Ich schau auf dein trostloses Leben

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Mistralgitter

Mitglied
verkürzte Version vom 08.12.2020

eine ausrangierte Schaufensterpuppe
Unterhaltung genug für dich

an ihrem Knie ein Pflaster
Kratzer an den Armen
sogar im Gesicht
schön sieht sie nicht aus
eher verrucht

heute ein trauriger Tanz mit ihr
sie kann sich nicht wehren
du weinst



Ursprungstext

auf deinem Dachboden
lag eine ausrangierte Schaufensterpuppe
im Frühjahr
hattest du sie mitgenommen
zu deiner Unterhaltung
aus Trotz
sagtest du mir
es sei genug

das Pflaster an ihrem Knie fällt kaum auf
Kratzer an Armen und im Gesicht machen sie interessant
schön sieht sie nicht aus
denke ich
eher verrucht

im Herbst hast du ein bisschen Wein getrunken
hast ihr zugeprostet
bevor sich eine Fliege auf dem Weinglasrand verirrte
und dann gegen die fast blinde Fensterscheibe flog
dort spaziert sie immer noch sinnlos umher
obwohl es längst Winter ist
er hat dich eingeholt

heute stellst du sie auf ihre Füße
und tanzt mit ihr
wie noch nie
sie wackelt mit dem Kopf
die Arme schlackern hölzern im Takt deiner Bewegungen
ihr Hütchen verrutscht auf der Perücke
sie kann sich nicht wehren

ich seh alles von weitem:
ein trauriger Tanz
er gefällt dir auch nicht
du weinst
ich habe gewusst
dass du nicht glücklich werden würdest
 
Zuletzt bearbeitet:

Mistralgitter

Mitglied
Ji Rina, du schriebst doch, dass du den letzten Absatz nicht so sehr leiden kannst. und darauf meine Antwort: Das kann ich dir nachfühlen. Also: Ich bin mit dir einer Meinung. Der letzte Absatz kann einem nicht gefallen ;-)
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

Ich stimme Ji Rina zu, und versuche es mit meinen eigenen Maßstäben zu begründen. Der letzte Absatz nimmt dem Leser sein Geschäft, nämlich die Lücken selbst mit seiner Fantasie zu füllen, das Beschriebene selbst zu bewerten. So aber ist das Feld enger geworden; es bleibt nur noch Zustimmung oder Ablehnung; das suche ich im Gedicht zu vermeiden.

Zusätzlich würde ich noch den "Trotz" streichen, aus demselben Grund, und den Halbsatz mit dem "auf die Füße stellen". Da gefielen mir das Tanzen direkt besser.

Du transportiert die Stimmung sehr schön. Aber manchmal ist es mir zu genau, zu direktiv, und im Satzaufbau zu wenig überraschend und abwechslungsreich.
Das erscheint mir bei den Prosagedichten im Unterschied zur Prosa wichtig.

Gruß Lé.
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo Ji Rina und L' étranger,

irgendwas ist grundlegend falsch. Ich bin mir nur noch nicht im Klaren, was es ist und wie ich am besten darauf reagiere, ohne den Text zu "erklären".
So viel jedenfalls: Das LyrIch ist ein Außenbeobachter und zieht seine Schlüsse, für sich.

"Ich seh alles von weitem"

Und wieso soll der Trotz gestrichen werden? Das ist die Erklärung des LyrIch für den Erwerb der Puppe, nicht eine Bewertung des LyrDu. Nicht " du hast aus Trotz gehandelt", sondern "ich hab die Puppe aus Trotz erworben".

Ich denke, der Text enthält mehr als genug Leerstellen, um die sich der Leser bemühen muss. Es ist überhaupt nichts erklärt, fordert keine Zusatimmung oder Ablehnung, sondern muss mit den wenigen Informationen auskommen, um zu einer "Geschichte" zu kommen. Aber geht es wirklich um eine Geschichte?

Viele Grüße
Mistralgitter
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

grundsätzlich ist das ja nichts schlimmes, wenn man unterschiedliche Schreibansätze verfolgt.

Dennoch noch mal kurz zu meinem Empfinden und meinem Ansatz.
Klar, das LI erklärt sich selbst, was es beobachtet - du hast das unzweideutig so geschrieben. Dennoch fühle ich mich als Leser immer angesprochen, erstens vom LI, zweitens von der Geschichte, die das LI erzählt (es ist unzweifelhaft eine Geschichte).
Die Perspektive des LI das sich die Welt erklärt, würde für mich gut in einen Roman passen, aber im Gedicht mag ich es nicht. Aber das ist ja nur meine Vorliebe und meine Erwartungshaltung.

Gruß Lé.
 

Mistralgitter

Mitglied
Wäre das nach eurem Geschmack?

auf deinem Dachboden eine ausrangierte Schaufensterpuppe
seit dem Frühjahr
Unterhaltung genug

ein Pflaster an ihrem Knie
Kratzer an Armen und im Gesicht
schön sieht sie nicht aus
eher verrucht

im Herbst ein bisschen Wein
eine Fliege auf dem Glasrand
doch dann Winter
er hat dich eingeholt

heute ein trauriger Tanz mit ihr
sie kann sich nicht wehren
du weinst
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

Puh, jetzt hast nicht nur die Deutungen des LI weggenommen, sondern sehr viel von deiner Prosa. So wäre es auf jeden Fall ein gutes Gedicht im freien Vers, viel dichter.

