Ruedipferd
Mitglied
1.Teil
Wie werden wir Junge oder Mädchen?
Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind wieder ein Kind im Alter von drei bis vier Jahren. Die Welt um Sie herum erscheint Ihnen bunt, sehr verwirrend und Erwachsene sind im Gegensatz zu Ihnen, Riesen. Sie unterscheiden Ihre Eltern von den übrigen Verwandten und von ganz fremden Menschen. Auch die eine oder andere Kindergartentante haben Sie schon kennen gelernt. Man spricht Sie mit einem Namen an. Sie spüren Ihr eigenes Ich und von den anderen Menschen erfahren Sie viel über sich selbst, Schönes und manchmal weniger Schönes: „Was bist du nur für ein hübsches kleines Mädchen!“ Oder: „Martin, du ungezogener Junge, stell die Schüssel hin und lauf nicht ständig weg!“
Sie analysieren die Aussagen. Dass Sie im Gegensatz zu den Großen klein sind, haben Sie bereits bemerkt. Aber hübsch sein, das hört sich nett an. Ungezogen weniger. Doch was ist eigentlich mit Mädchen und Junge gemeint?, fragen Sie sich überrascht. Unbewusst beginnen Sie Vergleiche zu ziehen. Sie sehen Ihre Mutter an, denken, ja, so bin ich auch. Oder, Sie begleiten Ihren Vater und merken, der ist wie Sie. Ihr Fazit: Ihre Mutter ist eine Frau, Sie ein Kind, deshalb müssen Sie ein Mädchen sein. Anders herum: Ihr Vater ist ein Mann und Sie sind in der logischen Folge ein Junge. Dabei stellen Sie fest: Die Welt um Sie herum wird viel klarer und Sie blicken immer mehr durch.
Aber was passiert mit Ihnen, wenn Sie sich mit Ihrem Vater identifizieren und somit eigentlich ein Junge sind, die Erwachsenen, allen voran Ihre Eltern, Sie jedoch wie ein Mädchen behandeln? Umgekehrt sehen Sie sich wie Ihre Mutter, sind deshalb ein Mädchen und werden von den Großen ständig für einen Jungen gehalten. Mit all den Konsequenzen, die das für ein so kleines Wesen wie Sie es sind, hat. Angefangen mit dem Vornamen, gefolgt von der Kleidung, den Spielsachen und der Entscheidung, in welche Dusche oder Umkleidekabine Sie im Schwimmbad gehen dürfen. Die Toilette nimmt ebenfalls einen bedeutsamen Platz in Ihrem Leben ein, sobald Sie sich von Ihren Windeln verabschiedet haben.
Wenn Sie also ein solches Kind sind, herzlichen Glückwunsch. Sie haben die Arschkarte gezogen. Die Welt um Sie herum wird keinesfalls klarer, je älter Sie werden. Nein, sie wird noch verwirrender. Sie stehen von morgens bis abends neben sich. Die Erwachsenen, denen Sie verzweifelt versuchen, klarzumachen, dass diese mit ihrer Geschlechtszuweisung bei Ihnen völlig auf dem Holzweg sind, ignorieren Ihre vernünftigen Einwände. Für andere Menschen zählt nur das biologische Geschlecht und das ist bei Ihnen nun mal weiblich oder männlich und steht ganz im Gegensatz zu Ihrer eigenen Wahrnehmung.
Es hilft nichts. Sie müssen die Kleidung tragen, die Ihre Eltern Ihnen geben. Wenn Sie als gefühlter Junge Glück haben, dürfen Sie mal eine Hose anziehen. Vielleicht bekommen Sie sogar das gewünschte Auto oder die heißersehnte elektrische Eisenbahn. Aber als gefühltes Mädchen werden Sie Ihre Eltern mit der Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent vergeblich darum bitten, Ihnen ebenfalls ein so hübsches Kleidchen anzuziehen, wie es Ihre Schwester trägt.
Sie sind ein Mädchen, das sich mit einem Jungenkörper herumschleppen muss. Oder sie sind ein Junge, der in einem Mädchenkörper gefangen gehalten wird. Nichts passt. Psyche, eigenes Gefühl und Erleben und das äußere biologische Geschlecht klaffen kilometerweit auseinander. Sie fangen an zu glauben, das wächst sich alles noch hin. Sie erzählen Ihren Eltern immer wieder, dass Sie anders sind als die anderen Kinder. Wenn Sie Glück haben, hören die Ihnen irgendwann zu. Und wenn Sie noch größeres Glück haben, werden Sie einem Arzt vorgestellt, der das Dilemma erkennt, in dem Sie stecken.
Nun brauchen Sie nur noch beharrlich zu wiederholen, dass Sie kein Mädchen beziehungsweise Junge sind, sondern im gegenteiligen Geschlecht gefangen gehalten werden. Lassen Sie sich dabei nicht durch die Großen beirren. Sie haben es erst einmal geschafft, zumindest für den Anfang. Man wird Sie als geschlechtlich gestört, transsexuell, transidentisch oder als alles Mögliche andere bezeichnen. Das soll Sie aber nicht weiter stören. Es ist nur wichtig, dass man Ihnen erlaubt im selbst erlebten Geschlecht aufzutreten. Ihre Körperlichkeit rutscht damit vorerst in den Hintergrund. Inzwischen gibt es Medikamente, die die Pubertät solange unterdrücken, bis Sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Mit spätestens achtzehn Jahren entscheiden Sie über die Einnahme gegengeschlechtlicher Hormone und operative Maßnahmen selbst.
Kinderzeit- glückliche Zeit?
Ich hatte furchtbare Bauchschmerzen. Nach vorn gebeugt und stöhnend schleppte ich mich zur Toilette. Die Hände drückten auf den verkrampften Unterleib. Irgendwie schaffte ich es, mir den Hosen auszuziehen und mich auf die Klobrille zu setzen. „Oh!“ Der Atem kam nur stoßweise. Solche Schmerzen waren mir in meinem bisherigen zwölfjährigen Leben noch nie untergekommen.
„Maximiliane, bist du da drinnen?“ Mia klopfte gegen die Tür. Die Antwort konnte ich gerade noch keuchen. „Ja, das tut so weh. Komm bitte herein, es ist auf.“
Unser Hausmädchen stand im nächsten Augenblick neben mir. „Da läuft Blut zwischen meinen Beinen heraus. Mia, du musst den Arzt holen, ich sterbe“, jammerte ich kläglich.
Sie strich mir zärtlich übers Haar. „Nein, mein Schatz. Du stirbst nicht. Das ist normal und passiert ab jetzt jeden Monat einmal. Du bist nun eine Frau, kleine Prinzessin.“ Sie gab mir Papier zum Abwischen und reichte mir eine dicke Hygienebinde. „Leg dir das in den Slip und geh ins Bett. Ich bringe dir eine Wärmflasche. Wenn deine Mutter von ihrer Besorgung in der Stadt zurück ist, gebe ich ihr Bescheid. Sie muss entscheiden, ob du eine Tablette gegen Regelbeschwerden einnehmen darfst.“ Seufzend schlich ich mich nach dem Toilettengang in mein Kinderzimmer zurück.
Natürlich starb ich nicht. Und doch, in gewisser Weise schon. Heute war nun geschehen, was eines Tages geschehen musste. Nach dem Sexualkundeunterricht in der Schule hatte mich meine Mutter vor einigen Wochen zur Seite genommen und aufgeklärt. Da gab es kein Herumreden über Bienchen oder Blümchen. Irgendwann, so ab dem zwölften Lebensjahr, setzte bei einem Mädchen die Pubertät ein und das bedeutete eine Brust und monatliche Blutungen.
Was für die meisten Mädchen in meiner Klasse völlig normal war, kam bei mir einer Katastrophe gleich. Solange ich denken konnte, wollte ich ein Junge sein. Meine Erinnerung reichte bis ins dritte Lebensjahr zurück.
Ich tobte durchs Schloss, spielte mit Autos, Eisenbahnen und Fußball mit den Söhnen des Hausmeisters. Meine Puppen führten ein bedeutungsloses Leben und lagen in einer fest verschlossenen Kiste in einem Schrank meines Zimmers. Mein Lieblingsspielzeug war der Gameboy, den ich von meinem älteren Vetter abgestaubt hatte, dicht gefolgt von der riesigen elektrischen Eisenbahn meines Vaters, die einen großen Teil des Dachbodens einnahm.
Mein bester Freund Jacob war der Sohn unseres Försters. Wir wuchsen gleichaltrig zusammen auf und ich verstand in den ersten Lebensjahren nie, warum Jacob Hosen trug und ich Kleider anziehen musste. Ich war schließlich wie er.
Im Dorf gehörte ich seit meinem sechsten Lebensjahr dem Fußballverein an und hatte Glück, dass es mangels Interesse keine Mädchenmannschaft gab. Ich kickte inzwischen mit großem Erfolg bei den Buben in der D-Jugend. Ab der C-Jugend müssten meine Eltern ihre schriftliche Einwilligung geben, wie unser Trainer schweren Herzens erzählte. Und nach der A-Jugend durften Mädchen nur noch in Damenmannschaften spielen, so war es Gesetz beim DFB.
Scheißgesetz! Warum machten die Leute so etwas Bescheuertes? Ich war doch ein Junge, auch wenn mein Körper dagegen sprach. Warum ist das Leben so schwer?, fragte ich mich mehr als einmal.
Ich war schließlich privilegiert geboren worden! Jedenfalls hörte ich das stets von meiner Mutter, wenn sie von mir mehr Haltung und Würde erwartete. Mein Benehmen ließ in der Tat manchmal sehr zu wünschen übrig und gehörte keinesfalls zu einer jungen Prinzessin und in meinem Fall zur einzigen Tochter des Markgrafen Maximilian Ernst von Wildenstein.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein normaler Junge sein zu dürfen und mir wäre es recht gewesen, wenn mein Vater als Bürgerlicher im Knast sitzen würde. Den adeligen Stammbaum hätte ich sofort mit Freuden gegen ein gewöhnliches Jungenleben eingetauscht.
Mia half mir ins Bett und verschwand gleich darauf. Ich konnte Gerhards Stimme hören. Das Auto mit meiner Mutter hatte vor der Haupttreppe angehalten. Gerhard war unser Chauffeur. Er rief unseren Hausmeister Dietrich herbei und zeigte sicherlich wie immer auf die vielen Taschen und Pakete im Kofferraum. Der alte Dietrich seufzte danach gewöhnlich laut auf.
Wahrscheinlich war er gar nicht so alt. Für mich gab es nur junge Menschen in meinem Alter und Leute über Zwanzig. Die waren in meinen Augen senil und die meisten davon scheintot.
Weitere Stimmen, darunter auch Mias, drangen zu mir ins Kinderzimmer hinauf. Einen Moment später trat meine Mutter an mein Bett. Sie lächelte, nahm meine Hand und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Meine kleine Prinzessin. Du bist heute zur Frau geworden. Ich gratuliere dir, meine Süße. Das ist ein bedeutender Tag im Leben eines jungen Mädchens. Bauchschmerzen hatte ich auch immer, als ich in deinem Alter war. Damals gab es bereits gute Tabletten gegen Regelbeschwerden. Mia bringt dir gleich etwas. Ich rufe Doktor Zubrücken an und vereinbare einen Termin für uns. Er soll dich frauenärztlich untersuchen, sobald deine Periode durch ist. Vielleicht kennt er noch andere Mittel gegen die Schmerzen. Eventuell eine niedrig dosierte Pille oder Ähnliches. Wir werden ihn auf jeden Fall konsultieren.“
Ich sparte mir die Antwort. Meine Mutter war eigentlich ganz okay. Sie wollte modern und aufgeschlossen sein und überließ nichts dem Zufall. Und sie hörte gerne auf ärztlichen Rat.
Sie blickte sich um und das Lächeln verschwand augenblicklich. Missbilligend legte sich ihre Stirn in Falten. Ich ahnte den Grund. In meinem Zimmer war wohl seit ewigen Zeiten nicht mehr aufgeräumt worden. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals hier richtig aufgeräumt zu haben. Solange ich fand, was ich suchte, erschien es mir nicht nötig, etwas am Zustand meines privaten Reiches zu ändern.
„Mia wird dir bei nächster Gelegenheit helfen und dann wird dieser Stall mal entrümpelt! Kind, wie kannst du in solch einer Unordnung leben? Wie willst du jemals einen anständigen Mann finden und deinen eigenen Haushalt führen, wenn du nicht einmal in der Lage bist, ein einzelnes Zimmer in Ordnung zu halten? Weißt du, wie viel Arbeit die vielen Räume unseres Schlosses machen?“
Ich stöhnte auf. Eine neue Welle Bauchschmerzen rollte auf mich zu, die allerdings nicht von der Regel herrührte. Nein, bitte nicht! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Nur nicht wieder die alte Leier! Ständig hielt mir meine Mutter meine Unordnung unter die Nase. Ich konnte doch nichts dafür. Ich war halt zum Messi geboren.
„Bei Vater sagst du nie etwas. Er ist genauso ein Chaot wie ich, aber er findet alles wieder, was er braucht und sucht. Und das tue ich auch. Mum, ich bin keine Prinzessin, sieh es endlich ein. Wenn überhaupt, bin ich ein Prinz und mit dem Namen Max ist alles okay. Ich bin ein Junge und ich möchte als Junge leben. Und ich bin unordentlich und ich möchte unordentlich bleiben. Und… ich fühle mich damit genauso wohl wie Dad.“
Meine Mutter schüttelte wie erwartet entnervt den Kopf. Die englischen Bezeichnungen fand ich einfach cool. Weil wir Verwandte in Britannien hatten, bemühte ich mich immer, gebildet zu erscheinen und etwas Englisch in unsere Gespräche einfließen zu lassen.
„Ach, Maxi, was mach ich nur mit dir?“
Ich setzte meine beste Unschuldsmiene auf. „Ich weiß auch nicht, Mami, aber vorhin, als ich das schreckliche Blut aus meinem Körper kommen sah, wäre ich am liebsten gestorben. Mir fehlt das Teil, das zu einem Jungen gehört. Mein Körper und mein Gefühl passen nicht zusammen. Da muss bei meiner Geburt irgendetwas vollkommen falsch gelaufen sein.“
Mutter sah mich traurig an und ging. Am frühen Abend konnte ich mich dank ihrer Medikation wieder etwas bewegen. Also trieb ich mich wie gewöhnlich im Stall herum und besuchte mein Pony Chester. Ich sprach leise mit ihm. Chester und ich waren die dicksten Freunde. Er kannte meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte und er besaß, was ich nicht hatte: Einen Penis.
