Holzfäller Tim

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Holzfäller Tim

Holzfäller Tim geht in den Wald, um einen Baum zu fällen. Er holt die Axt heraus, setzt an und schlägt zu. Mit mehreren kräftigen Hieben schafft er eine Kerbe im Baum. Doch wie er den Stamm zur Hälfte durchtrennt hat, sieht er zu seiner Rechten eine Rauchfahne in den Himmel steigen. Holzfäller Tim hält erschrocken inne. Er schaut der Rauchfahne nach und versucht abzuschätzen, ob sie höher ragt als sein Baum. Er kann es nicht sagen.

Aus Angst, der umstürzende Baum könnte die Hütte treffen, der die Rauchfahne entstammt, beginnt er nun auf der gegenüberliegenden Seite des Stammes eine Kerbe zu schlagen. Holzfäller Tim ist geübt darin und so ruht der Baum bald nur noch auf der Spitze eines dünnen Keils. Bevor er mit der Axt zum Gnadenstoß ausholt, blickt Holzfäller Tim sich noch einmal um und bewundert die volltane Arbeit. Dabei durchfährt ihn zum zweiten Mal ein Schock. Das Blumenfeld, das in neuer Baumfallrichtung wächst, ist eigentlich eine Gruppe von Schulkindern mit bunten Jacken und Rucksäcken. Das Geschrei und Getobe der Kinder ist ihm gar nicht aufgefallen.

Was nun? Eine schnelle Entscheidung ist gefragt. Wie jeder Holzfäller weiß, kann Holzfäller Tim den Baum nicht nach Osten fällen, denn das bringt Unglück. Man erschlägt damit die Sonne. Im Norden das Haus, im Süden die Kinder, also bleibt nur noch der Westen. Flugs macht Holzfäller Tim sich ans Werk und verbindet die ersten beiden Kerben mit einer Dritten. Die große Fichte schwankt im Wind, jetzt wo sie nur noch auf der Fläche eines umgefallenen Streichholzes steht. Doch die Zweifel in Holzfäller Tim sind zu groß. Hat er diesmal wirklich nichts übersehen? Er steckt die Axt ein und überlässt den größten Baum des Waldes sich selbst.

Holzfäller Tim ist kein Holzfäller, genauso wenig wie der Verfasser dieser Geschichte ein Autor ist.
 

Aniella

Mitglied
Hallo @Eugen van Anders,

herzlich willkommen in der LL. :cool:

Autor ist der Verfasser schon. :)
Der Text liest sich von der Wortwahl ein wenig wie ein Märchen. Am Ende fehlt mir dabei dann die Lehre, die ich daraus ziehen könnte, weil im Grunde hat Tim ja die Aufgabe nicht gelöst, weil er sich nicht entscheiden konnte. Er bleibt mir zu weit weg, ich kann nicht mit ihm mitfühlen, es wird halt lediglich erzählt, was passiert.
Witzigerweise dachte ich nach dem ersten Absatz, dass jetzt ein Waldbrand auf ihn zukommt und hoffte auf Dramatik. Die Erklärung mit der Hütte war mir dann fast zu lapidar. Alles im Präsens, da erwartet man irgendwie mehr. Obwohl ja seine Flucht am Ende durchaus bedeuten könnte, dass kurz danach ein Unglück geschehen könnte und der Baum nicht einfach nur belanglos umfällt.
Kann sein, dass ich da nicht genug zwischen den Zeilen lese, aber das ist mein erster Eindruck hier.

LG Aniella
 
Hallo @Aniella,
vielen lieben Dank für die Rückmeldung!
Die von mir beabsichtigte "Lehre" betrifft Identität und Fremdwahrnehmung: Nur weil einer eine Axt besitzt, macht ihn das noch lange nicht zum Holzfäller, wohl aber zu einer Gefahr für seine Umwelt. Tim soll am Anfang als offensichtlich kompetent dargestellt und vom Leser akzeptiert werden, bevor er dann im Lauf der Geschichte als unbedacht und fahrlässig enthüllt wird. Idealerweise realisiert der Leser, dass er sich von der bloßen Bezeichnung Tims als "Holzfäller" hat blenden lassen - aber da bin ich vielleicht selbst etwas wie Tim, was die Einschätzung meiner Schreibkünste angeht.
SlG Eugen
 

Matula

Mitglied
Guten Abend @Eugen van Anders ,
das ist eine sehr hübsche kleine Geschichte mit einem überraschend komischen Ende! Ich vermute ja, dass dem Nicht-Holzfäller Tim am Ende die Schneid fehlt, sein brutales Werk zu Ende zu bringen.

Schöne Grüße,
Matula
 

steyrer

Mitglied
Hallo Eugen van Anders,

ich habe eine kurze Frage zum Schlusssatz: Spricht hier noch der Erzähler in der dritten Person von sich oder ist es ein Kommentar von jemand anderem?

steyrer
 
Hallo @steyrer,
im Schlussatz spricht immer noch der Erzähler. Er spricht aber nicht über sich selbts, sondern über den Verfasser der Geschichte, also die Erzählinstanz, die noch über dem Erzähler liegt und diesen geschaffen hat. Soweit zumindest meine Intention.
SlG Eugen
 

steyrer

Mitglied
Also Metafiktion? Ich denke, dass Irritationen und Missverständnisse hier weniger mit deinen Schreibkünsten zu tun haben als mit den Erwartungen der Leser.

steyrer
 



 
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