Im falschen Geschlecht

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Ruedipferd

Mitglied
1.Teil

Wie werden wir Junge oder Mädchen?


Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind wieder ein Kind im Alter von drei bis vier Jahren. Die Welt um Sie herum erscheint Ihnen bunt, sehr verwirrend und Erwachsene sind im Gegensatz zu Ihnen, Riesen. Sie unterscheiden Ihre Eltern von den übrigen Verwandten und von ganz fremden Menschen. Auch die eine oder andere Kindergartentante haben Sie schon kennen gelernt. Man spricht Sie mit einem Namen an. Sie spüren Ihr eigenes Ich und von den anderen Menschen erfahren Sie viel über sich selbst, Schönes und manchmal weniger Schönes: „Was bist du nur für ein hübsches kleines Mädchen!“ Oder: „Martin, du ungezogener Junge, stell die Schüssel hin und lauf nicht ständig weg!“

Sie analysieren die Aussagen. Dass Sie im Gegensatz zu den Großen klein sind, haben Sie bereits bemerkt. Aber hübsch sein, das hört sich nett an. Ungezogen weniger. Doch was ist eigentlich mit Mädchen und Junge gemeint?, fragen Sie sich überrascht. Unbewusst beginnen Sie Vergleiche zu ziehen. Sie sehen Ihre Mutter an, denken, ja, so bin ich auch. Oder, Sie begleiten Ihren Vater und merken, der ist wie Sie. Ihr Fazit: Ihre Mutter ist eine Frau, Sie ein Kind, deshalb müssen Sie ein Mädchen sein. Anders herum: Ihr Vater ist ein Mann und Sie sind in der logischen Folge ein Junge. Dabei stellen Sie fest: Die Welt um Sie herum wird viel klarer und Sie blicken immer mehr durch.

Aber was passiert mit Ihnen, wenn Sie sich mit Ihrem Vater identifizieren und somit eigentlich ein Junge sind, die Erwachsenen, allen voran Ihre Eltern, Sie jedoch wie ein Mädchen behandeln? Umgekehrt sehen Sie sich wie Ihre Mutter, sind deshalb ein Mädchen und werden von den Großen ständig für einen Jungen gehalten. Mit all den Konsequenzen, die das für ein so kleines Wesen wie Sie es sind, hat. Angefangen mit dem Vornamen, gefolgt von der Kleidung, den Spielsachen und der Entscheidung, in welche Dusche oder Umkleidekabine Sie im Schwimmbad gehen dürfen. Die Toilette nimmt ebenfalls einen bedeutsamen Platz in Ihrem Leben ein, sobald Sie sich von Ihren Windeln verabschiedet haben.

Wenn Sie also ein solches Kind sind, herzlichen Glückwunsch. Sie haben die Arschkarte gezogen. Die Welt um Sie herum wird keinesfalls klarer, je älter Sie werden. Nein, sie wird noch verwirrender. Sie stehen von morgens bis abends neben sich. Die Erwachsenen, denen Sie verzweifelt versuchen, klarzumachen, dass diese mit ihrer Geschlechtszuweisung bei Ihnen völlig auf dem Holzweg sind, ignorieren Ihre vernünftigen Einwände. Für andere Menschen zählt nur das biologische Geschlecht und das ist bei Ihnen nun mal weiblich oder männlich und steht ganz im Gegensatz zu Ihrer eigenen Wahrnehmung.

Es hilft nichts. Sie müssen die Kleidung tragen, die Ihre Eltern Ihnen geben. Wenn Sie als gefühlter Junge Glück haben, dürfen Sie mal eine Hose anziehen. Vielleicht bekommen Sie sogar das gewünschte Auto oder die heißersehnte elektrische Eisenbahn. Aber als gefühltes Mädchen werden Sie Ihre Eltern mit der Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent vergeblich darum bitten, Ihnen ebenfalls ein so hübsches Kleidchen anzuziehen, wie es Ihre Schwester trägt.

