Ich steh im Wind und denke: Herbst. - Sonett vierhebig

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Walther

Mitglied
Ich steh im Wind und denke: Herbst.
Und schwenke eine weiße Fahne
Weil ich schon von dem Ende ahne:
Erst Herbst, dann Winter. Sterbst. Verderbst.

Die Vögel übten Karawane.
Der Süden rief. Der Wein wird herb.
Und wenn ich alle Tode sterb,
Dann nur mit Zwetschgendatschi Sahne.

Die Wespe hungert, knabbert Schinken.
Ich seh die Morgennebel sinken
Und Tempos in den Taschen schwellen,

Und riech die Güllefahrten stinken
Und schreib Vergleiche, die recht hinken,
Aus Zwang, den Herbst mir zu vergällen.
 

wüstenrose

Mitglied
Hallo Walther,
dein Gedicht hat mich angelacht, an die Hand genommen und mich zu folgender Variante geführt:

Ich steh im Wind und denke: Herbst.
Und schwenke eine weiße Fahne,
Weil ich schon von dem Ende ahne:
Erst Herbst, dann Winter. Sterbst. Verderbst.

Die Vögel üben Karawane.
Der Süden ruft. Der Wein wird herb.
Und wenn ich alle Tode sterb,
Dann nur mit Zwetschgendatschi Sahne.

Die Wespe hungert, knabbert Schinken.
Im Zelt beginnt das ernste Trinken,
Wir feiern fröhliche Verschwendung.

Und hier ein Lachen, da ein Winken,
Ein Bitten, Balzen, Blitzen, Blinken
Und (wie vermutet) – eine Wendung.


lg wüstenrose
 

Walther

Mitglied
Hallo Wüstenrose,

das ist eine sehr gelungen fortentwicklung, ohne jede frage. allerdings hat sie meinem ursprungstext die ironie und den sarkasmus ausgetrieben, der der grund war, es zu schreiben.

wollen wir es einfach als eigenen text danebenstehen lassen? danke: für lesen, weiterdenken, notieren und vorstellen!

lg W.
 

wüstenrose

Mitglied
Ja, Walther, ich hab mich dann gedanklich irgendwann von deinen Zeilen gelöst und dann hat es mir Spaß gemacht, einen eigenen Schluss zu finden. Deinen "Zwetschgendatschi-Sahne-Trotz" konnte ich irgendwie besonders gut nachvollziehen, der gefällt mir!

lg wüstenrose
 

Zirkon

Mitglied
selbstironisch schrieb der Dichter. Ich mag es, auch wenn sterbst, verderbst zum Reim gestrickt, nicht ironisch ist.
Stoße mich als alter Klassiker immer noch an 4 hebigen Sonetten, aber naja, es ist ja modern.
Liebe Grüße Zirkon
 

Walther

Mitglied
Hi Zirkon,

danke fürs lesen, kritisieren etc.

natürlich ist sterbst - verderbst ist streng genommen heute falsch. heute hieße es "stirbst - verdirbst". das memento mori sonett aber ist eine erfindung des barock. zu dieser zeit sprach und man schrieb man da so. es ist, deutlich gesagt, nicht reimgeschuldet, sondern absicht. aber vielleicht verlange ich zu viel vertrauen in meine sprachfertigkeit.

das sonett ist vierhebig. ja und? auch das war absicht. ich bin mit den vierhebigen jamben ebensowenig der erste, noch bin/war ich das mit den ungereimten sonetten, die ich hier gepostet habe. einfach mal die meister lesen, auch die jüngeren, und Opitz und Schlegel ebenso in den schrank hängen wie herrn Klopstock.

aber, ich sehe es ein, das ist nun echt und wirklich zu viel verlangt. so sei es.

lg W,
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Die schinkenhungrige Wespe, Walther,

fand ich besonders spannend. Es braucht ja einen sinnlichen Einschlag als Kontrapunkt zur (sonst eher) besinnlichen Betrachtung des Sonetts, und die Herbst-Herbigkeit wird fast schmerzhaft verdichtet.

grusz, hansz
 

Walther

Mitglied
Hallo Hansz,

danke fürs thematisieren. die wespen sind jetzt sehr hungrig, weil sie nichts mehr finden. daher bevölkern sie jetzt bäckerei und metzgerei. und wollen gerne mitessen, wenn man draußen seine malzeit einnimmt. natürlich ist dieser gegensatz gekoppelt an den zwetschgendatschi, den sie übrigens ebenfalls lieben (aber den schinken mehr, wenn man ihnen die wahl gäbe).

das mit den wertungen wird mir ein rätsel bleiben. :) auf der lesung am freitagabend hatte dieses gedicht den größten beifall. aber gut, so sei es!

lg W.
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Grüß dich Walther,

die weiße Fahne zu Beginn ist schon schwergewichtig, aber dir gelingt es mit dem Vergällen des Herbstes gegenzuhalten. Anfangs schien mir besser, des Todes angesichtig, sich fatalistisch und auch ein wenig erhaben zu ergeben. Falsch! Zwar sinkt der Nebel, aber der Held hat (ironischerweise?) noch Kraft, der Todessieg ist noch lange nicht gewiss!
Wunderbar die Alltagsminiaturen schwellende Tempos, stinkende Güllefahrten - das Gedicht erhält Leichtigkeit und verabschiedet sich nicht im Dunklen, denn es hat noch was Leckeres vorrätig!

Mehr Reimvariabilität hätte mir gefallen; der Kadenztausch von S1 nach S2 beschränkt (oder verhindert sogar) ein rhythmisches Leiern, was schon durch die Vierhebigkeit angestoßen wird. Dieser Umstand hätte vielleicht sogar im unteren Teil einen Trochäenwechsel erlaubt ... bin mir aber nicht sicher!

Dein Gedicht hat mir Freude bereitet. Mein Herbstempfinden ist dann doch häufig ganz anders - wie hier zu sehen!

Schönen Gruß von
Dyrk


P.S. Meine Bewertung ist wg. zweier Unterbewertungen gestrichen worden. Tut mir leid ...
 
G

Gelöschtes Mitglied 20370

Gast
Mein Herbstempfinden ist dann doch häufig ganz anders - wie hier zu sehen!

Das bezog sich nicht auf den thread, sondern auf ein Herbstgedicht von mir.
Es ist nicht angenommen und deshalb von mir wieder gelöscht worden! Pardon ...
 

Walther

Mitglied
Hi Dyrk,

danke für deine kenntnisreichen überlegungen. dichten, sage ich immer, soll zweimal spaß machen: dem, der schreibt, und dem, der liest. bei herbstgedichten gilt diese aufforderung doppelt, auch wenn ich selbst manchmal :D dagegen verstoße.

späße dieser art haben meist ein paar schwächen. sie sollen in erster linie das lächeln erzeugen. fröhlichkeit erlaubt auch beim vortrag mittel, die man bei ernsteren werken besser unterläßt. gedichte, vor allem formgedichte, sollte man fürs deklamieren schreiben, nicht fürs leise lesen. bei diesem sonett habe ich das selbst ausgeprägt festgestellt. auf der lesung war es der gag. hier, naja. aber ich denke, daß darf so sein.

lg W.
 



 
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