Sicher, er wusste nichts davon, dass er mal als Hengst zur Welt gekommen war und irgendjemand dem armen Kerl im Babyalter die Männlichkeit geraubt und ihn zum Wallach gemacht hatte. Wir beide aber waren auf diese Weise verhinderte und irgendwie auch behinderte Jungen geworden. Und das gemeinsame Schicksal schweißte uns zusammen.
Ein Geräusch, ich zuckte zusammen. Papa stand plötzlich hinter mir in der Box. Schreck lass nach, ich atmete tief durch. Aber es war alles paletti. Ruhe, Max, dachte ich. Es ist seine Zeit. Er machte abends immer seinen Rundgang im Pferdestall, wenn er nicht selbst ritt.
Doch etwas war heute Abend anders mit ihm, das konnte ich deutlich spüren. Er legte nachdenklich den Arm um mich, was er sonst nie tat. Seine Hand drückte dabei fest auf meinen Nacken. Verwundert blickte ich zu ihm hoch.
Mein Vater gab äußerlich tatsächlich das Bild eines Grafen ab, so wie es sich viele Menschen vorstellten. Hochgewachsen, schlank, muskulös, mit einem sonnengebräunten Gesicht durch die viele Arbeit auf den Feldern und in unserem Wald, stand er neben mir in der Haltung eines stolzen Edelmannes, aus der Zeit als Bayern noch Königreich war.
Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich auf Anhieb in ihn verliebt hatte, obwohl es eine arrangierte Ehe war. Adel kam in diesem Fall zu verarmtem Adel. Mutter war eine Baronesse von Scheele. Ihr elterliches Gut blieb in Ostpreußen zurück und nach dem Krieg stand die Familie buchstäblich vor dem Nichts. Da kam die Ehe mit meinem Vater gerade richtig.
Entgegen seiner Gewohnheiten schmuste er heute nicht mit mir. Es stand plötzlich etwas Unbekanntes zwischen uns. Respekt, Achtung und… eine besondere Form von Liebe. Das gefiel mir. Ungewohnt, aber schön. Die Art seines Umgangs beschrieb Klarheit, Geradlinigkeit, wie auf einer Offiziersschule. Ich musste unwillkürlich lächeln.
Vater war Hauptmann der Reserve bei der Bundeswehr. Behandelte er mich nicht gerade wie einen Kadetten? Ich versuchte, genauso männlich und gehorsam wie ein junger Rekrut zu wirken.
„Chester ist in guter Form. Wenn wir weiter hart trainieren, werden wir uns auf dem Turnier passabel schlagen. Eine Schleife und Platzierung sollten diesmal drinnen sein“, bemerkte ich siegesgewiss und klopfte meinem Pferd zärtlich den Hintern.
„Komm nach dem Abendessen mit deinem Wochenplan zu mir ins Arbeitszimmer. Wir werden einiges umstellen, du brauchst mehr Zeit mit ihm. Wieweit ist das Taekwondo-Training? Du musst sicher in den Griffen und Tritten sein, damit du dich im Kampf mit anderen Jungen schützen kannst. Etwas Drill und militärischer Gehorsam kann zudem nie schaden. Ich werde dir Unterricht geben, wie ich ihn selbst im Internat erhalten habe. Du wirst als Junge den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen. Das ist eine große Verantwortung, denn du erbst die Firma. Du bist dann Arbeitgeber für hundertzwölf Menschen und ihre Familien. Adel verpflichtet, Max. Das ist nicht nur eine hohle Floskel.“
Vater sah mich ernst an. Uff, waren das Töne! So kannte ich meinen alten Herrn gar nicht. Der behandelte mich tatsächlich wie einen Jungen! So sprach ein Vater mit seinem Nachfolger.
Waas? Ich war weiblich, zumindest körperlich, da biss nun mal keine Maus einen Faden ab und unser Hausgesetz erforderte strikt die männliche Erbfolge. Vater war nach unserem Gespräch längst weiter in den Stutenstall gegangen. Da stand ich nun wie vom Blitz gerührt mit großen Augen und offenem Mund.
Ich kämpfte jetzt seit meinem dritten Lebensjahr darum, ein Junge sein zu dürfen, und er hatte das stets ignoriert. Keiner hatte mich bisher ernst genommen. Was war bloß in ihn gefahren? Das unausgegorene Gespräch mit meiner Mutter vom Mittag fiel mir ein. Sollte sich Mutter mit ihm unterhalten haben? Hatte sie ihre Meinung vielleicht geändert? Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad gemacht?
„Max, du sollst ins Haus kommen und dich waschen. Es gibt Abendessen!“
Ich blickte automatisch in die Richtung, aus der die Stimme kam. Robert rief mir die Botschaft über die Stallgasse zu. Er war einer unserer drei Stallburschen. Ich gab Chester noch schnell einen Kuss auf die Nüstern und warf ihm frisches Heu in die Box.
Eine Viertelstunde später stand ich um sieben Uhr in sauberen Hosen und mit gewaschenen Händen im Esszimmer. Für uns war durch mehrere Raumteiler ein gemütliches Zimmer entstanden, welches trotzdem noch sehr groß erschien. Die lange Tafel erinnerte an Zechgelage auf einer Ritterburg aus längst vergangener Zeit.
Wildenstein war im sechzehnten Jahrhundert von einem meiner Vorfahren als Raubritterburg gebaut worden. Meine Ahnen waren ziemlich blutrünstig gewesen, hatten als Ritter für Könige und deutsche Kaiser gekämpft. Das brachte dem Chef des Hauses im siebzehnten Jahrhundert den Titel eines Markgrafen und Burg Wildenstein als Lehen ein. Nach einem großen Brand 1760, ließen sie das Gut wiederaufbauen.
Aber die einstige Ritterburg wich einem schlossähnlichen Gebäude, das jetzt unter Denkmalschutz stand und Unmengen an Geld verschlang, wie ich meinen Vater oft stöhnen hörte. Der Bankier aus unserer Kreisstadt gehörte fast schon zur Familie.
Gewohnheitsmäßig ging ich erst zu Mutter an den Tisch. Sie sah unauffällig auf meine Finger und nickte mit dem Kopf. Ich durfte mich setzen. Mutter nickte mir abermals zu.
„Herr Jesus, wir danken dir für diese Speisen. Komm, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Und hilf allen Menschen auf der Erde genug Nahrung zu bekommen und satt zu werden. Amen.“
Das Tischgebet gehörte als fester Bestandteil zu unserem Leben. Wir waren katholisch, wie in Bayern üblich. Und es galt als selbstverständlich, dass ich als Kind das Gebet sprach. Wobei ich leider das einzige Kind war und diese Aufgabe nicht weiter nach unten delegieren konnte. Aber ich hatte mich inzwischen damit arrangiert.
Mia kam herein, reichte Vater die Suppe, der die schwere Terrine einen Moment später an Mutter weitergab. Ich hielt ihr, wie immer, meinen Teller vor.
„Nein, Adelheid, lass ihn sich selbst auffüllen. Er ist kein Kind mehr und muss lernen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen.“
„Du hast recht, Liebling“, hörte ich meine Mutter antworten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was in aller Welt war in die Erwachsenen gefahren? Waren meine Eltern auf einmal plemplem geworden? Ich nahm die schwere Schüssel, die ich gerade noch so eben halten konnte und füllte mir eine Kelle köstlich duftender Spargelsuppe auf. Hatte ich mich verhört oder sprach mein Vater tatsächlich in der männlichen Form von mir? Verwirrt aß ich betont konzentriert meinen Teller leer und bemühte mich beim Hauptgang keine unpassenden Geräusche zu machen. Es gab Rehrücken. Vater hatte den Bock bei der letzten Jagd geschossen. Das Wildbret schmeckte ausgezeichnet. Der Nachtisch in Form von Erdbeereis fand schnell seinen Weg in meinen Magen.
Es galt ebenfalls in unserer Familie als selbstverständlich, dass bei Tisch nur das Nötigste gesprochen wurde. Mit mehr als fünf Pfund im Mund sollte man nicht mehr reden, pflegte meine Erzieherin Ludovika immer zu sagen. Ich dachte traurig an das ältliche Fräulein, das mich die ersten Lebensjahre fast noch liebevoller betreut hatte, als meine Mutter. Freiin Ludovika war vor einem halben Jahr gestorben und hatte eine große Lücke in meinem jungen Leben hinterlassen.
„Nun denn. Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Hast du deinen Wochenplan dabei, Max?“ Ich schrak auf. Ja, hatte ich. Mein Stundenplan glich eigentlich dem eines Topmanagers. Freizeit war darauf ein Fremdwort. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Spielen für die kindliche Entwicklung wichtig sei. Bei mir schien in dieser Hinsicht etliches anders zu laufen.
„Ja, Vater. Ich habe ihn hier.“ Ich stand auf und wollte bereits losgehen, als sich meine Mutter zu Wort meldete.
„Maximilian, du willst doch gerne ein Junge sein oder habe ich da etwas falsch verstanden? Als Mann gehört es sich, einer Dame den Stuhl zu rücken. Und Knaben können nicht früh genug damit anfangen, gutes Benehmen zu lernen. Ich warte, mein Sohn.“ Boar! Das war eine Ansage. Was war denn jetzt passiert? Ich schluckte schuldbewusst.
„Ja, Mutter, entschuldige bitte. Ich war unachtsam.“ Wie es sich gehörte, trat ich hinter sie und zog den Stuhl zur Seite, damit sie bequem aufstehen konnte. Nur nichts mehr falsch machen, ratterte es in meinem Kopf. Schnell schob ich mich vor meine Mutter und hielt ihr, wie ein junger Gentleman, die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters auf. Der schmunzelte.
„Geht doch“, meinte er und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich half meiner Mutter in den Sessel. Vater lächelte immer noch. Gespannt setzte ich mich und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Mutter sah mich liebevoll an.
„Max, wir haben dich sehr lieb und wir wollen nur das Beste für dich. Natürlich haben Papa und ich seit langer Zeit mit Sorge bemerkt, dass du ein Problem mit deinem weiblichen Geschlecht hast. Ich habe nach unserem Gespräch heute Mittag meine Freundin Christine angerufen. Sie ist Psychologin, wie du weißt.“ Ja, wusste ich. Eigentlich ‘ne ganz Nette.
Sie kam uns ein paarmal besuchen und wäre dabei einmal fast in den Schlossteich gefallen, als ich ihr zeigen wollte, wie man die Karpfen mit dem Catcher fangen konnte. Aber sie hatte mich nicht verraten und gesagt, dass sie selbst zu nah ans Wasser gegangen war und dadurch nasse Schuhe bekommen hatte.
„Nun, Christine erklärte mir, dass es eine solche, wie sie sich ausdrückte Geschlechtsidentitätsstörung, tatsächlich gibt und die Ärzte dies in der Regel als Transsexualität oder Transidentität bezeichnen. Es ist das sichere innere Gefühl, im falschen Geschlecht geboren zu sein.“ Ich starrte meine Mutter an.
„Ja, das sag ich doch, Mum!“ Erschrocken schwieg ich im nächsten Augenblick, ich wollte nicht vorlaut wirken. Aber Mutter lächelte. Okay, alles paletti.
„Christine bestätigte mir, dass bereits Kinder in sehr jungen Jahren wissen, dass sie dem anderen, als ihrem Geburtsgeschlecht angehören. Sie gab mir die Telefonnummer einer Kollegin in München, die dort als Kinder- und Jugendpsychologin tätig ist und darüber hinaus eine Nummer aus Hamburg. Dort gibt es eine Praxis, die Kindern und Eltern in solchen Fällen medizinisch hilft. Vater und ich sind übereingekommen, den geraden ärztlichen Weg zu gehen und Hilfe zu suchen, anstatt selbst herumzudoktern. Christine gab mir den Rat, zunächst auf dich einzugehen und deinem Wunsch zu entsprechen. Wir sollen dich ernst nehmen. Das bedeutet also für uns und für dich, dass sowohl Vater als auch ich und alle anderen Personen im Schloss, dich künftig mit männlichem Vornamen ansprechen und dich wie einen Jungen behandeln, wenn du das möchtest. Ich lasse mir so bald als möglich Termine bei den Ärzten geben. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“ Mutter blickte Vater zufrieden an.
Der wurde sehr ernst. „Ich denke natürlich genauso wie deine Mutter und bin froh, dass dein Problem, sagen wir‘s mal so, jetzt bei den Hörnern gepackt wird. Alles andere wäre erzieherisch falsch und würde mehr schaden als nützen. Allerdings gibt es einiges zu bedenken. Max, es ist ein Unterschied, ob du mein Sohn oder bitte nicht falsch verstehen, nur meine Tochter bist. Wir sind zwar menschlich nicht anders als alle anderen Leute, dennoch gibt es in Adelskreisen Besonderheiten. Das Hausgesetz gehört dazu. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass nur der älteste Sohn den Titel und das Schloss erbt. Bist du eine Tochter, darfst du dich mit Gräfin ansprechen lassen. Um dich testamentarisch als Schlosserbin einsetzen zu können, bedarf es aber der Zustimmung deines Onkels Ludwig. Als mein jüngerer Bruder würde er sonst Schloss und Titel bekommen, wenn ich kinderlos sterbe, also ohne Sohn und Erben. Onkel Ludwig hat mit deinem Vetter Hubertus einen Sohn, der wiederum in die nächste Erbfolge eintreten kann. Wir haben uns vor langer Zeit über dich und die Nachfolge unterhalten. Damals stand fest, dass deine Mutter keine weiteren Kinder haben wird und mir so ein Sohn verwehrt bliebe. Onkel Ludwig war damit einverstanden, dass du das Schloss erhältst und der Titel verfällt. Es ist in Deutschland so, dass Nobilitierungen nicht mehr vorgenommen werden, denn wir sind keine Monarchie mehr. Damit sterben Adelshäuser oft aus, wenn keine männlichen Erben geboren werden. In unserem Hausgesetz besteht die Möglichkeit, dass der Titel solange ruht, bis wieder ein männliches Kind zur Welt kommt. Du würdest also nicht selbst offiziell Gräfin Wildenstein werden, den Titel aber an deinen Sohn vererben dürfen. Das ist vom Namen des Vaters unabhängig, solange dieser adliger Abstammung ist.“
Meine Augen waren während Vaters Worte immer größer geworden und ich musste mir eingestehen, dass ich ungefähr nur ein Viertel davon verstand. Hubertus war mein Vetter. Sechzehn Jahre alt und ein ganz passabler Typ. Er spielte Fußball wie ich und ritt ganz ordentlich. Mein Onkel Ludwig arbeitete im Management eines bayerischen Autokonzerns. Ich mochte ihn. Die ganze Familie war relativ unkompliziert, nur Tante Friederike übertrieb zeitweilig. Aber mit Hubertus verstand ich mich gut und das schien mir die Hauptsache zu sein. Was das Ganze mit Erbe und Hausgesetze anging, war mir ehrlich gesagt, alles ziemlich Latte.