Sie sind ein Mädchen, das sich mit einem Jungenkörper herumschleppen muss. Oder sie sind ein Junge, der in einem Mädchenkörper gefangen gehalten wird. Nichts passt. Psyche, eigenes Gefühl und Erleben und das äußere biologische Geschlecht klaffen kilometerweit auseinander. Sie fangen an zu glauben, das wächst sich alles noch hin. Sie erzählen Ihren Eltern immer wieder, dass Sie anders sind als die anderen Kinder. Wenn Sie Glück haben, hören die Ihnen irgendwann zu. Und wenn Sie noch größeres Glück haben, werden Sie einem Arzt vorgestellt, der das Dilemma erkennt, in dem Sie stecken.

Nun brauchen Sie nur noch beharrlich zu wiederholen, dass Sie kein Mädchen beziehungsweise Junge sind, sondern im gegenteiligen Geschlecht gefangen gehalten werden. Lassen Sie sich dabei nicht durch die Großen beirren. Sie haben es erst einmal geschafft, zumindest für den Anfang. Man wird Sie als geschlechtlich gestört, transsexuell, transidentisch oder als alles Mögliche andere bezeichnen. Das soll Sie aber nicht weiter stören. Es ist nur wichtig, dass man Ihnen erlaubt im selbst erlebten Geschlecht aufzutreten. Ihre Körperlichkeit rutscht damit vorerst in den Hintergrund. Inzwischen gibt es Medikamente, die die Pubertät solange unterdrücken, bis Sie das Erwachsenenalter erreicht haben. Mit spätestens achtzehn Jahren entscheiden Sie über die Einnahme gegengeschlechtlicher Hormone und operative Maßnahmen selbst.



Kinderzeit- glückliche Zeit?

Ich hatte furchtbare Bauchschmerzen. Nach vorn gebeugt und stöhnend schleppte ich mich zur Toilette. Die Hände drückten auf den verkrampften Unterleib. Irgendwie schaffte ich es, mir den Hosen auszuziehen und mich auf die Klobrille zu setzen. „Oh!“ Der Atem kam nur stoßweise. Solche Schmerzen waren mir in meinem bisherigen zwölfjährigen Leben noch nie untergekommen.
„Maximiliane, bist du da drinnen?“ Mia klopfte gegen die Tür. Die Antwort konnte ich gerade noch keuchen. „Ja, das tut so weh. Komm bitte herein, es ist auf.“
Unser Hausmädchen stand im nächsten Augenblick neben mir. „Da läuft Blut zwischen meinen Beinen heraus. Mia, du musst den Arzt holen, ich sterbe“, jammerte ich kläglich.

Sie strich mir zärtlich übers Haar. „Nein, mein Schatz. Du stirbst nicht. Das ist normal und passiert ab jetzt jeden Monat einmal. Du bist nun eine Frau, kleine Prinzessin.“ Sie gab mir Papier zum Abwischen und reichte mir eine dicke Hygienebinde. „Leg dir das in den Slip und geh ins Bett. Ich bringe dir eine Wärmflasche. Wenn deine Mutter von ihrer Besorgung in der Stadt zurück ist, gebe ich ihr Bescheid. Sie muss entscheiden, ob du eine Tablette gegen Regelbeschwerden einnehmen darfst.“ Seufzend schlich ich mich nach dem Toilettengang in mein Kinderzimmer zurück.

Natürlich starb ich nicht. Und doch, in gewisser Weise schon. Heute war nun geschehen, was eines Tages geschehen musste. Nach dem Sexualkundeunterricht in der Schule hatte mich meine Mutter vor einigen Wochen zur Seite genommen und aufgeklärt. Da gab es kein Herumreden über Bienchen oder Blümchen. Irgendwann, so ab dem zwölften Lebensjahr, setzte bei einem Mädchen die Pubertät ein und das bedeutete eine Brust und monatliche Blutungen.

