Hundsgift

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sufnus

Mitglied
Hundsgift

Im Dorfgrund blüht der Oleander tief
wie Träume, die kein Menschenauge sieht.
Die Dummheit ist zum Hirn hin permissiv,
ein Grabstein warnt dich: Achtung, Herzgebiet.

Im Dorfgrund schläft der Oleander wohl
so weiß wie keiner Seele letztes Glück.
Wir kosten gern vom süßen Vitriol
und bleiben froh im Dämmerlicht zurück.

Der Oleander ging im Winter ein
vom Wirtshauslärm, der durch die Straßen weht.
Ein Regen wäscht die Dorfhauptstraße rein
und wartet plätschernd, ob der Wind sich dreht.
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo sufnus,

wer wie ich auf dem Dorf aufgewachsen ist, den spricht dieses Gedicht sofort an.
Wenn man dann im Alter immer wieder mal im alten Dorf vorbeischaut, muss man mit Erschrecken feststellen, dass sich der Wind nicht gedreht hat. Er wird es nie tun!

Liebe Grüße
Manfred
 

sufnus

Mitglied
Lieber Manfred!
Das ist wirklich schön (dass Dich das Gedicht anspricht und Du damit Schwingungen aus dem dörflichen Biotop aufnehmen kannst)!
Dass die dörfliche Enge so wirksam ist, dass der Wind sich niemals (zum besseren) drehen wird, wie Du prognostizierst, ist natürlich nicht so schön. Ein bisschen fürchte ich das auch.
Und natürlich sei allen, die in einem Dorf leben und es dort eigentlich ganz schön finden, gesagt, dass ich mit den Zeilen nicht den Dorf-Hasser im Allgemeinen markieren will ;) - es geht um eine spezifische Facette von kurzsichtiger Unoffenheit, die man mit Döfern der weniger schönen Art verbinden könnte (ohne die positiveren Gegenbeispiele in den gleichen Topf schmeißen zu wollen).
Und natürlich kann man solchen Zeilen sehr gut auch kritische "urbane" Gedichte ergänzend an die Seite stellen.
Ich würde also "das Dorf" am Ende des Tags mehr als Metapher verstehen wollen und man könnte so ein ungutes metaphorisches Dorf wohl auch in Köln, Hamburg, Leipzig oder Berlin finden. :)
LG!
S.
P.S.:
Und danke in die Runde für die Sterne! Natürlich auch an die Fee! :)
 

Tula

Mitglied
Moin sufnus
Ich sehe, du bist jetzt gern etwas toxisch ;)
Letzten Endes sind wir wohl alle ein bisschen Dorfler, in sozialer Hinsicht: die Familie, Freunde, Kollegen ... dieser Kreis ist mitunter heute noch enger als früher. Und soziale Medien ersetzen den Dorfkrug, wie vor allem an gewissen politischen Diskussionen in Literaturforen sofort erkenntlich wird :rolleyes:

Einzige literarische Kritik hier: die Reime der ersten Strophe liegen alle auf 'ie'. Vielleicht war es ja auch Absicht.

LG
Tula
 

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Mitglied
Die Wahl deiner Titel in Bezug zum Inhalt finde ich immer höchst spannend und ansprechend, lieber sufnus!

Inzwischen weiß ich schon, dass ich auch immer etwas Cooles dazulerne, wenn ich auf den Spuren deiner Texte mich googelnd weiterbilde. Und die verhinderte Biologin in mir kriegst du mit solchen Appetithappen immer ;)

Ich persönlich bin zwar keine Freundin des Oleanders, dafür aber des "selbst-gewählten Dorflebens" - auch, wenn ich natürlich weiß, auf welche Sorte "Dorf-Mentalität" dein Text abzielt. Letztens habe ich irgendwo im deutschen TV jemanden auf die Frage, welches Land, das er auf seiner längeren Reise mit seinem Mann besucht hat, aus seiner Sicht am wenigsten aufgeschlossen gegenüber einem reisenden Männerpärchen war, ohne lange zu zögern antworten hören: "Österreich". Und ich weiß, was er meint. Ich bin nicht auf dem Dorf aufgewachsen, sondern ein Stadtkind, habe aber immer sämtliche Sommer "auf dem Land" verbracht und hatte dort eine Freundin mit unehelichem Kind. Man sollte meinen, das wäre schon lange kein Thema mehr...tja, denkste! Und auch in der Corona-Pandemie haben sich etliche Bundesländer nicht gerade durch Aufgeschlossenheit gegenüber Wissenschaft und Forschung (oder durch Weit- und Umsichtigkeit) hervorgetan...