Ich versuchte dennoch ein interessiertes Gesicht zu machen. Wenigstens rangen sich meine Eltern endlich dazu durch, mich als das anzusehen, was ich war. Ein Junge, und kein Mädchen. Vater verzog die Lippen, als ob er mich verstanden hatte.
„Ich weiß, dass ist alles sehr schwer für dich zu begreifen. Du wirst in ein paar Jahren besser Bescheid wissen. Nur kommt eine Menge Verantwortung auf Dich zu, wenn du tatsächlich mein Sohn werden solltest. Max, das Leben als Mann stellt andere Anforderungen an dich als das Leben einer Frau. Mutter und ich wollen dir zunächst einmal, unabhängig von den ärztlichen Gesprächen, die Gelegenheit geben, herauszufinden, ob du wirklich als Junge leben willst und kannst. Mutter wird zeitgleich Termine bei den Ärzten einholen und wir wollen zuerst nach Hamburg fahren. Ich habe gelesen, dass man heute Kindern dadurch hilft, dass die biologische Pubertät durch eine Spritze unterdrückt wird und sich das Kind im gefühlten Geschlecht erst einmal entwickeln kann, ohne das körperliche Veränderungen in die eine oder andere Richtung geschehen. Wenn du volljährig bist, darfst du dich selbst entscheiden, als was du leben willst. Nur diese Entscheidung ist nicht mehr rückgängig zu machen, wenn du dich zur Operation entschließt. Aber da werden wir mit den Hamburger Fachärzten sprechen. Ich denke, das ist erst einmal alles für heute. Oder, Adelheid?“
Meine Mutter überlegte kurz.
„Ja, Max, dein Geschlechtswechsel wird zunächst nur hier zuhause stattfinden. Du darfst allerdings deine Sporttrainer einweihen. Sie können mich anrufen, wenn sie Fragen haben. Ich werde ihnen alles erklären. Mit der Schule bleibt es vorerst wie es ist, denke ich. Wir müssen zunächst mit den Ärzten sprechen und ich möchte unbedingt, dass dich die Kinderpsychologin sieht und uns berät. Wenn sie meint, dass du als Junge in die Schule gehen sollst, werden wir uns mit dem Direktor unterhalten.“
Vater und Mutter nickten einander zu.
„Darf ich ganz schnell zu Chester laufen und ihm die Neuigkeit erzählen?“, rief ich überglücklich aus.
„Klar“, hörte ich meinen Vater sagen, der mir meinen Wochenstundenplan abnahm, um ihn zu ändern. Ich rannte derweil die Treppe hinunter.
„Chester, ich bin endlich ein Junge!“ Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich im Stall mein Pony drückte. Chester stupste mich mit seinen weichen Nüstern an, leckte über meine Wange und ließ seine Zunge in meine Jackentasche gleiten. Ein letztes Leckerli konnte ich ihm noch heraus pulen. Er schnaufte dankbar.
Mit dem Ärmel wischte ich über meine feuchten Augen. Oh shit. Ich war doch ein Raubritter und die kannten weder Schmerz noch Tränen. Mit zwölf Jahren lernte man damals als Knappe bereits Fechten. Ein Junge hatte nicht zu heulen. Okay, das musste ich mir also schnellstens abgewöhnen, wobei ziemlich viele aus meiner Klasse dicht am Wasser gebaut waren und schon bei Kleinigkeiten flennten.
Moritz zum Beispiel, war gestern mit dem Fahrrad auf die Schnauze gefallen und sein Gebrüll konnte man am anderen Ende des Dorfes hören. Der war Dreizehn! Nein, eine Memme würde ich nicht sein. Ich war hart im Nehmen und trug das Blut derer von Wildenstein in mir.
Chester bekam noch eine Handvoll Heu. Eine halbe Stunde später lag ich als der künftige Markgraf Maximilian August Ludwig (ich hieß tatsächlich Auguste Ludovika) im Bett und versprach im Abendgebet, meinem Titel alle Ehre zu machen.
Am nächsten Tag holte mich die Realität ein. Die Mathearbeit kam zwar mit einer zwei Plus zurück und ich freute mich bereits auf das Gesicht meines Vaters, der sich damit immer etwas schwer getan hatte. Ich musste mich zum Sportunterricht wie üblich im Umkleideraum der Mädchen umziehen. Igitt, was für Ziegen und Hennen meckerten und gluckten da um mich herum.
„Maximiliane, du siehst umwerfend aus, in deinem wunderschönen Jungenhemd, du wirst sicher mal Schönheitskönigin“, rief Martina mir hämisch zu. Alle Weiber lachten wie auf Kommando. Nur Daniela saß still auf ihrem Platz. Sie stand mir stets zur Seite. Vielleicht, weil sie selbst sehr pummelig war und mit der Zahnspange nicht gerade zu den hübschesten Mädchen gehörte. Sie wusste, was Mobbing hieß. Ich hatte genug von den Zicken. Groß baute ich mich vor Martina auf.
„Vor ein paar hundert Jahren hätte ich nicht gezögert, eine wie dich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Königin werde ich sicher nie, höchstens König. Du wirst es bereuen, mich heute geärgert zu haben“, erklärte ich erhaben und selbstsicher.
Martina kicherte. „Ich werde dich in einen Regenwurm verwandeln, du edler Prinz. Hex, hex.“ Oh, wie ich die Kuh hasste!
Unsere Sportlehrerin Frau Miersbach, kam herein und scheuchte uns in die Gymnastikhalle an die Keulen. Am liebsten hätte ich so ein Ding der Hexe Martina als Stolperfalle zwischen die Beine geworfen. Und die Jungs durften nach den Übungen am Barren Fußballspielen. Wie ungerecht das war! Aber auch der schlimmste Schulvormittag geht einmal vorbei und nach den Hausaufgaben stand von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr das Training mit Chester an.
Er sprang wie eine Eins und gab mir mein angeknackstes Selbstvertrauen zurück. Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Rad und fuhr ins Dorf. Beim Kampftraining war ich endgültig wieder der Alte. Und als ich nach dem Abendessen mit Mutter Klavier übte, hatte ich den ersten Tag als Junge relativ gut überstanden. Mutter überraschte mich mit einem Termin in Hamburg in einer Woche. Ich würde dafür vom Unterricht befreit werden, sagte sie.
Am nächsten Morgen sah ich, wie sie im Zimmer des Schuldirektors verschwand. In der großen Pause kam ein Junge aus der Oberstufe zu mir, als ich mit zwei Freunden aus meiner Klasse Autoquartett spielte. Ich sollte zum Direx kommen. Auch das noch. Ich war stinkig, denn ich hatte gerade eine Glückssträhne gehabt. Auf dem Zahnfleisch kriechend klopfte ich an der Höhle des Löwen an, weil ich beim besten Willen nicht wusste, was ich nun wieder ausgefressen haben sollte. Schreck! Mum war immer noch da. Aber sie lächelte und der Direx sah freundlich aus.
„Max, komm näher. Deine Mutter hat mir eben von deinem Problem erzählt. Eine Ahnung hatte ich bereits. Aber als Lehrer mischen wir uns selten in familiäre Belange, passen nur bei körperlicher oder seelischer Misshandlung auf. Ich habe deiner Mutter erklärt, dass wir uns jedem ärztlichen Attest fügen werden. Falls die Ärzte dich also als Jungen einstufen, werden wir dich entsprechend hier führen, auch wenn du noch nicht operiert bist. Bayern bedeutet nicht automatisch von vorgestern zu sein. Wie das in der Praxis aussehen wird, beim Sport hauptsächlich, bespreche ich zu gegebener Zeit mit den Fachlehrern. Also, wenn es an dem ist, erwarte ich von meinem dann männlichen Schüler, Graf Maximilian von Wildenstein, entsprechend gräfliches Verhalten und weiterhin gute Leistungen. Du weißt: Adel verpflichtet. Und der Bonus, den Mädchen nun mal haben, weil sie Mädchen sind, der ist bei Ihnen futsch, mein Prinz. Haben wir uns verstanden?“
Meine Mutter konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Ich spielte freudestrahlend mit.
„Ja, Herr Direktor. Ich werde mich bemühen, denselben Blödsinn zu machen, wie alle anderen Jungen. Und mit der Strafe zu leben wie die anderen.“
„Raus, ab in deine Klasse!“ Ich hörte nur noch, wie die beiden in schreiendes Gelächter ausbrachen.
Geil! Endlich war ich am Ziel! Überglücklich ließ ich die kommende Woche vergehen. Am Dienstag fuhren wir alle drei mit dem ICE nach Hamburg. Wir mussten zunächst nach München. Mit dem Auto wären das 180 km gewesen. Vater beschloss, den Regionalzug zu nehmen und Gerhard mit dem Auto wieder zum Schloss zu schicken. Der ICE stand auf dem Münchner Hauptbahnhof bereit. War das aufregend! Den Bahnhof hatte man vollständig überdacht, so dass bei Regen niemand nass werden konnte. Es liefen ganz viele Menschen an uns vorbei. Mutter behielt den Überblick. Sie lotste uns zum richtigen Zug. Beinahe hätte sie sich mit Vater gestritten, der meinte, wir wären auf dem falschen Bahnsteig. Mum hatte Karten für die erste Wagenklasse bestellt. Als ich endlich auf meinem Platz saß, fragte ich den Schaffner, was das für ein komischer Kasten war, der am Sitz vor mir hing. Er erzählte es mir lachend. Mutter kaufte bei ihm Kopfhörer und ich durfte den Film ‚Findet Nemo‘, darin sehen. Die Reise war echt super. Nach dem Film wurde ich ziemlich müde und schlummerte vor mich hin, bis Mum mich weckte.
Der Hauptbahnhof in Hamburg erschien noch gigantischer als der in München. Mutter sagte, wir müssten bis Altona durchfahren. Vater nahm mich sicherheitshalber an die Hand, als wir aus dem Zug stiegen. Die Arztpraxis lag nahe am Bahnhof, wir mussten also nicht weit laufen.
Die Anmeldung und der erste Kontakt zu Doktor Reimers, der mich von nun an für viele Jahre durchs Leben begleiten sollte, verliefen null Problemo. Mir wurde Blut abgenommen, ich musste in ein Glas pinkeln und wurde gemessen und gewogen. Zwischendurch sollte ich Tests machen, Bilder beschreiben, was ich in den Klecksen sah und so, und am Schluss saßen wir alle zusammen bei Dr. Reimers im Sprechzimmer. Der war wirklich nett.
„Also, Max. Du wirkst auf mich nicht wie ein Mädchen. Aber der Reihe nach. Du bist körperlich und geistig kerngesund. Es gibt keine Auffälligkeiten im Blut und die körperliche weibliche Entwicklung ist völlig altersgemäß. Normalerweise erwarten die Patienten vom Arzt nicht nur die Diagnose, sondern einen Vorschlag zur Behandlung, also Medikamente oder den Rat zu einer Operation. Bei Transsexualität ist das etwas anders. Wir müssen deine Entwicklung abwarten. Du zeigst zwar untrügliche Anzeichen einer Frau zu Mann transsexuellen Prägung, aber wie wirst du mit achtzehn Jahren darüber denken? Wir können dir jetzt damit helfen, dass wir die biologische körperliche Entwicklung nicht noch schlimmer werden lassen. Deine Brust ist noch wenig entwickelt und die Regel hat gerade erst eingesetzt. Es gibt die Möglichkeit, deine weibliche Pubertät zu stoppen. Das bedeutet, du bekommst keine Blutung mehr und das weitere Brustwachstum wird verhindert. Dazu erhältst du in regelmäßigen Abständen von mir eine Spritze. Dann lassen wir die Jahre vergehen. Du, Max, entweder als gefühlter Maximilian oder als gefühlte Maximiliane, bestimmst dabei den Weg. Willst du als Junge leben, kleidest du dich entsprechend und bittest deine Eltern, dich wie einen Jungen zu behandeln. Willst du wieder ein Mädchen sein, teilst du uns das mit und lebst dein körperlich angeborenes Geschlecht. Du entscheidest, und niemand anderes. Niemand darf dich deswegen mobben. Es gibt auch beim Schwimmen oder in der Umkleidekabine keine Veranlassung in dir keinen Jungen zu sehen, wenn du es so willst. Das Leben ist allerdings kein Ponyhof, denn die gesellschaftlichen Anforderungen an einen Jungen sind andere als an ein Mädchen. Aber ich glaube, das Problem haben deine Eltern bestens im Griff. Die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung mit Testosteron beginne ich frühestens ab dem siebzehnten Lebensjahr, wenn eine gewisse geistige Reife vorhanden ist. Die hat wenig oder gar nichts mit der pubertären körperlichen Reife zu tun. Unser Gehirn besteht aus vielen Teilen. Kinder leben aus dem sogenannten limbischen System heraus, in dem die Gefühle liegen. Vorne am Kopf beginnt der Vordere Cortex, da sitzt das schlussfolgernde Denken. Zwischen dem dreizehnten und dem einundzwanzigsten Lebensjahr verbinden sich beide Teile miteinander. Die Gefühle werden also an die Einsichtsfähigkeit gekoppelt. Ein Erwachsener weiß, dass er niemanden ungestraft verhauen darf, nur weil er sauer auf ihn ist. Mit der biologischen körperlichen Entwicklung hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn es anders wäre, dürfte keiner, bei dem Hormonstörungen auftreten, mit Achtzehn den Führerschein machen. Ich gebe dir die nächsten Jahre Zeit, dich zu finden und werde dich nach deinen Wünschen fragen. Zwischen uns beiden wird ein Vertrauensverhältnis wachsen. Bist du mit siebzehn Jahren der Auffassung, dass du den Rest deines Lebens als Junge verbringen willst, setzen wir die Spritze ab und du bekommst männliche Hormone, die du nach der geschlechtsangleichenden Operation lebenslang einnehmen musst. Darüber sprechen wir aber ausführlich, wenn es soweit ist. Hast du noch Fragen?“ Nein, hatte ich nicht. Das war alles zu schön um wahr zu sein. Ich war endlich ein Junge geworden. Mehr wollte ich nicht. „Ich hätte da noch etwas“, sagte mein Vater. „Wenn sich Max später entscheidet, doch lieber als Frau leben zu wollen, kann er dann trotz der Spritzen noch Kinder bekommen?“ Dr. Reimers lächelte. Er schien über die Frage hoch erfreut zu sein. „Ja, selbstverständlich. Die Spritze verhindert, dass die biologische Entwicklung beginnt. Wird sie abgesetzt, erfolgt die normale Pubertät im somatischen Geschlecht. Erst die Gabe gegengeschlechtlicher Hormone bewirkt bleibende körperliche Veränderungen, wie Bartwuchs und Stimmbruch, also die Ausprägung sekundärer männlicher Geschlechtsmerkmale.“
Er schaute von einem zum anderen. „Weitere Fragen?“ Meine Eltern sahen einander an. „Wann bekommt Max die erste Spritze und können Sie mir eine Bescheinigung darüber ausstellen, die ich der Schule vorlegen kann?“, fragte meine Mutter. Dr. Reimers nickte. „Die gibt Ihnen gleich meine Sprechstundenhilfe. Die Spritze kann ich ihm sofort geben. Sie erhalten den nächsten Termin in drei Monaten.“
Ich war hellwach. Das fühlte sich an wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. „Whow, danke!“ Mehr brachte ich im Überschwang meines Glückes nicht heraus.