Was für die meisten Mädchen in meiner Klasse völlig normal war, kam bei mir einer Katastrophe gleich. Solange ich denken konnte, wollte ich ein Junge sein. Meine Erinnerung reichte bis ins dritte Lebensjahr zurück.

Ich tobte durchs Schloss, spielte mit Autos, Eisenbahnen und Fußball mit den Söhnen des Hausmeisters. Meine Puppen führten ein bedeutungsloses Leben und lagen in einer fest verschlossenen Kiste in einem Schrank meines Zimmers. Mein Lieblingsspielzeug war der Gameboy, den ich von meinem älteren Vetter abgestaubt hatte, dicht gefolgt von der riesigen elektrischen Eisenbahn meines Vaters, die einen großen Teil des Dachbodens einnahm.

Mein bester Freund Jacob war der Sohn unseres Försters. Wir wuchsen gleichaltrig zusammen auf und ich verstand in den ersten Lebensjahren nie, warum Jacob Hosen trug und ich Kleider anziehen musste. Ich war schließlich wie er.

Im Dorf gehörte ich seit meinem sechsten Lebensjahr dem Fußballverein an und hatte Glück, dass es mangels Interesse keine Mädchenmannschaft gab. Ich kickte inzwischen mit großem Erfolg bei den Buben in der D-Jugend. Ab der C-Jugend müssten meine Eltern ihre schriftliche Einwilligung geben, wie unser Trainer schweren Herzens erzählte. Und nach der A-Jugend durften Mädchen nur noch in Damenmannschaften spielen, so war es Gesetz beim DFB.

Scheißgesetz! Warum machten die Leute so etwas Bescheuertes? Ich war doch ein Junge, auch wenn mein Körper dagegen sprach. Warum ist das Leben so schwer?, fragte ich mich mehr als einmal.

Ich war schließlich privilegiert geboren worden! Jedenfalls hörte ich das stets von meiner Mutter, wenn sie von mir mehr Haltung und Würde erwartete. Mein Benehmen ließ in der Tat manchmal sehr zu wünschen übrig und gehörte keinesfalls zu einer jungen Prinzessin und in meinem Fall zur einzigen Tochter des Markgrafen Maximilian Ernst von Wildenstein.

Ich wünschte mir nichts sehnlicher als ein normaler Junge sein zu dürfen und mir wäre es recht gewesen, wenn mein Vater als Bürgerlicher im Knast sitzen würde. Den adeligen Stammbaum hätte ich sofort mit Freuden gegen ein gewöhnliches Jungenleben eingetauscht.

Mia half mir ins Bett und verschwand gleich darauf. Ich konnte Gerhards Stimme hören. Das Auto mit meiner Mutter hatte vor der Haupttreppe angehalten. Gerhard war unser Chauffeur. Er rief unseren Hausmeister Dietrich herbei und zeigte sicherlich wie immer auf die vielen Taschen und Pakete im Kofferraum. Der alte Dietrich seufzte danach gewöhnlich laut auf.

Wahrscheinlich war er gar nicht so alt. Für mich gab es nur junge Menschen in meinem Alter und Leute über Zwanzig. Die waren in meinen Augen senil und die meisten davon scheintot.

Weitere Stimmen, darunter auch Mias, drangen zu mir ins Kinderzimmer hinauf. Einen Moment später trat meine Mutter an mein Bett. Sie lächelte, nahm meine Hand und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Meine kleine Prinzessin. Du bist heute zur Frau geworden. Ich gratuliere dir, meine Süße. Das ist ein bedeutender Tag im Leben eines jungen Mädchens. Bauchschmerzen hatte ich auch immer, als ich in deinem Alter war. Damals gab es bereits gute Tabletten gegen Regelbeschwerden. Mia bringt dir gleich etwas. Ich rufe Doktor Zubrücken an und vereinbare einen Termin für uns. Er soll dich frauenärztlich untersuchen, sobald deine Periode durch ist. Vielleicht kennt er noch andere Mittel gegen die Schmerzen. Eventuell eine niedrig dosierte Pille oder Ähnliches. Wir werden ihn auf jeden Fall konsultieren.“

Ich sparte mir die Antwort. Meine Mutter war eigentlich ganz okay. Sie wollte modern und aufgeschlossen sein und überließ nichts dem Zufall. Und sie hörte gerne auf ärztlichen Rat.

