Hölderlin

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sufnus

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Hölderlin (Sonett)

Ihm gab kein Abschied einen Trauerort,
das Glück trieb wortlos seine Schulden ein.
Was trägt die Seele ins Alleinesein,
die Überlebensreise, mit sich fort?

Er hatte die Geliebteste verloren,
vergaß davon, was wir Vertrautes nennen
und lernte, fremd zu sein, als Heimat kennen,
ein altes Kind, aus Traurigkeit geboren.

Doch wuchs ein Trost ihm in der weißen Weite
der Einsamkeit und seine scheuen Stunden
verwanderte er fern vom Hier und Heute,

hat wohl auch Stille für das Herz gefunden,
als wir noch standen dumm (und himmelweit)
vom Ufer der Geborgenheit.
 
Zuletzt bearbeitet:

Scal

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Hallo Sufnus,

manchmal, das ist gewissermaßen sehr naheliegend, schreiben Dichter gerne über Dichter. Zu Hölderlin zog und zieht es sie immer wieder mal hin.
Als Leser solcher Ertastungen sehe ich mich sogleich vor die Notwendigkeit gestellt, eine Entscheidung zu treffen: Welche der mir verfügbaren Kontexte will ich priorisieren, welchen will ich den Zugang verwehren und sie somit wegklammern.

Ich empfinde hier: das Instrument des hinfühlenden "Wissens um" ist sehr fein zu-gestimmt und das wird (für mich) auf ganz besondere Weise an der Strophe 3 ablesbar.
Ich fragte mich, ob in S1V3 auch ein "im" stimmig wäre und ob nicht in S4V3 und V4 vielleicht auch eine alternative Variante reizvoll wäre, z.B. in V4 "Wir sind nur Mitvergangenheit."

Lieben Gruß
Scal
 

sufnus

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Hi Scal!

"hinfühlendes, fein zu-gestimmtes Wissen" klingt wirklich toll... nach etwas zu viel Lorbeer, müsste meine Bescheidenheit (?) wohl zugeben (vielleicht wäre Fenchel besser?), aber ich setz es mir auch so sehr gerne aufs Haupt! :)

Ansonsten hast Du recht: Dichter betreiben ganz gerne auch eine Art von Nabelschau oder - das Bild ist vielleicht freundlicher und differenzierter zugleich: Dichter geringerer Masse ordnen sich gerne auf komlexen Kreisbahnen um Gestirne, Systeme, Sternhaufen, Galaxien und Galaxiecluster an, ein großes intertexturelles Ballett. Der Meister Hölderlin ist da dann sicher schon ein ziemlich großformatiges Gravitationszentrum und ich geb hier eben so einen kurz mal vorbeihuschenden schmutzigen Schneeball mit kleinem Schweif. Wuschhhhh.... und weg isser... :)

Interessant übrigens Deine Gewichtung der Strophen, quasi der Mikrogravitationselemente in diesem Lyrikobjekt. :) Du hast hier offenbar eine ganz von meiner Schwingung abweichende Meinung (wobei zu betonen ist, dass ein Autor nach meiner Ansicht keinerlei Meinungshoheit haben kann - eher sind seine Meta-Ergüsse zum Werk unter dem Vorbehalt der Voreingenommenheit und/oder Verblendung zu sehen). Diese Einschränkung mitbedenkend kann ich sagen, dass ich S3 als die sprachlich blasseste und irgendwie auch unpersönlichste Empfinde und sie nur durch die "Doch"-Einleitung überhaupt so viel Gravitas mitbekommt, dass sie (für mich) gerade so nicht aus dem Gedicht herauspurzelt. Demgegenüber empfind ich die S2 und S4 als stärker und somit als die eigentlichen Spannungspole des Sonetts (weshalb ich persönlich bei denen auch eher nicht so gerne grundhafte Änderungen vornehmen wollen würde). Aber wie gesagt - ich bin da wahrscheinlich zu nah dran und hab eigentlich gar keinen so richtigen Einblick in das, was ich da eigentlich zusammengewerkelt habe.

Und vielleicht noch zum Hintergrund: Hölderlin verlebte die letzten Lebensjahrzehnte ja geistig "umnachtet" in einer Pflegefamilie. Diese Zeit wird hier als die Zeit bedichtet, in der Hölderlin "vergessen hat", was wir "Vertrautes nennen".
Dabei gibt es ganz gute biographische Belege, wann Hölderlins Schritt in diese geistige Ver- oder Entrücktheit begann (die Gelehrten streiten sich, ob man es hier mit einer echten Schizophrenie zu tun hat bzw. ob der Versuch einer nachträglichen Diagnose überhaupt sinnig ist). Die große Krise, die dem "Wahnsinn" Hölderlins voraus ging, war der Tod seiner mehr oder weniger heimlich verehrten Susette Gontard (in seinen Gedichten als Diotima besungen). Ein Gedicht von Hölderlin über ihren Tod enthält das Fazit:
"Es waren schöne Tage. Aber / Traurige Dämmerung folgte nachher." Eine Vorwegnahme seines Wegs in die Umnachtung, in der er diese seltsam weltentrückte Lyrik verfasste, in der er eigenartig unbekümmert entlang der Grenzen zeitlicher Kohärenz und logischer Verknüpfung wandelte.

Jahrzehnte nach Susettes Tod kam Hölderlin noch einmal in einem Gespräch auf sie zurück und in schönem Schwäbisch urteilte er: "Närret ist se worda, närret, närret, närret!".
Folgt man dieser Logik der Umkehrung, hätte also nicht Hölderlin über Susettes Tod den Verstand verloren, sondern über ihrem "närrisch werden", fand der Dichter den Tod. Dies allerdings auf sehr beredte Weise und Hölderlins späte Gedichte gehören mit zum Fundus meiner liebsten Lyrik.

LG!

S.
 

Scal

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Der biographische Hintergrund, den ich halbwegs gut kenne, spielt natürlich ins Gedicht stark hinein; gut dass du einige Aspekte für andere Leser kurz erläuterst.
In der dritten Strophe "erblickte" ich den in seiner Stube hin- und hergehenden Dichter auf seiner Überlebensreise, und ja, diese Blickmöglichkeit hast du durch die Kombination von "weißer Weite" mit "scheuen Stunden" und "verwandern" - für mein Empfinden - auf eine recht schöne Weise "imaginatös" gefördert.
 

sufnus

Mitglied
Hey Scal!
Dacht mir schon, dass das Biographische Dir soweit klar war... hab es, wie Du schreibst, vor allem als Hintergrundinfo für andere Leser erwähnt.
Imagitanös gefällt mir... als Wertung für die S3, aber auch als Wort, das ist eigentlich auch so eine typische Wortbildung, die ich ganz gerne betreibe. :)
LG!
S.
 



 
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