Die plötzliche Unruhe meiner Mutter bemerkte ich nicht. Erst als mein Vater seine Hand auf die ihre legte und meinte, „Liebling, ist noch etwas?“, drehte ich mich zu ihr um. Mutter sah mich zärtlich an. „Maximilian, da gibt es in der Tat eine wichtige Sache, die wir jetzt noch mit dem Doktor besprechen müssen.“ Sie atmete tief ein. „Mein liebes Kind. Wenn dir Dr. Reimers hilft und deine weibliche Pubertät mithilfe von Medikamenten unterdrückt, bedeutet das, dass du dich nicht weiter zur Frau entwickeln wirst. Wenn du eines Tages männliche Hormone erhältst, müssen im Anschluss deine weiblichen Organe, also deine Eierstöcke und deine Gebärmutter entfernt werden. Der Operateur wird dir Penis sowie Hoden formen und dein Körper wird sich dem, eines jungen Mannes stark annähern, so dass niemand im normalen Leben merkt, dass du als Mädchen geboren wurdest. Doch eines wirst du nie können: Max, du wirst nie eigene Kinder haben.“
Liebevoll strich sie über mein Haar und legte ihre Hand danach auf den Arm meines Vaters. Den Kopf senkend fuhr sie leise fort. „Max, du bist unser einziges Kind. Ich bekam kurz nach deiner Geburt Krebs und meine Gebärmutter musste entfernt werden. Somit konnte ich deinem Vater keinen Sohn und Erben mehr schenken. Du wirst als unser Sohn vielleicht den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen dürfen, aber unser Adelsgeschlecht wird mit dir aussterben.“ So bewegt hatte ich meine Mutter noch nie erlebt. Ihre bedeutungsvollen Worte hallten in meinem Kopf nach und lösten eine Lawine von Gedanken aus.
Daran hatte ich nie gedacht. Ich werde nach meiner Operation der letzte Graf Wildenstein nach der vierhundertjährigen Geschichte unseres Hauses sein. Langsam wurde mir die Tragweite der Entscheidung bewusst, die ich vor wenigen Minuten bedenkenlos getroffen und die mich bereits in den Olymp hinaufgehoben hatte. Erschrocken blickte ich von einem zum anderen. Dr. Reimers schien einen Augenblick konzentriert nachzudenken. Mein Vater wollte etwas erwidern, doch der Doc kam ihm zuvor.
„Gräfin, Sie ahnen gar nicht, was Sie angestoßen haben. Ich habe schon öfters Gespräche mit älteren operierten Transidenten geführt, die, als sie mit allem durch waren, ihre Unfruchtbarkeit bedauerten. Die Geschlechtsanpassung hat einen hohen Preis. Aber es muss eine Lösung geben. Ich habe da eine Idee!
Von unserem Gynäkologen hier im Haus, Herrn Dr. Malinka, weiß ich, dass er Ehepaaren hilft, die mit unerfülltem Kinderwunsch zu ihm kommen. Es gibt viele Ursachen dafür. Manchmal entnimmt der Kollege den Frauen Eizellen und bringt sie außerhalb des Körpers in der Reagenzschale mit dem Samen des Ehemannes zusammen. War dies erfolgreich, setzt er der Frau das befruchtete Ei ein und in den meisten Fällen wird eine normale Schwangerschaft daraus. Die überzähligen Eizellen friert er ein und kann später ein weiteres Kind auf diese Art zeugen. Es gibt auch junge Frauen, die ihre Eizellen einfrieren lassen, weil sie wissen, dass sie aufgrund ihres Studiums und Berufs erst spät Mutter werden können. Wenn wir Max Eizellen entnehmen könnten und einfrieren, dann wäre er in der Lage, sie in vitro befruchten zu lassen und seiner Ehefrau einzusetzen. Das Kind wäre zwar nicht aus seiner Samenzelle, sondern aus seiner Eizelle entstanden, aber er kann als Vater angesehen werden. Die Frauen machen das bereits häufig. Sie lassen ihre Spermien noch vor der Hormonbehandlung einfrieren und da die meisten in lesbischen Beziehungen leben, trägt die Partnerin den Nachwuchs aus. Das Problem wird die rechtliche Anerkennung sein. Doch das müsste von einer Familie zu gegebener Zeit durchgeklagt werden. Die Ehefrau ist rechtlich die Mutter, auch wenn das Ei nicht von ihr stammt. Transidenten haben meines Erachtens nach dem Grundgesetz dasselbe Recht Eltern zu werden und sich fortzupflanzen, wie alle anderen auch.“
Ich hatte mit großen Augen zugehört. Das meiste verstand ich sogar. Meine Mutter und mein Vater blickten sich erstaunt an. Mein Vater legte seinen Arm um mich. „Max, was meinst du? Wollen wir mit diesem Arzt sprechen?“ Ja, die Idee klang gut. Ich nickte erleichtert mit dem Kopf. „Ich rufe eben oben an, dann können Sie sich möglicherweise gleich bei Dr. Malinka vorstellen. Ich kann dir aber unter diesen Umständen heute noch keine Spritze geben, Max“, meinte Doktor Reimers und griff zum Telefonhörer. Mein Vater lächelte zufrieden. „Das wäre großartig. Max, du merkst wahrscheinlich gar nichts davon, weil sie dir eine Kurznarkose geben. Und später stehen dir alle Optionen offen.“
Das Telefonat überstieg leider meine bisherigen Lateinkenntnisse. Herr Reimers legte auf. „Du hast gehört, Max. Du darfst mit deinen Eltern einmal die Treppe hochgehen und zu Dr. Malinka in die Praxis kommen. Wir sehen uns danach und besprechen das weitere Vorgehen.“ Er stand auf und brachte uns zur Tür. Mutter steuerte auf den Fahrstuhl zu. Ich fühlte viel zu viel Kraft in mir und war wohl mit Vater auf einer Wellenlänge. Wir nahmen die Treppe und machten einen Wettlauf draus. Oben angekommen ordneten wir uns beide, schnauften aus und spazierten mit Mutter durch die Glastür zum Tresen. Wir brauchten gar nicht viel sagen. „Einen kleinen Moment, noch. Nehmen Sie kurz im Wartezimmer Platz. Ich rufe Sie gleich rein“, meinte die dunkelhaarige Sprechstundenhilfe und lächelte mich freundlich an. Nach zehn Minuten saßen wir vor Dr. Malinka. Er war genauso nett wie Dr. Reimers. Ich fühlte mich wohl und gut aufgehoben. Meine Eltern ließen sich beraten, während ich zu träumen anfing und aus dem Fenster sah. Hamburg war schon eine aufregende Stadt. Ich wusste, dass es Eisbahnen gab und einen riesigen Hafen. Aber auch einen berühmten Zoo. Ich erwachte erst, als meine Mutter mich kurz an stupste. „Max, ich weiß, du bist müde. Aber, du musst jetzt ein wenig zuhören, was Herr Doktor Malinka uns erzählt. Es geht ja um dich!“ Japp, das war klar. Wir waren nicht zum Spaß mit dem Zug nach Hamburg gefahren. „Möchtest du etwas trinken, Max? Einen Orangensaft vielleicht? Schau mal, da drüben stehen ganz viele kleine Flaschen.“ Dr, Malinka schmunzelte. Wirklich, in der Sitzecke hinter mir standen umgedrehte Gläser und sechs bunte kleine Flaschen auf einem Glastisch. Hach! Zweimal brauchte mich niemand zu bitten. Der Kirschsaft hatte es mir angetan. Ich schraubte sofort den Deckel auf. Herrlich, das Getränk rann meine trockene Kehle hinunter. Aber die Fläschchen waren sehr klein. Da war gleich die Zweite fällig. Diesmal musste der Apfelsaft dran glauben. Ich spürte einen wohl bekannten Blick auf mir ruhen. Okay, Mum, ich weiß was sich gehört. Artig setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Der Doktor lächelte verständnisvoll.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, begann er zu erklären. „Wir können Eizellen aus dem vorpubertären Körper entnehmen oder aus dem bereits entwickelten. Normalerweise haben die Patienten Blutungen, so dass reife Eier in die Eileiter wandern. Wir entnehmen die Zellen während einer kurzen Narkose mit einer kleinen Kanüle durch die Bauchdecke. Es ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Die Zellen werden mikroskopisch untersucht und in Amsterdam eingefroren. Die Kosten sind geringer als hier in Deutschland. Das Problem bei Max ist, dass wir nicht wissen, wie er sich später entwickeln wird. Wenn er mit einer Frau zusammenleben will, kann sie nach künstlicher Befruchtung das Kind austragen. Das geht auch hier in Deutschland. Falls Max aber mit einem Mann zusammen lebt, werden beide eine Leihmutter brauchen. Das ist bei uns noch nicht erlaubt und deshalb nimmt unser Labor in Holland die weitere Betreuung vor. Dort ist die nichtkommerzielle Leihmutterschaft möglich. Darüber müssen wir uns heute noch keinen Kopf machen. Wir brauchen für die Entnahme ungefähr 25 Eizellen. Dazu gebe ich den Frauen ein spezielles Medikament, welches mehrere Eisprünge auslöst. Nach der letzten Regel wäre es bei dir in vierzehn Tagen soweit. Ich mache das in meiner Klinik und du kannst gleich im Anschluss wieder nach Hause fahren. Die erste Spritze gebe ich dir dann auch. Die Folgetermine hast du bei Dr. Reimers.“
Meine Eltern sahen mich an. „Max, es liegt bei dir. Ich übernehme die Kosten und muss ohnehin Rücksprache mit unserer Krankenversicherung nehmen. Du entscheidest und niemand anders“, sagte mein Vater ernst. Schade, dann wurde es heute noch nichts, mit dem neuen Leben als Junge. Aber ich hatte bereits eine gefühlte Ewigkeit darauf gewartet, dass mir weitere vierzehn Tage erträglich erschienen. „Ja, das machen wir so.“ „Gut, ich spreche gleich mit Dr. Reimers und den Termin sowie alle Unterlagen erhaltet ihr von meiner Sprechstundenhilfe.“ Der Doktor stand auf, gab erst mir und danach meinen Eltern die Hand. Wenig später trafen wir Dr. Reimers auf dem Flur seiner Praxis. Er wünschte uns Glück und überreichte meiner Mutter eine Karte, auf der der erste richtige Spritzentermin bei ihm vermerkt war. Als wir draußen vor der Tür standen, fühlte ich trotzdem, wie sich mein Leben zu verändern begann.
Ich drückte meine Eltern fest und Tränen schimmerten plötzlich in meinen Augen. „Danke, Mum. Danke, Dad. Ihr habt mir ein neues Leben geschenkt. Ich bin endlich ich selbst.“ Wortlos nahmen sie mich in die Mitte, einer hielt meine linke Hand, der andere die rechte. Das Gefühl war unbeschreiblich schön. Ich stand so viele Jahre neben mir und nun hatte sich endlich mein Herzenswunsch erfüllt. Mein Vater bemerkte, dass er Hunger habe. Ja, den hatte ich inzwischen auch.
Zu Hause erzählte ich jedem, der es hören wollte und auch denjenigen, die es weniger interessierte, dass ich ab sofort nur noch Max hieß und ein Junge war.
In der Schule lief es wider Erwarten recht unproblematisch. Mum hielt Wort und sprach mit dem Direx. Sie besaß wirklich einen ziemlich guten Draht zu ihm. Das einzige zu lösende Problem war der Sportunterricht. Der Direktor kam extra deshalb in unsere Klasse, erklärte den anderen, um was es ging und erwartete, dass ihm keiner widersprach. Ich sollte mich bei den Jungs ganz normal wie jeder andere umziehen. Die Angelegenheit war also von höchster Stelle geklärt.
Mit einem recht mulmigen Gefühl betrat ich trotzdem am nächsten Tag die Umkleide vorm Sportunterricht. Mit den meisten Jungs spielte ich schon am Nachmittag im Fußballverein und dort zogen wir uns immer zusammen um. Allerdings duschten wir zu Hause. Hier in der Schule duschten wir nach dem Sportunterricht, wenn danach noch andere Stunden auf dem Plan standen. Ich schmiss bewusst cool meine Sporttasche auf die nächste freie Bank.
Andreas war zwei Köpfe größer als ich, kam auf mich zu und baute sich wie ein Schrank vor mir auf. „Du, Graf, wehe du fasst mich nachher beim Duschen an!“
Ich blickte überrascht hoch und konterte: „Andy, was soll ich denn da anfassen? Da ist doch nichts!“ Die ganze Klasse begann zu grölen. Alarmiert von unserem Krach kam Herr Schaaf hereingestürzt.
„Was ist hier los! Zack, Zack, meine Herren, an die Ringe. Ihr wollt doch noch Fußballspielen.“ Er sah auf mich herab und witzelte: „Ihr habt ja nun den künftigen Star von Bayern München in der Mannschaft. Max, ich will nachher Tore von dir sehen. Und wenn möglich, mehr Ruhe bitte. Die anderen Klassen möchten noch etwas vom Unterricht mitbekommen!“
Ich sah Andy an und flüsterte: „Das glaubt auch nur der!“
Er grinste. „Hast du das eben ernst gemeint? Das da bei mir nichts ist?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ne, da ist bestimmt alles okay bei dir“, und setzte traurig nach: „Ich wollte, ich wäre schon so weit!“
Andreas legte mir spontan seinen Arm um die Schulter. Was dann kam, war das Krasseste, was ich bisher in der Schule erlebt hatte. Ich war an den Ringen besser als alle anderen. Herr Schaaf nickte mir wohlwollend zu und beim Fußball stand es am Schluss Sechs zu Eins für meine Mannschaft. Drei Tore hatte ich davon geschossen. Es gab zwei Eigentore und der Gegentreffer rutschte Frank durch. Frank war unser Torwart und musste hinterher getröstet werden. Aber wir gönnten den anderen den Ehrentreffer.
Nächstes Kapitel unter "Endlich ein Junge", Fortsetzung des gesamten Romanes
Wie werden wir Junge oder Mädchen?
Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind wieder ein Kind im Alter von drei bis vier Jahren. Die Welt um Sie herum erscheint Ihnen bunt, sehr verwirrend und Erwachsene sind im Gegensatz zu Ihnen, Riesen. Sie unterscheiden Ihre Eltern von den übrigen Verwandten und von ganz fremden Menschen. Auch die eine oder andere Kindergartentante haben Sie schon kennen gelernt. Man spricht Sie mit einem Namen an. Sie spüren Ihr eigenes Ich und von den anderen Menschen erfahren Sie viel über sich selbst, Schönes und manchmal weniger Schönes: „Was bist du nur für ein hübsches kleines Mädchen!“ Oder: „Martin, du ungezogener Junge, stell die Schüssel hin und lauf nicht ständig weg!“
Sie analysieren die Aussagen. Dass Sie im Gegensatz zu den Großen klein sind, haben Sie bereits bemerkt. Aber hübsch sein, das hört sich nett an. Ungezogen weniger. Doch was ist eigentlich mit Mädchen und Junge gemeint?, fragen Sie sich überrascht. Unbewusst beginnen Sie Vergleiche zu ziehen. Sie sehen Ihre Mutter an, denken, ja, so bin ich auch. Oder, Sie begleiten Ihren Vater und merken, der ist wie Sie. Ihr Fazit: Ihre Mutter ist eine Frau, Sie ein Kind, deshalb müssen Sie ein Mädchen sein. Anders herum: Ihr Vater ist ein Mann und Sie sind in der logischen Folge ein Junge. Dabei stellen Sie fest: Die Welt um Sie herum wird viel klarer und Sie blicken immer mehr durch.
Aber was passiert mit Ihnen, wenn Sie sich mit Ihrem Vater identifizieren und somit eigentlich ein Junge sind, die Erwachsenen, allen voran Ihre Eltern, Sie jedoch wie ein Mädchen behandeln? Umgekehrt sehen Sie sich wie Ihre Mutter, sind deshalb ein Mädchen und werden von den Großen ständig für einen Jungen gehalten. Mit all den Konsequenzen, die das für ein so kleines Wesen wie Sie es sind, hat. Angefangen mit dem Vornamen, gefolgt von der Kleidung, den Spielsachen und der Entscheidung, in welche Dusche oder Umkleidekabine Sie im Schwimmbad gehen dürfen. Die Toilette nimmt ebenfalls einen bedeutsamen Platz in Ihrem Leben ein, sobald Sie sich von Ihren Windeln verabschiedet haben.
Wenn Sie also ein solches Kind sind, herzlichen Glückwunsch. Sie haben die Arschkarte gezogen. Die Welt um Sie herum wird keinesfalls klarer, je älter Sie werden. Nein, sie wird noch verwirrender. Sie stehen von morgens bis abends neben sich. Die Erwachsenen, denen Sie verzweifelt versuchen, klarzumachen, dass diese mit ihrer Geschlechtszuweisung bei Ihnen völlig auf dem Holzweg sind, ignorieren Ihre vernünftigen Einwände. Für andere Menschen zählt nur das biologische Geschlecht und das ist bei Ihnen nun mal weiblich oder männlich und steht ganz im Gegensatz zu Ihrer eigenen Wahrnehmung.
Es hilft nichts. Sie müssen die Kleidung tragen, die Ihre Eltern Ihnen geben. Wenn Sie als gefühlter Junge Glück haben, dürfen Sie mal eine Hose anziehen. Vielleicht bekommen Sie sogar das gewünschte Auto oder die heißersehnte elektrische Eisenbahn. Aber als gefühltes Mädchen werden Sie Ihre Eltern mit der Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent vergeblich darum bitten, Ihnen ebenfalls ein so hübsches Kleidchen anzuziehen, wie es Ihre Schwester trägt.
Sie sind ein Mädchen, das sich mit einem Jungenkörper herumschleppen muss. Oder sie sind ein Junge, der in einem Mädchenkörper gefangen gehalten wird. Nichts passt. Psyche, eigenes Gefühl und Erleben und das äußere biologische Geschlecht klaffen kilometerweit auseinander. Sie fangen an zu glauben, das wächst sich alles noch hin. Sie erzählen Ihren Eltern immer wieder, dass Sie anders sind als die anderen Kinder. Wenn Sie Glück haben, hören die Ihnen irgendwann zu. Und wenn Sie noch größeres Glück haben, werden Sie einem Arzt vorgestellt, der das Dilemma erkennt, in dem Sie stecken.
Nun brauchen Sie nur noch beharrlich zu wiederholen, dass Sie kein Mädchen beziehungsweise Junge sind, sondern im gegenteiligen Geschlecht gefangen gehalten werden. Lassen Sie sich dabei nicht durch die Großen beirren. Sie haben es erst einmal geschafft, zumindest für den Anfang. Man wird Sie als geschlechtlich gestört, transsexuell, transidentisch oder als alles Mögliche andere bezeichnen. Das soll Sie aber nicht weiter stören. Es ist nur wichtig, dass man Ihnen erlaubt im selbst erlebten Geschlecht aufzutreten. Ihre Körperlichkeit rutscht damit vorerst in den Hintergrund. Inzwischen gibt es Medikamente, die die Pubertät solange unterdrücken, bis Sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Mit spätestens achtzehn Jahren entscheiden Sie über die Einnahme gegengeschlechtlicher Hormone und operative Maßnahmen selbst.
Kinderzeit- glückliche Zeit?
Ich hatte furchtbare Bauchschmerzen. Nach vorn gebeugt und stöhnend schleppte ich mich zur Toilette. Die Hände drückten auf den verkrampften Unterleib. Irgendwie schaffte ich es, mir den Hosen auszuziehen und mich auf die Klobrille zu setzen. „Oh!“ Der Atem kam nur stoßweise. Solche Schmerzen waren mir in meinem bisherigen zwölfjährigen Leben noch nie untergekommen.
„Maximiliane, bist du da drinnen?“ Mia klopfte gegen die Tür. Die Antwort konnte ich gerade noch keuchen. „Ja, das tut so weh. Komm bitte herein, es ist auf.“
Unser Hausmädchen stand im nächsten Augenblick neben mir. „Da läuft Blut zwischen meinen Beinen heraus. Mia, du musst den Arzt holen, ich sterbe“, jammerte ich kläglich.
Sie strich mir zärtlich übers Haar. „Nein, mein Schatz. Du stirbst nicht. Das ist normal und passiert ab jetzt jeden Monat einmal. Du bist nun eine Frau, kleine Prinzessin.“ Sie gab mir Papier zum Abwischen und reichte mir eine dicke Hygienebinde. „Leg dir das in den Slip und geh ins Bett. Ich bringe dir eine Wärmflasche. Wenn deine Mutter von ihrer Besorgung in der Stadt zurück ist, gebe ich ihr Bescheid. Sie muss entscheiden, ob du eine Tablette gegen Regelbeschwerden einnehmen darfst.“ Seufzend schlich ich mich nach dem Toilettengang in mein Kinderzimmer zurück.
Natürlich starb ich nicht. Und doch, in gewisser Weise schon. Heute war nun geschehen, was eines Tages geschehen musste. Nach dem Sexualkundeunterricht in der Schule hatte mich meine Mutter vor einigen Wochen zur Seite genommen und aufgeklärt. Da gab es kein Herumreden über Bienchen oder Blümchen. Irgendwann, so ab dem zwölften Lebensjahr, setzte bei einem Mädchen die Pubertät ein und das bedeutete eine Brust und monatliche Blutungen.
Was für die meisten Mädchen in meiner Klasse völlig normal war, kam bei mir einer Katastrophe gleich. Solange ich denken konnte, wollte ich ein Junge sein. Meine Erinnerung reichte bis ins dritte Lebensjahr zurück.
Ich tobte durchs Schloss, spielte mit Autos, Eisenbahnen und Fußball mit den Söhnen des Hausmeisters. Meine Puppen führten ein bedeutungsloses Leben und lagen in einer fest verschlossenen Kiste in einem Schrank meines Zimmers. Mein Lieblingsspielzeug war der Gameboy, den ich von meinem älteren Vetter abgestaubt hatte, dicht gefolgt von der riesigen elektrischen Eisenbahn meines Vaters, die einen großen Teil des Dachbodens einnahm.
Mein bester Freund Jacob war der Sohn unseres Försters. Wir wuchsen gleichaltrig zusammen auf und ich verstand in den ersten Lebensjahren nie, warum Jacob Hosen trug und ich Kleider anziehen musste. Ich war schließlich wie er.
Im Dorf gehörte ich seit meinem sechsten Lebensjahr dem Fußballverein an und hatte Glück, dass es mangels Interesse keine Mädchenmannschaft gab. Ich kickte inzwischen mit großem Erfolg bei den Buben in der D-Jugend. Ab der C-Jugend müssten meine Eltern ihre schriftliche Einwilligung geben, wie unser Trainer schweren Herzens erzählte. Und nach der A-Jugend durften Mädchen nur noch in Damenmannschaften spielen, so war es Gesetz beim DFB.
Scheißgesetz! Warum machten die Leute so etwas Bescheuertes? Ich war doch ein Junge, auch wenn mein Körper dagegen sprach. Warum ist das Leben so schwer?, fragte ich mich mehr als einmal.
Ich war schließlich privilegiert geboren worden! Jedenfalls hörte ich das stets von meiner Mutter, wenn sie von mir mehr Haltung und Würde erwartete. Mein Benehmen ließ in der Tat manchmal sehr zu wünschen übrig und gehörte keinesfalls zu einer jungen Prinzessin und in meinem Fall zur einzigen Tochter des Markgrafen Maximilian Ernst von Wildenstein.
Ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein normaler Junge sein zu dürfen und mir wäre es recht gewesen, wenn mein Vater als Bürgerlicher im Knast sitzen würde. Den adeligen Stammbaum hätte ich sofort mit Freuden gegen ein gewöhnliches Jungenleben eingetauscht.
Mia half mir ins Bett und verschwand gleich darauf. Ich konnte Gerhards Stimme hören. Das Auto mit meiner Mutter hatte vor der Haupttreppe angehalten. Gerhard war unser Chauffeur. Er rief unseren Hausmeister Dietrich herbei und zeigte sicherlich wie immer auf die vielen Taschen und Pakete im Kofferraum. Der alte Dietrich seufzte danach gewöhnlich laut auf.
Wahrscheinlich war er gar nicht so alt. Für mich gab es nur junge Menschen in meinem Alter und Leute über Zwanzig. Die waren in meinen Augen senil und die meisten davon scheintot.
Weitere Stimmen, darunter auch Mias, drangen zu mir ins Kinderzimmer hinauf. Einen Moment später trat meine Mutter an mein Bett. Sie lächelte, nahm meine Hand und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
„Meine kleine Prinzessin. Du bist heute zur Frau geworden. Ich gratuliere dir, meine Süße. Das ist ein bedeutender Tag im Leben eines jungen Mädchens. Bauchschmerzen hatte ich auch immer, als ich in deinem Alter war. Damals gab es bereits gute Tabletten gegen Regelbeschwerden. Mia bringt dir gleich etwas. Ich rufe Doktor Zubrücken an und vereinbare einen Termin für uns. Er soll dich frauenärztlich untersuchen, sobald deine Periode durch ist. Vielleicht kennt er noch andere Mittel gegen die Schmerzen. Eventuell eine niedrig dosierte Pille oder Ähnliches. Wir werden ihn auf jeden Fall konsultieren.“
Ich sparte mir die Antwort. Meine Mutter war eigentlich ganz okay. Sie wollte modern und aufgeschlossen sein und überließ nichts dem Zufall. Und sie hörte gerne auf ärztlichen Rat.
Sie blickte sich um und das Lächeln verschwand augenblicklich. Missbilligend legte sich ihre Stirn in Falten. Ich ahnte den Grund. In meinem Zimmer war wohl seit ewigen Zeiten nicht mehr aufgeräumt worden. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals hier richtig aufgeräumt zu haben. Solange ich fand, was ich suchte, erschien es mir nicht nötig, etwas am Zustand meines privaten Reiches zu ändern.
„Mia wird dir bei nächster Gelegenheit helfen und dann wird dieser Stall mal entrümpelt! Kind, wie kannst du in solch einer Unordnung leben? Wie willst du jemals einen anständigen Mann finden und deinen eigenen Haushalt führen, wenn du nicht einmal in der Lage bist, ein einzelnes Zimmer in Ordnung zu halten? Weißt du, wie viel Arbeit die vielen Räume unseres Schlosses machen?“
Ich stöhnte auf. Eine neue Welle Bauchschmerzen rollte auf mich zu, die allerdings nicht von der Regel herrührte. Nein, bitte nicht! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Nur nicht wieder die alte Leier! Ständig hielt mir meine Mutter meine Unordnung unter die Nase. Ich konnte doch nichts dafür. Ich war halt zum Messi geboren.
„Bei Vater sagst du nie etwas. Er ist genauso ein Chaot wie ich, aber er findet alles wieder, was er braucht und sucht. Und das tue ich auch. Mum, ich bin keine Prinzessin, sieh es endlich ein. Wenn überhaupt, bin ich ein Prinz und mit dem Namen Max ist alles okay. Ich bin ein Junge und ich möchte als Junge leben. Und ich bin unordentlich und ich möchte unordentlich bleiben. Und… ich fühle mich damit genauso wohl wie Dad.“
Meine Mutter schüttelte wie erwartet entnervt den Kopf. Die englischen Bezeichnungen fand ich einfach cool. Weil wir Verwandte in Britannien hatten, bemühte ich mich immer, gebildet zu erscheinen und etwas Englisch in unsere Gespräche einfließen zu lassen.
„Ach, Maxi, was mach ich nur mit dir?“
Ich setzte meine beste Unschuldsmiene auf. „Ich weiß auch nicht, Mami, aber vorhin, als ich das schreckliche Blut aus meinem Körper kommen sah, wäre ich am liebsten gestorben. Mir fehlt das Teil, das zu einem Jungen gehört. Mein Körper und mein Gefühl passen nicht zusammen. Da muss bei meiner Geburt irgendetwas vollkommen falsch gelaufen sein.“
Mutter sah mich traurig an und ging. Am frühen Abend konnte ich mich dank ihrer Medikation wieder etwas bewegen. Also trieb ich mich wie gewöhnlich im Stall herum und besuchte mein Pony Chester. Ich sprach leise mit ihm. Chester und ich waren die dicksten Freunde. Er kannte meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte und er besaß, was ich nicht hatte: Einen Penis.