Sie blickte sich um und das Lächeln verschwand augenblicklich. Missbilligend legte sich ihre Stirn in Falten. Ich ahnte den Grund. In meinem Zimmer war wohl seit ewigen Zeiten nicht mehr aufgeräumt worden. Jedenfalls konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals hier richtig aufgeräumt zu haben. Solange ich fand, was ich suchte, erschien es mir nicht nötig, etwas am Zustand meines privaten Reiches zu ändern.

„Mia wird dir bei nächster Gelegenheit helfen und dann wird dieser Stall mal entrümpelt! Kind, wie kannst du in solch einer Unordnung leben? Wie willst du jemals einen anständigen Mann finden und deinen eigenen Haushalt führen, wenn du nicht einmal in der Lage bist, ein einzelnes Zimmer in Ordnung zu halten? Weißt du, wie viel Arbeit die vielen Räume unseres Schlosses machen?“

Ich stöhnte auf. Eine neue Welle Bauchschmerzen rollte auf mich zu, die allerdings nicht von der Regel herrührte. Nein, bitte nicht! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Nur nicht wieder die alte Leier! Ständig hielt mir meine Mutter meine Unordnung unter die Nase. Ich konnte doch nichts dafür. Ich war halt zum Messi geboren.

„Bei Vater sagst du nie etwas. Er ist genauso ein Chaot wie ich, aber er findet alles wieder, was er braucht und sucht. Und das tue ich auch. Mum, ich bin keine Prinzessin, sieh es endlich ein. Wenn überhaupt, bin ich ein Prinz und mit dem Namen Max ist alles okay. Ich bin ein Junge und ich möchte als Junge leben. Und ich bin unordentlich und ich möchte unordentlich bleiben. Und… ich fühle mich damit genauso wohl wie Dad.“

Meine Mutter schüttelte wie erwartet entnervt den Kopf. Die englischen Bezeichnungen fand ich einfach cool. Weil wir Verwandte in Britannien hatten, bemühte ich mich immer, gebildet zu erscheinen und etwas Englisch in unsere Gespräche einfließen zu lassen.

„Ach, Maxi, was mach ich nur mit dir?“

Ich setzte meine beste Unschuldsmiene auf. „Ich weiß auch nicht, Mami, aber vorhin, als ich das schreckliche Blut aus meinem Körper kommen sah, wäre ich am liebsten gestorben. Mir fehlt das Teil, das zu einem Jungen gehört. Mein Körper und mein Gefühl passen nicht zusammen. Da muss bei meiner Geburt irgendetwas vollkommen falsch gelaufen sein.“

Mutter sah mich traurig an und ging. Am frühen Abend konnte ich mich dank ihrer Medikation wieder etwas bewegen. Also trieb ich mich wie gewöhnlich im Stall herum und besuchte mein Pony Chester. Ich sprach leise mit ihm. Chester und ich waren die dicksten Freunde. Er kannte meine ganze Lebens- und Leidensgeschichte und er besaß, was ich nicht hatte: Einen Penis.

Sicher, er wusste nichts davon, dass er mal als Hengst zur Welt gekommen war und irgendjemand dem armen Kerl im Babyalter die Männlichkeit geraubt und ihn zum Wallach gemacht hatte. Wir beide aber waren auf diese Weise verhinderte und irgendwie auch behinderte Jungen geworden. Und das gemeinsame Schicksal schweißte uns zusammen.

Ein Geräusch, ich zuckte zusammen. Papa stand plötzlich hinter mir in der Box. Schreck lass nach, ich atmete tief durch. Aber es war alles paletti. Ruhe, Max, dachte ich. Es ist seine Zeit. Er machte abends immer seinen Rundgang im Pferdestall, wenn er nicht selbst ritt.