Insofern finde ich den Begriff "Dorfgrund" gerade zu aufregend perfekt gewählt. Da ensteht schon so eine "Senke" im Kopf, in der dann eben auch die Luft steht und nichts in Bewegung kommt.

Im Dorfgrund blüht der Oleander tief
wie Träume, die kein Menschenauge sieht.
Was für ein Opener! Das malt sofort ein Bild von trügerischem Dorffrieden, der hinter blühenden Fassaden nur bestehen kann, weil keiner tief unter die Oberfläche schürfen mag. Alles soll so bleiben, wie es ist. Änderung - egal, wie nötig - bedeutet eben für viele immer noch eine Form von Bedrohung, denn sie erfordert das Loslassen alter Werte und Betreten neuen Denk-Terrains. Solcher Unsicherheit setzt man sich nicht aus, solange man selbst keinen Leidensdruck verspürt und die eigene Bequemlichkeit nicht bedroht ist...

Dass Hundsgift nicht nur für den Menschen toxisch ist, sondern auch - in passender Dosis - gegen Herzleiden eingesetzt wird, wusste ich bis dato nicht, bin aber natürlich deinem Wegweiser des Titels gefolgt und habe nachgeschlagen. Diese zweite Ebene "unter" dem Text, die das Thema quasi "als Natur der Dinge" wiederholt, ist schon genial! Da rätsle ich öfters bei deinen Texten, was zuerst da war und den Anstoß gegeben hat für das Gedicht...

Auf jeden Fall wieder hervorragend "verwoben" und verwortet! Gernst gelesen!

LG,
fee
 

sufnus

Mitglied
Hey Tula & Fee,

ich hab mich sehr über Eure Kommentare gefreut! Dankeschön! :)
Zunächst zu Deinem formalen Kommentar mit den vokalisch so ähnlichen Reimen in der ersten Strophe: Da muss ich tatsächlich nochmal drüber nachdenken, ob das womöglich als Effekt etwas zu dick ist oder ob es eigentlich ganz gut passt... mir erschien es auf anhieb ganz ok, aber mit durch Deine Anmerkung neu gespitztem Ohr bin ich jetzt ein wenig unsicher. Ich lass es mal sacken und hör dann nochmal drauf. :)
Ansonsten liegt Dein Hinweis, lieber Tula, dass dieses "Dorf" womöglich auch in nicht primavista dörflichen Ambienten des realen oder virtuellen Lebens angesiedelt sein kann, ganz auf meiner Linie! :) Ich bin sicher kein urbaner Dorfverächter sondern da ziemlich ambivalent.

Und Fee, Du hast ja wirklich großartig meine Gedankengänge nachvollzogen! Die Mehrdeutigkeit der in der Natur vorkommenden Herglykoside, einerseits sehr wirksame Gifte, andererseits - zumindest in früheren Zeiten - auch segensreich anwendbar, stand am Anfang des Gedichts. Dieser Text ist dabei tatsächlich viel "verkopfter", will sagen: geplanter, als der Conotoxin-Text, der eher per automatischem Schreiben entstanden ist (aber den "toxikologischen" Impuls generiert hat).
Anfänglich bin ich hierbei übrigens beim Maiglöckchen losmarschiert und das hat mich dann auf die Vokabel "Dorfgrund" gebracht, die Dich so erfreut hat (was mich wiederum sehr freut! :) ) - ein Bild von Maiglöckchen in einem stillen Tal.
Weil mir das Maiglöckchen aber weder metrisch noch vom "Neuigkeitswert" so richtig gepasst hat, bin ich dann zum Oleander weitergezogen. Nur der Dorfgrund ist geblieben. :)
Soweit der Blick in die Werkstatt. Du hast das Puzzle schon wirklich cool erkannt! :)

LG!
S.
 



 
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