Sicher, er wusste nichts davon, dass er mal als Hengst zur Welt gekommen war und irgendjemand dem armen Kerl im Babyalter die Männlichkeit geraubt und ihn zum Wallach gemacht hatte. Wir beide aber waren auf diese Weise verhinderte und irgendwie auch behinderte Jungen geworden. Und das gemeinsame Schicksal schweißte uns zusammen.
Ein Geräusch, ich zuckte zusammen. Papa stand plötzlich hinter mir in der Box. Schreck lass nach, ich atmete tief durch. Aber es war alles paletti. Ruhe, Max, dachte ich. Es ist seine Zeit. Er machte abends immer seinen Rundgang im Pferdestall, wenn er nicht selbst ritt.
Doch etwas war heute Abend anders mit ihm, das konnte ich deutlich spüren. Er legte nachdenklich den Arm um mich, was er sonst nie tat. Seine Hand drückte dabei fest auf meinen Nacken. Verwundert blickte ich zu ihm hoch.
Mein Vater gab äußerlich tatsächlich das Bild eines Grafen ab, so wie es sich viele Menschen vorstellten. Hochgewachsen, schlank, muskulös, mit einem sonnengebräunten Gesicht durch die viele Arbeit auf den Feldern und in unserem Wald, stand er neben mir in der Haltung eines stolzen Edelmannes, aus der Zeit als Bayern noch Königreich war.
Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich auf Anhieb in ihn verliebt hatte, obwohl es eine arrangierte Ehe war. Adel kam in diesem Fall zu verarmtem Adel. Mutter war eine Baronesse von Scheele. Ihr elterliches Gut blieb in Ostpreußen zurück und nach dem Krieg stand die Familie buchstäblich vor dem Nichts. Da kam die Ehe mit meinem Vater gerade richtig.
Entgegen seiner Gewohnheiten schmuste er heute nicht mit mir. Es stand plötzlich etwas Unbekanntes zwischen uns. Respekt, Achtung und… eine besondere Form von Liebe. Das gefiel mir. Ungewohnt, aber schön. Die Art seines Umgangs beschrieb Klarheit, Geradlinigkeit, wie auf einer Offiziersschule. Ich musste unwillkürlich lächeln.
Vater war Hauptmann der Reserve bei der Bundeswehr. Behandelte er mich nicht gerade wie einen Kadetten? Ich versuchte, genauso männlich und gehorsam wie ein junger Rekrut zu wirken.
„Chester ist in guter Form. Wenn wir weiter hart trainieren, werden wir uns auf dem Turnier passabel schlagen. Eine Schleife und Platzierung sollten diesmal drinnen sein“, bemerkte ich siegesgewiss und klopfte meinem Pferd zärtlich den Hintern.
„Komm nach dem Abendessen mit deinem Wochenplan zu mir ins Arbeitszimmer. Wir werden einiges umstellen, du brauchst mehr Zeit mit ihm. Wieweit ist das Taekwondo-Training? Du musst sicher in den Griffen und Tritten sein, damit du dich im Kampf mit anderen Jungen schützen kannst. Etwas Drill und militärischer Gehorsam kann zudem nie schaden. Ich werde dir Unterricht geben, wie ich ihn selbst im Internat erhalten habe. Du wirst als Junge den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen. Das ist eine große Verantwortung, denn du erbst die Firma. Du bist dann Arbeitgeber für hundertzwölf Menschen und ihre Familien. Adel verpflichtet, Max. Das ist nicht nur eine hohle Floskel.“
Vater sah mich ernst an. Uff, waren das Töne! So kannte ich meinen alten Herrn gar nicht. Der behandelte mich tatsächlich wie einen Jungen! So sprach ein Vater mit seinem Nachfolger.
Waas? Ich war weiblich, zumindest körperlich, da biss nun mal keine Maus einen Faden ab und unser Hausgesetz erforderte strikt die männliche Erbfolge. Vater war nach unserem Gespräch längst weiter in den Stutenstall gegangen. Da stand ich nun wie vom Blitz gerührt mit großen Augen und offenem Mund.
Ich kämpfte jetzt seit meinem dritten Lebensjahr darum, ein Junge sein zu dürfen, und er hatte das stets ignoriert. Keiner hatte mich bisher ernst genommen. Was war bloß in ihn gefahren? Das unausgegorene Gespräch mit meiner Mutter vom Mittag fiel mir ein. Sollte sich Mutter mit ihm unterhalten haben? Hatte sie ihre Meinung vielleicht geändert? Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad gemacht?
„Max, du sollst ins Haus kommen und dich waschen. Es gibt Abendessen!“
Ich blickte automatisch in die Richtung, aus der die Stimme kam. Robert rief mir die Botschaft über die Stallgasse zu. Er war einer unserer drei Stallburschen. Ich gab Chester noch schnell einen Kuss auf die Nüstern und warf ihm frisches Heu in die Box.
Eine Viertelstunde später stand ich um sieben Uhr in sauberen Hosen und mit gewaschenen Händen im Esszimmer. Für uns war durch mehrere Raumteiler ein gemütliches Zimmer entstanden, welches trotzdem noch sehr groß erschien. Die lange Tafel erinnerte an Zechgelage auf einer Ritterburg aus längst vergangener Zeit.
Wildenstein war im sechzehnten Jahrhundert von einem meiner Vorfahren als Raubritterburg gebaut worden. Meine Ahnen waren ziemlich blutrünstig gewesen, hatten als Ritter für Könige und deutsche Kaiser gekämpft. Das brachte dem Chef des Hauses im siebzehnten Jahrhundert den Titel eines Markgrafen und Burg Wildenstein als Lehen ein. Nach einem großen Brand 1760, ließen sie das Gut wiederaufbauen.
Aber die einstige Ritterburg wich einem schlossähnlichen Gebäude, das jetzt unter Denkmalschutz stand und Unmengen an Geld verschlang, wie ich meinen Vater oft stöhnen hörte. Der Bankier aus unserer Kreisstadt gehörte fast schon zur Familie.
Gewohnheitsmäßig ging ich erst zu Mutter an den Tisch. Sie sah unauffällig auf meine Finger und nickte mit dem Kopf. Ich durfte mich setzen. Mutter nickte mir abermals zu.
„Herr Jesus, wir danken dir für diese Speisen. Komm, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Und hilf allen Menschen auf der Erde genug Nahrung zu bekommen und satt zu werden. Amen.“
Das Tischgebet gehörte als fester Bestandteil zu unserem Leben. Wir waren katholisch, wie in Bayern üblich. Und es galt als selbstverständlich, dass ich als Kind das Gebet sprach. Wobei ich leider das einzige Kind war und diese Aufgabe nicht weiter nach unten delegieren konnte. Aber ich hatte mich inzwischen damit arrangiert.
Mia kam herein, reichte Vater die Suppe, der die schwere Terrine einen Moment später an Mutter weitergab. Ich hielt ihr, wie immer, meinen Teller vor.
„Nein, Adelheid, lass ihn sich selbst auffüllen. Er ist kein Kind mehr und muss lernen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen.“
„Du hast recht, Liebling“, hörte ich meine Mutter antworten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was in aller Welt war in die Erwachsenen gefahren? Waren meine Eltern auf einmal plemplem geworden? Ich nahm die schwere Schüssel, die ich gerade noch so eben halten konnte und füllte mir eine Kelle köstlich duftender Spargelsuppe auf. Hatte ich mich verhört oder sprach mein Vater tatsächlich in der männlichen Form von mir? Verwirrt aß ich betont konzentriert meinen Teller leer und bemühte mich beim Hauptgang keine unpassenden Geräusche zu machen. Es gab Rehrücken. Vater hatte den Bock bei der letzten Jagd geschossen. Das Wildbret schmeckte ausgezeichnet. Der Nachtisch in Form von Erdbeereis fand schnell seinen Weg in meinen Magen.
Es galt ebenfalls in unserer Familie als selbstverständlich, dass bei Tisch nur das Nötigste gesprochen wurde. Mit mehr als fünf Pfund im Mund sollte man nicht mehr reden, pflegte meine Erzieherin Ludovika immer zu sagen. Ich dachte traurig an das ältliche Fräulein, das mich die ersten Lebensjahre fast noch liebevoller betreut hatte, als meine Mutter. Freiin Ludovika war vor einem halben Jahr gestorben und hatte eine große Lücke in meinem jungen Leben hinterlassen.
„Nun denn. Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Hast du deinen Wochenplan dabei, Max?“ Ich schrak auf. Ja, hatte ich. Mein Stundenplan glich eigentlich dem eines Topmanagers. Freizeit war darauf ein Fremdwort. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Spielen für die kindliche Entwicklung wichtig sei. Bei mir schien in dieser Hinsicht etliches anders zu laufen.
„Ja, Vater. Ich habe ihn hier.“ Ich stand auf und wollte bereits losgehen, als sich meine Mutter zu Wort meldete.
„Maximilian, du willst doch gerne ein Junge sein oder habe ich da etwas falsch verstanden? Als Mann gehört es sich, einer Dame den Stuhl zu rücken. Und Knaben können nicht früh genug damit anfangen, gutes Benehmen zu lernen. Ich warte, mein Sohn.“ Boar! Das war eine Ansage. Was war denn jetzt passiert? Ich schluckte schuldbewusst.
„Ja, Mutter, entschuldige bitte. Ich war unachtsam.“ Wie es sich gehörte, trat ich hinter sie und zog den Stuhl zur Seite, damit sie bequem aufstehen konnte. Nur nichts mehr falsch machen, ratterte es in meinem Kopf. Schnell schob ich mich vor meine Mutter und hielt ihr, wie ein junger Gentleman, die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters auf. Der schmunzelte.
„Geht doch“, meinte er und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich half meiner Mutter in den Sessel. Vater lächelte immer noch. Gespannt setzte ich mich und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Mutter sah mich liebevoll an.
„Max, wir haben dich sehr lieb und wir wollen nur das Beste für dich. Natürlich haben Papa und ich seit langer Zeit mit Sorge bemerkt, dass du ein Problem mit deinem weiblichen Geschlecht hast. Ich habe nach unserem Gespräch heute Mittag meine Freundin Christine angerufen. Sie ist Psychologin, wie du weißt.“ Ja, wusste ich. Eigentlich ‘ne ganz Nette.
Sie kam uns ein paarmal besuchen und wäre dabei einmal fast in den Schlossteich gefallen, als ich ihr zeigen wollte, wie man die Karpfen mit dem Catcher fangen konnte. Aber sie hatte mich nicht verraten und gesagt, dass sie selbst zu nah ans Wasser gegangen war und dadurch nasse Schuhe bekommen hatte.
„Nun, Christine erklärte mir, dass es eine solche, wie sie sich ausdrückte Geschlechtsidentitätsstörung, tatsächlich gibt und die Ärzte dies in der Regel als Transsexualität oder Transidentität bezeichnen. Es ist das sichere innere Gefühl, im falschen Geschlecht geboren zu sein.“ Ich starrte meine Mutter an.
„Ja, das sag ich doch, Mum!“ Erschrocken schwieg ich im nächsten Augenblick, ich wollte nicht vorlaut wirken. Aber Mutter lächelte. Okay, alles paletti.
„Christine bestätigte mir, dass bereits Kinder in sehr jungen Jahren wissen, dass sie dem anderen, als ihrem Geburtsgeschlecht angehören. Sie gab mir die Telefonnummer einer Kollegin in München, die dort als Kinder- und Jugendpsychologin tätig ist und darüber hinaus eine Nummer aus Hamburg. Dort gibt es eine Praxis, die Kindern und Eltern in solchen Fällen medizinisch hilft. Vater und ich sind übereingekommen, den geraden ärztlichen Weg zu gehen und Hilfe zu suchen, anstatt selbst herumzudoktern. Christine gab mir den Rat, zunächst auf dich einzugehen und deinem Wunsch zu entsprechen. Wir sollen dich ernst nehmen. Das bedeutet also für uns und für dich, dass sowohl Vater als auch ich und alle anderen Personen im Schloss, dich künftig mit männlichem Vornamen ansprechen und dich wie einen Jungen behandeln, wenn du das möchtest. Ich lasse mir so bald als möglich Termine bei den Ärzten geben. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“ Mutter blickte Vater zufrieden an.
Der wurde sehr ernst. „Ich denke natürlich genauso wie deine Mutter und bin froh, dass dein Problem, sagen wir‘s mal so, jetzt bei den Hörnern gepackt wird. Alles andere wäre erzieherisch falsch und würde mehr schaden als nützen. Allerdings gibt es einiges zu bedenken. Max, es ist ein Unterschied, ob du mein Sohn oder bitte nicht falsch verstehen, nur meine Tochter bist. Wir sind zwar menschlich nicht anders als alle anderen Leute, dennoch gibt es in Adelskreisen Besonderheiten. Das Hausgesetz gehört dazu. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass nur der älteste Sohn den Titel und das Schloss erbt. Bist du eine Tochter, darfst du dich mit Gräfin ansprechen lassen. Um dich testamentarisch als Schlosserbin einsetzen zu können, bedarf es aber der Zustimmung deines Onkels Ludwig. Als mein jüngerer Bruder würde er sonst Schloss und Titel bekommen, wenn ich kinderlos sterbe, also ohne Sohn und Erben. Onkel Ludwig hat mit deinem Vetter Hubertus einen Sohn, der wiederum in die nächste Erbfolge eintreten kann. Wir haben uns vor langer Zeit über dich und die Nachfolge unterhalten. Damals stand fest, dass deine Mutter keine weiteren Kinder haben wird und mir so ein Sohn verwehrt bliebe. Onkel Ludwig war damit einverstanden, dass du das Schloss erhältst und der Titel verfällt. Es ist in Deutschland so, dass Nobilitierungen nicht mehr vorgenommen werden, denn wir sind keine Monarchie mehr. Damit sterben Adelshäuser oft aus, wenn keine männlichen Erben geboren werden. In unserem Hausgesetz besteht die Möglichkeit, dass der Titel solange ruht, bis wieder ein männliches Kind zur Welt kommt. Du würdest also nicht selbst offiziell Gräfin Wildenstein werden, den Titel aber an deinen Sohn vererben dürfen. Das ist vom Namen des Vaters unabhängig, solange dieser adliger Abstammung ist.“
Meine Augen waren während Vaters Worte immer größer geworden und ich musste mir eingestehen, dass ich ungefähr nur ein Viertel davon verstand. Hubertus war mein Vetter. Sechzehn Jahre alt und ein ganz passabler Typ. Er spielte Fußball wie ich und ritt ganz ordentlich. Mein Onkel Ludwig arbeitete im Management eines bayerischen Autokonzerns. Ich mochte ihn. Die ganze Familie war relativ unkompliziert, nur Tante Friederike übertrieb zeitweilig. Aber mit Hubertus verstand ich mich gut und das schien mir die Hauptsache zu sein. Was das Ganze mit Erbe und Hausgesetze anging, war mir ehrlich gesagt, alles ziemlich Latte.
