendes, fein zu-gestimmtes Wissen" klingt wirklich toll... nach etwas zu viel Lorbeer, müsste meine Bescheidenheit (?) wohl zugeben (vielleicht wäre Fenchel besser?), aber ich setz es mir auch so sehr gerne aufs Haupt!
Ansonsten hast Du recht: Dichter betreiben ganz gerne auch eine Art von Nabelschau oder - das Bild ist vielleicht freundlicher und differenzierter zugleich: Dichter geringerer Masse ordnen sich gerne auf komlexen Kreisbahnen um Gestirne, Systeme, Sternhaufen, Galaxien und Galaxiecluster an, ein großes intertexturelles Ballett. Der Meister Hölderlin ist da dann sicher schon ein ziemlich großformatiges Gravitationszentrum und ich geb hier eben so einen kurz mal vorbeihuschenden schmutzigen Schneeball mit kleinem Schweif. Wuschhhhh.... und weg isser...
Interessant übrigens Deine Gewichtung der Strophen, quasi der Mikrogravitationselemente in diesem Lyrikobjekt.

Du hast hier offenbar eine ganz von meiner Schwingung abweichende Meinung (wobei zu betonen ist, dass ein Autor nach meiner Ansicht keinerlei Meinungshoheit haben kann - eher sind seine Meta-Ergüsse zum Werk unter dem Vorbehalt der Voreingenommenheit und/oder Verblendung zu sehen). Diese Einschränkung mitbedenkend kann ich sagen, dass ich S3 als die sprachlich blasseste und irgendwie auch unpersönlichste Empfinde und sie nur durch die "Doch"-Einleitung überhaupt so viel Gravitas mitbekommt, dass sie (für mich) gerade so nicht aus dem Gedicht herauspurzelt. Demgegenüber empfind ich die S2 und S4 als stärker und somit als die eigentlichen Spannungspole des Sonetts (weshalb ich persönlich bei denen auch eher nicht so gerne grundhafte Änderungen vornehmen wollen würde). Aber wie gesagt - ich bin da wahrscheinlich zu nah dran und hab eigentlich gar keinen so richtigen Einblick in das, was ich da eigentlich zusammengewerkelt habe.
Und vielleicht noch zum Hintergrund: Hölderlin verlebte die letzten Lebensjahrzehnte ja geistig "umnachtet" in einer Pflegefamilie. Diese Zeit wird hier als die Zeit bedichtet, in der Hölderlin "vergessen hat", was wir "Vertrautes nennen".
Dabei gibt es ganz gute biographische Belege, wann Hölderlins Schritt in diese geistige Ver- oder Entrücktheit begann (die Gelehrten streiten sich, ob man es hier mit einer echten Schizophrenie zu tun hat bzw. ob der Versuch einer nachträglichen Diagnose überhaupt sinnig ist). Die große Krise, die dem "Wahnsinn" Hölderlins voraus ging, war der Tod seiner mehr oder weniger heimlich verehrten Susette Gontard (in seinen Gedichten als Diotima besungen). Ein Gedicht von Hölderlin über ihren Tod enthält das Fazit:
"Es waren schöne Tage. Aber / Traurige Dämmerung folgte nachher." Eine Vorwegnahme seines Wegs in die Umnachtung, in der er diese seltsam weltentrückte Lyrik verfasste, in der er eigenartig unbekümmert entlang der Grenzen zeitlicher Kohärenz und logischer Verknüpfung wandelte.
Jahrzehnte nach Susettes Tod kam Hölderlin noch einmal in einem Gespräch auf sie zurück und in schönem Schwäbisch urteilte er: "Närret ist se worda, närret, närret, närret!".
Folgt man dieser Logik der Umkehrung, hätte also nicht Hölderlin über Susettes Tod den Verstand verloren, sondern über ihrem "närrisch werden", fand der Dichter den Tod. Dies allerdings auf sehr beredte Weise und Hölderlins späte Gedichte gehören mit zum Fundus meiner liebsten Lyrik.
LG!
S.