Doch etwas war heute Abend anders mit ihm, das konnte ich deutlich spüren. Er legte nachdenklich den Arm um mich, was er sonst nie tat. Seine Hand drückte dabei fest auf meinen Nacken. Verwundert blickte ich zu ihm hoch.

Mein Vater gab äußerlich tatsächlich das Bild eines Grafen ab, so wie es sich viele Menschen vorstellten. Hochgewachsen, schlank, muskulös, mit einem sonnengebräunten Gesicht durch die viele Arbeit auf den Feldern und in unserem Wald, stand er neben mir in der Haltung eines stolzen Edelmannes, aus der Zeit als Bayern noch Königreich war.

Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich auf Anhieb in ihn verliebt hatte, obwohl es eine arrangierte Ehe war. Adel kam in diesem Fall zu verarmtem Adel. Mutter war eine Baronesse von Scheele. Ihr elterliches Gut blieb in Ostpreußen zurück und nach dem Krieg stand die Familie buchstäblich vor dem Nichts. Da kam die Ehe mit meinem Vater gerade richtig.

Entgegen seiner Gewohnheiten schmuste er heute nicht mit mir. Es stand plötzlich etwas Unbekanntes zwischen uns. Respekt, Achtung und… eine besondere Form von Liebe. Das gefiel mir. Ungewohnt, aber schön. Die Art seines Umgangs beschrieb Klarheit, Geradlinigkeit, wie auf einer Offiziersschule. Ich musste unwillkürlich lächeln.

Vater war Hauptmann der Reserve bei der Bundeswehr. Behandelte er mich nicht gerade wie einen Kadetten? Ich versuchte, genauso männlich und gehorsam wie ein junger Rekrut zu wirken.

„Chester ist in guter Form. Wenn wir weiter hart trainieren, werden wir uns auf dem Turnier passabel schlagen. Eine Schleife und Platzierung sollten diesmal drinnen sein“, bemerkte ich siegesgewiss und klopfte meinem Pferd zärtlich den Hintern.

„Komm nach dem Abendessen mit deinem Wochenplan zu mir ins Arbeitszimmer. Wir werden einiges umstellen, du brauchst mehr Zeit mit ihm. Wieweit ist das Taekwondo-Training? Du musst sicher in den Griffen und Tritten sein, damit du dich im Kampf mit anderen Jungen schützen kannst. Etwas Drill und militärischer Gehorsam kann zudem nie schaden. Ich werde dir Unterricht geben, wie ich ihn selbst im Internat erhalten habe. Du wirst als Junge den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen. Das ist eine große Verantwortung, denn du erbst die Firma. Du bist dann Arbeitgeber für hundertzwölf Menschen und ihre Familien. Adel verpflichtet, Max. Das ist nicht nur eine hohle Floskel.“

Vater sah mich ernst an. Uff, waren das Töne! So kannte ich meinen alten Herrn gar nicht. Der behandelte mich tatsächlich wie einen Jungen! So sprach ein Vater mit seinem Nachfolger.

Waas? Ich war weiblich, zumindest körperlich, da biss nun mal keine Maus einen Faden ab und unser Hausgesetz erforderte strikt die männliche Erbfolge. Vater war nach unserem Gespräch längst weiter in den Stutenstall gegangen. Da stand ich nun wie vom Blitz gerührt mit großen Augen und offenem Mund.

Ich kämpfte jetzt seit meinem dritten Lebensjahr darum, ein Junge sein zu dürfen, und er hatte das stets ignoriert. Keiner hatte mich bisher ernst genommen. Was war bloß in ihn gefahren? Das unausgegorene Gespräch mit meiner Mutter vom Mittag fiel mir ein. Sollte sich Mutter mit ihm unterhalten haben? Hatte sie ihre Meinung vielleicht geändert? Eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad gemacht?