Ich versuchte dennoch ein interessiertes Gesicht zu machen. Wenigstens rangen sich meine Eltern endlich dazu durch, mich als das anzusehen, was ich war. Ein Junge, und kein Mädchen. Vater verzog die Lippen, als ob er mich verstanden hatte.
„Ich weiß, dass ist alles sehr schwer für dich zu begreifen. Du wirst in ein paar Jahren besser Bescheid wissen. Nur kommt eine Menge Verantwortung auf Dich zu, wenn du tatsächlich mein Sohn werden solltest. Max, das Leben als Mann stellt andere Anforderungen an dich als das Leben einer Frau. Mutter und ich wollen dir zunächst einmal, unabhängig von den ärztlichen Gesprächen, die Gelegenheit geben, herauszufinden, ob du wirklich als Junge leben willst und kannst. Mutter wird zeitgleich Termine bei den Ärzten einholen und wir wollen zuerst nach Hamburg fahren. Ich habe gelesen, dass man heute Kindern dadurch hilft, dass die biologische Pubertät durch eine Spritze unterdrückt wird und sich das Kind im gefühlten Geschlecht erst einmal entwickeln kann, ohne das körperliche Veränderungen in die eine oder andere Richtung geschehen. Wenn du volljährig bist, darfst du dich selbst entscheiden, als was du leben willst. Nur diese Entscheidung ist nicht mehr rückgängig zu machen, wenn du dich zur Operation entschließt. Aber da werden wir mit den Hamburger Fachärzten sprechen. Ich denke, das ist erst einmal alles für heute. Oder, Adelheid?“
Meine Mutter überlegte kurz.
„Ja, Max, dein Geschlechtswechsel wird zunächst nur hier zuhause stattfinden. Du darfst allerdings deine Sporttrainer einweihen. Sie können mich anrufen, wenn sie Fragen haben. Ich werde ihnen alles erklären. Mit der Schule bleibt es vorerst wie es ist, denke ich. Wir müssen zunächst mit den Ärzten sprechen und ich möchte unbedingt, dass dich die Kinderpsychologin sieht und uns berät. Wenn sie meint, dass du als Junge in die Schule gehen sollst, werden wir uns mit dem Direktor unterhalten.“
Vater und Mutter nickten einander zu.
„Darf ich ganz schnell zu Chester laufen und ihm die Neuigkeit erzählen?“, rief ich überglücklich aus.
„Klar“, hörte ich meinen Vater sagen, der mir meinen Wochenstundenplan abnahm, um ihn zu ändern. Ich rannte derweil die Treppe hinunter.
„Chester, ich bin endlich ein Junge!“ Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich im Stall mein Pony drückte. Chester stupste mich mit seinen weichen Nüstern an, leckte über meine Wange und ließ seine Zunge in meine Jackentasche gleiten. Ein letztes Leckerli konnte ich ihm noch heraus pulen. Er schnaufte dankbar.
Mit dem Ärmel wischte ich über meine feuchten Augen. Oh shit. Ich war doch ein Raubritter und die kannten weder Schmerz noch Tränen. Mit zwölf Jahren lernte man damals als Knappe bereits Fechten. Ein Junge hatte nicht zu heulen. Okay, das musste ich mir also schnellstens abgewöhnen, wobei ziemlich viele aus meiner Klasse dicht am Wasser gebaut waren und schon bei Kleinigkeiten flennten.
Moritz zum Beispiel, war gestern mit dem Fahrrad auf die Schnauze gefallen und sein Gebrüll konnte man am anderen Ende des Dorfes hören. Der war Dreizehn! Nein, eine Memme würde ich nicht sein. Ich war hart im Nehmen und trug das Blut derer von Wildenstein in mir.
Chester bekam noch eine Handvoll Heu. Eine halbe Stunde später lag ich als der künftige Markgraf Maximilian August Ludwig (ich hieß tatsächlich Auguste Ludovika) im Bett und versprach im Abendgebet, meinem Titel alle Ehre zu machen.
Am nächsten Tag holte mich die Realität ein. Die Mathearbeit kam zwar mit einer zwei Plus zurück und ich freute mich bereits auf das Gesicht meines Vaters, der sich damit immer etwas schwer getan hatte. Ich musste mich zum Sportunterricht wie üblich im Umkleideraum der Mädchen umziehen. Igitt, was für Ziegen und Hennen meckerten und gluckten da um mich herum.
„Maximiliane, du siehst umwerfend aus, in deinem wunderschönen Jungenhemd, du wirst sicher mal Schönheitskönigin“, rief Martina mir hämisch zu. Alle Weiber lachten wie auf Kommando. Nur Daniela saß still auf ihrem Platz. Sie stand mir stets zur Seite. Vielleicht, weil sie selbst sehr pummelig war und mit der Zahnspange nicht gerade zu den hübschesten Mädchen gehörte. Sie wusste, was Mobbing hieß. Ich hatte genug von den Zicken. Groß baute ich mich vor Martina auf.
„Vor ein paar hundert Jahren hätte ich nicht gezögert, eine wie dich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Königin werde ich sicher nie, höchstens König. Du wirst es bereuen, mich heute geärgert zu haben“, erklärte ich erhaben und selbstsicher.
Martina kicherte. „Ich werde dich in einen Regenwurm verwandeln, du edler Prinz. Hex, hex.“ Oh, wie ich die Kuh hasste!
Unsere Sportlehrerin Frau Miersbach, kam herein und scheuchte uns in die Gymnastikhalle an die Keulen. Am liebsten hätte ich so ein Ding der Hexe Martina als Stolperfalle zwischen die Beine geworfen. Und die Jungs durften nach den Übungen am Barren Fußballspielen. Wie ungerecht das war! Aber auch der schlimmste Schulvormittag geht einmal vorbei und nach den Hausaufgaben stand von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr das Training mit Chester an.
Er sprang wie eine Eins und gab mir mein angeknackstes Selbstvertrauen zurück. Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Rad und fuhr ins Dorf. Beim Kampftraining war ich endgültig wieder der Alte. Und als ich nach dem Abendessen mit Mutter Klavier übte, hatte ich den ersten Tag als Junge relativ gut überstanden. Mutter überraschte mich mit einem Termin in Hamburg in einer Woche. Ich würde dafür vom Unterricht befreit werden, sagte sie.
Am nächsten Morgen sah ich, wie sie im Zimmer des Schuldirektors verschwand. In der großen Pause kam ein Junge aus der Oberstufe zu mir, als ich mit zwei Freunden aus meiner Klasse Autoquartett spielte. Ich sollte zum Direx kommen. Auch das noch. Ich war stinkig, denn ich hatte gerade eine Glückssträhne gehabt. Auf dem Zahnfleisch kriechend klopfte ich an der Höhle des Löwen an, weil ich beim besten Willen nicht wusste, was ich nun wieder ausgefressen haben sollte. Schreck! Mum war immer noch da. Aber sie lächelte und der Direx sah freundlich aus.
„Max, komm näher. Deine Mutter hat mir eben von deinem Problem erzählt. Eine Ahnung hatte ich bereits. Aber als Lehrer mischen wir uns selten in familiäre Belange, passen nur bei körperlicher oder seelischer Misshandlung auf. Ich habe deiner Mutter erklärt, dass wir uns jedem ärztlichen Attest fügen werden. Falls die Ärzte dich also als Jungen einstufen, werden wir dich entsprechend hier führen, auch wenn du noch nicht operiert bist. Bayern bedeutet nicht automatisch von vorgestern zu sein. Wie das in der Praxis aussehen wird, beim Sport hauptsächlich, bespreche ich zu gegebener Zeit mit den Fachlehrern. Also, wenn es an dem ist, erwarte ich von meinem dann männlichen Schüler, Graf Maximilian von Wildenstein, entsprechend gräfliches Verhalten und weiterhin gute Leistungen. Du weißt: Adel verpflichtet. Und der Bonus, den Mädchen nun mal haben, weil sie Mädchen sind, der ist bei Ihnen futsch, mein Prinz. Haben wir uns verstanden?“
Meine Mutter konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Ich spielte freudestrahlend mit.
„Ja, Herr Direktor. Ich werde mich bemühen, denselben Blödsinn zu machen, wie alle anderen Jungen. Und mit der Strafe zu leben wie die anderen.“
„Raus, ab in deine Klasse!“ Ich hörte nur noch, wie die beiden in schreiendes Gelächter ausbrachen.
Geil! Endlich war ich am Ziel! Überglücklich ließ ich die kommende Woche vergehen. Am Dienstag fuhren wir alle drei mit dem ICE nach Hamburg. Wir mussten zunächst nach München. Mit dem Auto wären das 180 km gewesen. Vater beschloss, den Regionalzug zu nehmen und Gerhard mit dem Auto wieder zum Schloss zu schicken. Der ICE stand auf dem Münchner Hauptbahnhof bereit. War das aufregend! Den Bahnhof hatte man vollständig überdacht, so dass bei Regen niemand nass werden konnte. Es liefen ganz viele Menschen an uns vorbei. Mutter behielt den Überblick. Sie lotste uns zum richtigen Zug. Beinahe hätte sie sich mit Vater gestritten, der meinte, wir wären auf dem falschen Bahnsteig. Mum hatte Karten für die erste Wagenklasse bestellt. Als ich endlich auf meinem Platz saß, fragte ich den Schaffner, was das für ein komischer Kasten war, der am Sitz vor mir hing. Er erzählte es mir lachend. Mutter kaufte bei ihm Kopfhörer und ich durfte den Film ‚Findet Nemo‘, darin sehen. Die Reise war echt super. Nach dem Film wurde ich ziemlich müde und schlummerte vor mich hin, bis Mum mich weckte.
Der Hauptbahnhof in Hamburg erschien noch gigantischer als der in München. Mutter sagte, wir müssten bis Altona durchfahren. Vater nahm mich sicherheitshalber an die Hand, als wir aus dem Zug stiegen. Die Arztpraxis lag nahe am Bahnhof, wir mussten also nicht weit laufen.
Die Anmeldung und der erste Kontakt zu Doktor Reimers, der mich von nun an für viele Jahre durchs Leben begleiten sollte, verliefen null Problemo. Mir wurde Blut abgenommen, ich musste in ein Glas pinkeln und wurde gemessen und gewogen. Zwischendurch sollte ich Tests machen, Bilder beschreiben, was ich in den Klecksen sah und so, und am Schluss saßen wir alle zusammen bei Dr. Reimers im Sprechzimmer. Der war wirklich nett.
„Also, Max. Du wirkst auf mich nicht wie ein Mädchen. Aber der Reihe nach. Du bist körperlich und geistig kerngesund. Es gibt keine Auffälligkeiten im Blut und die körperliche weibliche Entwicklung ist völlig altersgemäß. Normalerweise erwarten die Patienten vom Arzt nicht nur die Diagnose, sondern einen Vorschlag zur Behandlung, also Medikamente oder den Rat zu einer Operation. Bei Transsexualität ist das etwas anders. Wir müssen deine Entwicklung abwarten. Du zeigst zwar untrügliche Anzeichen einer Frau zu Mann transsexuellen Prägung, aber wie wirst du mit achtzehn Jahren darüber denken? Wir können dir jetzt damit helfen, dass wir die biologische körperliche Entwicklung nicht noch schlimmer werden lassen. Deine Brust ist noch wenig entwickelt und die Regel hat gerade erst eingesetzt. Es gibt die Möglichkeit, deine weibliche Pubertät zu stoppen. Das bedeutet, du bekommst keine Blutung mehr und das weitere Brustwachstum wird verhindert. Dazu erhältst du in regelmäßigen Abständen von mir eine Spritze. Dann lassen wir die Jahre vergehen. Du, Max, entweder als gefühlter Maximilian oder als gefühlte Maximiliane, bestimmst dabei den Weg. Willst du als Junge leben, kleidest du dich entsprechend und bittest deine Eltern, dich wie einen Jungen zu behandeln. Willst du wieder ein Mädchen sein, teilst du uns das mit und lebst dein körperlich angeborenes Geschlecht. Du entscheidest, und niemand anderes. Niemand darf dich deswegen mobben. Es gibt auch beim Schwimmen oder in der Umkleidekabine keine Veranlassung in dir keinen Jungen zu sehen, wenn du es so willst. Das Leben ist allerdings kein Ponyhof, denn die gesellschaftlichen Anforderungen an einen Jungen sind andere als an ein Mädchen. Aber ich glaube, das Problem haben deine Eltern bestens im Griff. Die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung mit Testosteron beginne ich frühestens ab dem siebzehnten Lebensjahr, wenn eine gewisse geistige Reife vorhanden ist. Die hat wenig oder gar nichts mit der pubertären körperlichen Reife zu tun. Unser Gehirn besteht aus vielen Teilen. Kinder leben aus dem sogenannten limbischen System heraus, in dem die Gefühle liegen. Vorne am Kopf beginnt der Vordere Cortex, da sitzt das schlussfolgernde Denken. Zwischen dem dreizehnten und dem einundzwanzigsten Lebensjahr verbinden sich beide Teile miteinander. Die Gefühle werden also an die Einsichtsfähigkeit gekoppelt. Ein Erwachsener weiß, dass er niemanden ungestraft verhauen darf, nur weil er sauer auf ihn ist. Mit der biologischen körperlichen Entwicklung hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn es anders wäre, dürfte keiner, bei dem Hormonstörungen auftreten, mit Achtzehn den Führerschein machen. Ich gebe dir die nächsten Jahre Zeit, dich zu finden und werde dich nach deinen Wünschen fragen. Zwischen uns beiden wird ein Vertrauensverhältnis wachsen. Bist du mit siebzehn Jahren der Auffassung, dass du den Rest deines Lebens als Junge verbringen willst, setzen wir die Spritze ab und du bekommst männliche Hormone, die du nach der geschlechtsangleichenden Operation lebenslang einnehmen musst. Darüber sprechen wir aber ausführlich, wenn es soweit ist. Hast du noch Fragen?“ Nein, hatte ich nicht. Das war alles zu schön um wahr zu sein. Ich war endlich ein Junge geworden. Mehr wollte ich nicht. „Ich hätte da noch etwas“, sagte mein Vater. „Wenn sich Max später entscheidet, doch lieber als Frau leben zu wollen, kann er dann trotz der Spritzen noch Kinder bekommen?“ Dr. Reimers lächelte. Er schien über die Frage hoch erfreut zu sein. „Ja, selbstverständlich. Die Spritze verhindert, dass die biologische Entwicklung beginnt. Wird sie abgesetzt, erfolgt die normale Pubertät im somatischen Geschlecht. Erst die Gabe gegengeschlechtlicher Hormone bewirkt bleibende körperliche Veränderungen, wie Bartwuchs und Stimmbruch, also die Ausprägung sekundärer männlicher Geschlechtsmerkmale.“
Er schaute von einem zum anderen. „Weitere Fragen?“ Meine Eltern sahen einander an. „Wann bekommt Max die erste Spritze und können Sie mir eine Bescheinigung darüber ausstellen, die ich der Schule vorlegen kann?“, fragte meine Mutter. Dr. Reimers nickte. „Die gibt Ihnen gleich meine Sprechstundenhilfe. Die Spritze kann ich ihm sofort geben. Sie erhalten den nächsten Termin in drei Monaten.“
Ich war hellwach. Das fühlte sich an wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. „Whow, danke!“ Mehr brachte ich im Überschwang meines Glückes nicht heraus.