Ich möchte trotzdem noch kurz veranschaulichen, wie ich es gemeint hatte, viel weniger radikal:

auf deinem Dachboden
lag eine ausrangierte Schaufensterpuppe
im Frühjahr
hattest du sie mitgenommen
zu deiner Unterhaltung
es sei genug
sagtest du mir

das Pflaster an ihrem Knie fällt kaum auf
Kratzer an Armen und im Gesicht machen sie interessant
schön sieht sie nicht aus
eher verrucht

im Herbst hast du ein bisschen Wein getrunken
hast ihr zugeprostet
bevor sich eine Fliege auf dem Weinglasrand verirrte
und dann gegen die fast blinde Fensterscheibe flog
dort spaziert sie immer noch sinnlos umher
obwohl es längst Winter ist
er hat dich eingeholt

heute tanzt mit ihr
wie noch nie
sie wackelt mit dem Kopf
die Arme schlackern hölzern im Takt deiner Bewegungen
ihr Hütchen verrutscht auf der Perücke
sie kann sich nicht wehren
du weinst


Ich finde es bewundernswert, wie offen du für Anregungen bist. Nun schreib es so, wie es dir nach der Diskussion am besten gefällt.

Gruß Lé.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Mistralgitter,
Ich bereue es ein wenig, meinen Senf hier abgegeben zu haben, wo ich doch selbst keine Gedichte schreibe.
Nochzumal alle anderen Bewerter nichts auszusetzen hatten.
Aber ich teile voll und ganz Lés Meinung. Auch seine Meinung zu Deiner zweiten Version. Ich glaube, er hat nur den letzten Teil anders formuliert.
Das gefällt mir ausgesprochen gut, da es "offener" ist und wie Lé so exakt formuliert hat, es nimmt dem Leser nicht den Raum für seine eigenen Empfindungen.
Gruzzlis, Ji
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo L'é und Hallo Ji,

ich bin schon sehr froh und auch dankbar, dass ihr eure Eindrücke zu meinem Text geschrieben habt - und sie beschäftigen mich natürlich.
Ich bin die letzte, die glaubt, mit ihren Texten den "Stein der Weisen" erfunden zu haben. Die meisten meiner "Elaborate" werden auch von mir immer wieder einer kritischen Durchsicht unterzogen. Immer wieder finde ich Textstellen, die ich nach einer gewissen Zeit anders, "besser" machen könnte.

Mir kommt es in diesem akuten Fall so vor, dass hier ganz unterschiedliche Erwartungen an den Text gestellt werden. Ich vermute mal, dass er nicht verdichtet genug daherkommt, um als "Lyrik" bezeichnet zu werden. Mein hemdsärmeliger, nicht ganz ernst zu nehmender Kürzungsversuch ist ein Hinweis darauf, dass ich die Kritik so verstanden hab. Vor allem scheint es nicht erwünscht zu sein, dass Hinweise in dem Text vorkommen, die auf eine Bewertung oder Deutung der Handlung hinweisen könnten. ("Trotz" oder auch die letzten beiden Zeilen). Darf Lyrik so etwas nicht? Schließlich kommendiese beiden "Bewertungen" nicht von außen, dem Autor, sondern von den handelnden Personen. Sind also nicht irgendeine Quintessenz, sondern charaktersierne die Personen, indem ihre Haltung bezeichnet wird. Soll der Leser darauf selber kommen? Dazu müsste es im Text Hinweise geben, die aber fehlen.

Nun stand ich aber selber grundsätzlich vor dem Dilemma "Wohin gehört eigentlich dieser Text?", als ich ihn hier in der LL einstellen wollte. Er ist keine "richtige" Lyrik, er ist aber auch keine Kurzprosa, was ich zuerst dachte. Denn die Zeilenumbrüche stehen dieser Einordnung im Wege. Aber den Text ohne diese Umbrüche konnte ich mir nicht vorstellen. So, und nun?
Soll ich nun daraus einen eindeutigen Prosatext machen - Kurzgeschichte bis hin zum Roman? Oder einen eindeutigen Lyriktext bis hin zum Haiku? Oder lösch ich ihn, weil er nirgendwo hinpasst? Weil er letztlich handwerkliche Fehler hat? Und sind es handwerkliche Fehler, dass der "Trotz" vorkommt und dass es die beiden letzten Zeilen gibt? Oder ist alles nur Geschmackssache?

So, jetzt seid ihr, die Leser, dran.

Viele Grüße
Mistralgitter
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Mistralgitter,

du hast 100% Recht, es geht um Erwartungshaltungen, bzw. um verschiedene Anschauungen darüber, was gute Gedichte tun, und was nicht. Meiner Ansicht nach ist wenig davon allgemeingültig und unverrückbar.

Ein Gedicht ist etwas, das Verse aufzeigt - das ist der fürchterlich simple Befund nach tausenden Jahren von Lyrik. Ebenso lang streitet man sich darüber, was ein gutes Gedicht ist - und die Moden und Anschauungen wechseln. Manchmal stehn sich die verschiedenen Anschauungen und Maßstäbe auch ziemlich unversöhnlich gegenüber, auch hier im Forum.

Für mich ist das, was ich anmerkte, tatsächlich ei n wichtiges Kriterium: ich finde, sie sollen dem Leser die Freiheit lassen, vom Text angeregt, seinen eigenen Assoziationen, Erinnerungen, Gefühlen, Gedanken und Wertungen nachzugehen,
sie sollen eine zeitgemäße Sprache verwenden
sie sollen sich nicht mit Klischees und überflüssigen Schmuck behängen....

Ob Prosa, freier Vers, Metrik, Versfuß oder Reim - das ist mir persönlich gleich. Ich versuche mich in der Vielfalt.



Gruß Lé.
 



 
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