„Max, du sollst ins Haus kommen und dich waschen. Es gibt Abendessen!“

Ich blickte automatisch in die Richtung, aus der die Stimme kam. Robert rief mir die Botschaft über die Stallgasse zu. Er war einer unserer drei Stallburschen. Ich gab Chester noch schnell einen Kuss auf die Nüstern und warf ihm frisches Heu in die Box.

Eine Viertelstunde später stand ich um sieben Uhr in sauberen Hosen und mit gewaschenen Händen im Esszimmer. Für uns war durch mehrere Raumteiler ein gemütliches Zimmer entstanden, welches trotzdem noch sehr groß erschien. Die lange Tafel erinnerte an Zechgelage auf einer Ritterburg aus längst vergangener Zeit.

Wildenstein war im sechzehnten Jahrhundert von einem meiner Vorfahren als Raubritterburg gebaut worden. Meine Ahnen waren ziemlich blutrünstig gewesen, hatten als Ritter für Könige und deutsche Kaiser gekämpft. Das brachte dem Chef des Hauses im siebzehnten Jahrhundert den Titel eines Markgrafen und Burg Wildenstein als Lehen ein. Nach einem großen Brand 1760, ließen sie das Gut wiederaufbauen.

Aber die einstige Ritterburg wich einem schlossähnlichen Gebäude, das jetzt unter Denkmalschutz stand und Unmengen an Geld verschlang, wie ich meinen Vater oft stöhnen hörte. Der Bankier aus unserer Kreisstadt gehörte fast schon zur Familie.

Gewohnheitsmäßig ging ich erst zu Mutter an den Tisch. Sie sah unauffällig auf meine Finger und nickte mit dem Kopf. Ich durfte mich setzen. Mutter nickte mir abermals zu.

„Herr Jesus, wir danken dir für diese Speisen. Komm, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Und hilf allen Menschen auf der Erde genug Nahrung zu bekommen und satt zu werden. Amen.“

Das Tischgebet gehörte als fester Bestandteil zu unserem Leben. Wir waren katholisch, wie in Bayern üblich. Und es galt als selbstverständlich, dass ich als Kind das Gebet sprach. Wobei ich leider das einzige Kind war und diese Aufgabe nicht weiter nach unten delegieren konnte. Aber ich hatte mich inzwischen damit arrangiert.

Mia kam herein, reichte Vater die Suppe, der die schwere Terrine einen Moment später an Mutter weitergab. Ich hielt ihr, wie immer, meinen Teller vor.

„Nein, Adelheid, lass ihn sich selbst auffüllen. Er ist kein Kind mehr und muss lernen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen.“

„Du hast recht, Liebling“, hörte ich meine Mutter antworten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was in aller Welt war in die Erwachsenen gefahren? Waren meine Eltern auf einmal plemplem geworden? Ich nahm die schwere Schüssel, die ich gerade noch so eben halten konnte und füllte mir eine Kelle köstlich duftender Spargelsuppe auf. Hatte ich mich verhört oder sprach mein Vater tatsächlich in der männlichen Form von mir? Verwirrt aß ich betont konzentriert meinen Teller leer und bemühte mich beim Hauptgang keine unpassenden Geräusche zu machen. Es gab Rehrücken. Vater hatte den Bock bei der letzten Jagd geschossen. Das Wildbret schmeckte ausgezeichnet. Der Nachtisch in Form von Erdbeereis fand schnell seinen Weg in meinen Magen.

Es galt ebenfalls in unserer Familie als selbstverständlich, dass bei Tisch nur das Nötigste gesprochen wurde. Mit mehr als fünf Pfund im Mund sollte man nicht mehr reden, pflegte meine Erzieherin Ludovika immer zu sagen. Ich dachte traurig an das ältliche Fräulein, das mich die ersten Lebensjahre fast noch liebevoller betreut hatte, als meine Mutter. Freiin Ludovika war vor einem halben Jahr gestorben und hatte eine große Lücke in meinem jungen Leben hinterlassen.