Die plötzliche Unruhe meiner Mutter bemerkte ich nicht. Erst als mein Vater seine Hand auf die ihre legte und meinte, „Liebling, ist noch etwas?“, drehte ich mich zu ihr um. Mutter sah mich zärtlich an. „Maximilian, da gibt es in der Tat eine wichtige Sache, die wir jetzt noch mit dem Doktor besprechen müssen.“ Sie atmete tief ein. „Mein liebes Kind. Wenn dir Dr. Reimers hilft und deine weibliche Pubertät mithilfe von Medikamenten unterdrückt, bedeutet das, dass du dich nicht weiter zur Frau entwickeln wirst. Wenn du eines Tages männliche Hormone erhältst, müssen im Anschluss deine weiblichen Organe, also deine Eierstöcke und deine Gebärmutter entfernt werden. Der Operateur wird dir Penis sowie Hoden formen und dein Körper wird sich dem, eines jungen Mannes stark annähern, so dass niemand im normalen Leben merkt, dass du als Mädchen geboren wurdest. Doch eines wirst du nie können: Max, du wirst nie eigene Kinder haben.“
Liebevoll strich sie über mein Haar und legte ihre Hand danach auf den Arm meines Vaters. Den Kopf senkend fuhr sie leise fort. „Max, du bist unser einziges Kind. Ich bekam kurz nach deiner Geburt Krebs und meine Gebärmutter musste entfernt werden. Somit konnte ich deinem Vater keinen Sohn und Erben mehr schenken. Du wirst als unser Sohn vielleicht den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen dürfen, aber unser Adelsgeschlecht wird mit dir aussterben.“ So bewegt hatte ich meine Mutter noch nie erlebt. Ihre bedeutungsvollen Worte hallten in meinem Kopf nach und lösten eine Lawine von Gedanken aus.
Daran hatte ich nie gedacht. Ich werde nach meiner Operation der letzte Graf Wildenstein nach der vierhundertjährigen Geschichte unseres Hauses sein. Langsam wurde mir die Tragweite der Entscheidung bewusst, die ich vor wenigen Minuten bedenkenlos getroffen und die mich bereits in den Olymp hinaufgehoben hatte. Erschrocken blickte ich von einem zum anderen. Dr. Reimers schien einen Augenblick konzentriert nachzudenken. Mein Vater wollte etwas erwidern, doch der Doc kam ihm zuvor.
„Gräfin, Sie ahnen gar nicht, was Sie angestoßen haben. Ich habe schon öfters Gespräche mit älteren operierten Transidenten geführt, die, als sie mit allem durch waren, ihre Unfruchtbarkeit bedauerten. Die Geschlechtsanpassung hat einen hohen Preis. Aber es muss eine Lösung geben. Ich habe da eine Idee!
Von unserem Gynäkologen hier im Haus, Herrn Dr. Malinka, weiß ich, dass er Ehepaaren hilft, die mit unerfülltem Kinderwunsch zu ihm kommen. Es gibt viele Ursachen dafür. Manchmal entnimmt der Kollege den Frauen Eizellen und bringt sie außerhalb des Körpers in der Reagenzschale mit dem Samen des Ehemannes zusammen. War dies erfolgreich, setzt er der Frau das befruchtete Ei ein und in den meisten Fällen wird eine normale Schwangerschaft daraus. Die überzähligen Eizellen friert er ein und kann später ein weiteres Kind auf diese Art zeugen. Es gibt auch junge Frauen, die ihre Eizellen einfrieren lassen, weil sie wissen, dass sie aufgrund ihres Studiums und Berufs erst spät Mutter werden können. Wenn wir Max Eizellen entnehmen könnten und einfrieren, dann wäre er in der Lage, sie in vitro befruchten zu lassen und seiner Ehefrau einzusetzen. Das Kind wäre zwar nicht aus seiner Samenzelle, sondern aus seiner Eizelle entstanden, aber er kann als Vater angesehen werden. Die Frauen machen das bereits häufig. Sie lassen ihre Spermien noch vor der Hormonbehandlung einfrieren und da die meisten in lesbischen Beziehungen leben, trägt die Partnerin den Nachwuchs aus. Das Problem wird die rechtliche Anerkennung sein. Doch das müsste von einer Familie zu gegebener Zeit durchgeklagt werden. Die Ehefrau ist rechtlich die Mutter, auch wenn das Ei nicht von ihr stammt. Transidenten haben meines Erachtens nach dem Grundgesetz dasselbe Recht Eltern zu werden und sich fortzupflanzen, wie alle anderen auch.“
Ich hatte mit großen Augen zugehört. Das meiste verstand ich sogar. Meine Mutter und mein Vater blickten sich erstaunt an. Mein Vater legte seinen Arm um mich. „Max, was meinst du? Wollen wir mit diesem Arzt sprechen?“ Ja, die Idee klang gut. Ich nickte erleichtert mit dem Kopf. „Ich rufe eben oben an, dann können Sie sich möglicherweise gleich bei Dr. Malinka vorstellen. Ich kann dir aber unter diesen Umständen heute noch keine Spritze geben, Max“, meinte Doktor Reimers und griff zum Telefonhörer. Mein Vater lächelte zufrieden. „Das wäre großartig. Max, du merkst wahrscheinlich gar nichts davon, weil sie dir eine Kurznarkose geben. Und später stehen dir alle Optionen offen.“
Das Telefonat überstieg leider meine bisherigen Lateinkenntnisse. Herr Reimers legte auf. „Du hast gehört, Max. Du darfst mit deinen Eltern einmal die Treppe hochgehen und zu Dr. Malinka in die Praxis kommen. Wir sehen uns danach und besprechen das weitere Vorgehen.“ Er stand auf und brachte uns zur Tür. Mutter steuerte auf den Fahrstuhl zu. Ich fühlte viel zu viel Kraft in mir und war wohl mit Vater auf einer Wellenlänge. Wir nahmen die Treppe und machten einen Wettlauf draus. Oben angekommen ordneten wir uns beide, schnauften aus und spazierten mit Mutter durch die Glastür zum Tresen. Wir brauchten gar nicht viel sagen. „Einen kleinen Moment, noch. Nehmen Sie kurz im Wartezimmer Platz. Ich rufe Sie gleich rein“, meinte die dunkelhaarige Sprechstundenhilfe und lächelte mich freundlich an. Nach zehn Minuten saßen wir vor Dr. Malinka. Er war genauso nett wie Dr. Reimers. Ich fühlte mich wohl und gut aufgehoben. Meine Eltern ließen sich beraten, während ich zu träumen anfing und aus dem Fenster sah. Hamburg war schon eine aufregende Stadt. Ich wusste, dass es Eisbahnen gab und einen riesigen Hafen. Aber auch einen berühmten Zoo. Ich erwachte erst, als meine Mutter mich kurz an stupste. „Max, ich weiß, du bist müde. Aber, du musst jetzt ein wenig zuhören, was Herr Doktor Malinka uns erzählt. Es geht ja um dich!“ Japp, das war klar. Wir waren nicht zum Spaß mit dem Zug nach Hamburg gefahren. „Möchtest du etwas trinken, Max? Einen Orangensaft vielleicht? Schau mal, da drüben stehen ganz viele kleine Flaschen.“ Dr, Malinka schmunzelte. Wirklich, in der Sitzecke hinter mir standen umgedrehte Gläser und sechs bunte kleine Flaschen auf einem Glastisch. Hach! Zweimal brauchte mich niemand zu bitten. Der Kirschsaft hatte es mir angetan. Ich schraubte sofort den Deckel auf. Herrlich, das Getränk rann meine trockene Kehle hinunter. Aber die Fläschchen waren sehr klein. Da war gleich die Zweite fällig. Diesmal musste der Apfelsaft dran glauben. Ich spürte einen wohl bekannten Blick auf mir ruhen. Okay, Mum, ich weiß was sich gehört. Artig setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Der Doktor lächelte verständnisvoll.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, begann er zu erklären. „Wir können Eizellen aus dem vorpubertären Körper entnehmen oder aus dem bereits entwickelten. Normalerweise haben die Patienten Blutungen, so dass reife Eier in die Eileiter wandern. Wir entnehmen die Zellen während einer kurzen Narkose mit einer kleinen Kanüle durch die Bauchdecke. Es ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Die Zellen werden mikroskopisch untersucht und in Amsterdam eingefroren. Die Kosten sind geringer als hier in Deutschland. Das Problem bei Max ist, dass wir nicht wissen, wie er sich später entwickeln wird. Wenn er mit einer Frau zusammenleben will, kann sie nach künstlicher Befruchtung das Kind austragen. Das geht auch hier in Deutschland. Falls Max aber mit einem Mann zusammen lebt, werden beide eine Leihmutter brauchen. Das ist bei uns noch nicht erlaubt und deshalb nimmt unser Labor in Holland die weitere Betreuung vor. Dort ist die nichtkommerzielle Leihmutterschaft möglich. Darüber müssen wir uns heute noch keinen Kopf machen. Wir brauchen für die Entnahme ungefähr 25 Eizellen. Dazu gebe ich den Frauen ein spezielles Medikament, welches mehrere Eisprünge auslöst. Nach der letzten Regel wäre es bei dir in vierzehn Tagen soweit. Ich mache das in meiner Klinik und du kannst gleich im Anschluss wieder nach Hause fahren. Die erste Spritze gebe ich dir dann auch. Die Folgetermine hast du bei Dr. Reimers.“
Meine Eltern sahen mich an. „Max, es liegt bei dir. Ich übernehme die Kosten und muss ohnehin Rücksprache mit unserer Krankenversicherung nehmen. Du entscheidest und niemand anders“, sagte mein Vater ernst. Schade, dann wurde es heute noch nichts, mit dem neuen Leben als Junge. Aber ich hatte bereits eine gefühlte Ewigkeit darauf gewartet, dass mir weitere vierzehn Tage erträglich erschienen. „Ja, das machen wir so.“ „Gut, ich spreche gleich mit Dr. Reimers und den Termin sowie alle Unterlagen erhaltet ihr von meiner Sprechstundenhilfe.“ Der Doktor stand auf, gab erst mir und danach meinen Eltern die Hand. Wenig später trafen wir Dr. Reimers auf dem Flur seiner Praxis. Er wünschte uns Glück und überreichte meiner Mutter eine Karte, auf der der erste richtige Spritzentermin bei ihm vermerkt war. Als wir draußen vor der Tür standen, fühlte ich trotzdem, wie sich mein Leben zu verändern begann.
Ich drückte meine Eltern fest und Tränen schimmerten plötzlich in meinen Augen. „Danke, Mum. Danke, Dad. Ihr habt mir ein neues Leben geschenkt. Ich bin endlich ich selbst.“ Wortlos nahmen sie mich in die Mitte, einer hielt meine linke Hand, der andere die rechte. Das Gefühl war unbeschreiblich schön. Ich stand so viele Jahre neben mir und nun hatte sich endlich mein Herzenswunsch erfüllt. Mein Vater bemerkte, dass er Hunger habe. Ja, den hatte ich inzwischen auch.
Zu Hause erzählte ich jedem, der es hören wollte und auch denjenigen, die es weniger interessierte, dass ich ab sofort nur noch Max hieß und ein Junge war.
In der Schule lief es wider Erwarten recht unproblematisch. Mum hielt Wort und sprach mit dem Direx. Sie besaß wirklich einen ziemlich guten Draht zu ihm. Das einzige zu lösende Problem war der Sportunterricht. Der Direktor kam extra deshalb in unsere Klasse, erklärte den anderen, um was es ging und erwartete, dass ihm keiner widersprach. Ich sollte mich bei den Jungs ganz normal wie jeder andere umziehen. Die Angelegenheit war also von höchster Stelle geklärt.
Mit einem recht mulmigen Gefühl betrat ich trotzdem am nächsten Tag die Umkleide vorm Sportunterricht. Mit den meisten Jungs spielte ich schon am Nachmittag im Fußballverein und dort zogen wir uns immer zusammen um. Allerdings duschten wir zu Hause. Hier in der Schule duschten wir nach dem Sportunterricht, wenn danach noch andere Stunden auf dem Plan standen. Ich schmiss bewusst cool meine Sporttasche auf die nächste freie Bank.
Andreas war zwei Köpfe größer als ich, kam auf mich zu und baute sich wie ein Schrank vor mir auf. „Du, Graf, wehe du fasst mich nachher beim Duschen an!“
Ich blickte überrascht hoch und konterte: „Andy, was soll ich denn da anfassen? Da ist doch nichts!“ Die ganze Klasse begann zu grölen. Alarmiert von unserem Krach kam Herr Schaaf hereingestürzt.
„Was ist hier los! Zack, Zack, meine Herren, an die Ringe. Ihr wollt doch noch Fußballspielen.“ Er sah auf mich herab und witzelte: „Ihr habt ja nun den künftigen Star von Bayern München in der Mannschaft. Max, ich will nachher Tore von dir sehen. Und wenn möglich, mehr Ruhe bitte. Die anderen Klassen möchten noch etwas vom Unterricht mitbekommen!“
Ich sah Andy an und flüsterte: „Das glaubt auch nur der!“
Er grinste. „Hast du das eben ernst gemeint? Das da bei mir nichts ist?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ne, da ist bestimmt alles okay bei dir“, und setzte traurig nach: „Ich wollte, ich wäre schon so weit!“
Andreas legte mir spontan seinen Arm um die Schulter. Was dann kam, war das Krasseste, was ich bisher in der Schule erlebt hatte. Ich war an den Ringen besser als alle anderen. Herr Schaaf nickte mir wohlwollend zu und beim Fußball stand es am Schluss Sechs zu Eins für meine Mannschaft. Drei Tore hatte ich davon geschossen. Es gab zwei Eigentore und der Gegentreffer rutschte Frank durch. Frank war unser Torwart und musste hinterher getröstet werden. Aber wir gönnten den anderen den Ehrentreffer.
Nächstes Kapitel unter "Endlich ein Junge", Fortsetzung des gesamten Romanes
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