„Nun denn. Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Hast du deinen Wochenplan dabei, Max?“ Ich schrak auf. Ja, hatte ich. Mein Stundenplan glich eigentlich dem eines Topmanagers. Freizeit war darauf ein Fremdwort. Irgendwo hatte ich gelesen, dass Spielen für die kindliche Entwicklung wichtig sei. Bei mir schien in dieser Hinsicht etliches anders zu laufen.

„Ja, Vater. Ich habe ihn hier.“ Ich stand auf und wollte bereits losgehen, als sich meine Mutter zu Wort meldete.

„Maximilian, du willst doch gerne ein Junge sein oder habe ich da etwas falsch verstanden? Als Mann gehört es sich, einer Dame den Stuhl zu rücken. Und Knaben können nicht früh genug damit anfangen, gutes Benehmen zu lernen. Ich warte, mein Sohn.“ Boar! Das war eine Ansage. Was war denn jetzt passiert? Ich schluckte schuldbewusst.

„Ja, Mutter, entschuldige bitte. Ich war unachtsam.“ Wie es sich gehörte, trat ich hinter sie und zog den Stuhl zur Seite, damit sie bequem aufstehen konnte. Nur nichts mehr falsch machen, ratterte es in meinem Kopf. Schnell schob ich mich vor meine Mutter und hielt ihr, wie ein junger Gentleman, die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters auf. Der schmunzelte.

„Geht doch“, meinte er und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich half meiner Mutter in den Sessel. Vater lächelte immer noch. Gespannt setzte ich mich und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Mutter sah mich liebevoll an.

„Max, wir haben dich sehr lieb und wir wollen nur das Beste für dich. Natürlich haben Papa und ich seit langer Zeit mit Sorge bemerkt, dass du ein Problem mit deinem weiblichen Geschlecht hast. Ich habe nach unserem Gespräch heute Mittag meine Freundin Christine angerufen. Sie ist Psychologin, wie du weißt.“ Ja, wusste ich. Eigentlich ‘ne ganz Nette.

Sie kam uns ein paarmal besuchen und wäre dabei einmal fast in den Schlossteich gefallen, als ich ihr zeigen wollte, wie man die Karpfen mit dem Catcher fangen konnte. Aber sie hatte mich nicht verraten und gesagt, dass sie selbst zu nah ans Wasser gegangen war und dadurch nasse Schuhe bekommen hatte.

„Nun, Christine erklärte mir, dass es eine solche, wie sie sich ausdrückte Geschlechtsidentitätsstörung, tatsächlich gibt und die Ärzte dies in der Regel als Transsexualität oder Transidentität bezeichnen. Es ist das sichere innere Gefühl, im falschen Geschlecht geboren zu sein.“ Ich starrte meine Mutter an.

„Ja, das sag ich doch, Mum!“ Erschrocken schwieg ich im nächsten Augenblick, ich wollte nicht vorlaut wirken. Aber Mutter lächelte. Okay, alles paletti.

„Christine bestätigte mir, dass bereits Kinder in sehr jungen Jahren wissen, dass sie dem anderen, als ihrem Geburtsgeschlecht angehören. Sie gab mir die Telefonnummer einer Kollegin in München, die dort als Kinder- und Jugendpsychologin tätig ist und darüber hinaus eine Nummer aus Hamburg. Dort gibt es eine Praxis, die Kindern und Eltern in solchen Fällen medizinisch hilft. Vater und ich sind übereingekommen, den geraden ärztlichen Weg zu gehen und Hilfe zu suchen, anstatt selbst herumzudoktern. Christine gab mir den Rat, zunächst auf dich einzugehen und deinem Wunsch zu entsprechen. Wir sollen dich ernst nehmen. Das bedeutet also für uns und für dich, dass sowohl Vater als auch ich und alle anderen Personen im Schloss, dich künftig mit männlichem Vornamen ansprechen und dich wie einen Jungen behandeln, wenn du das möchtest. Ich lasse mir so bald als möglich Termine bei den Ärzten geben. Dann sind wir auf der sicheren Seite.“ Mutter blickte Vater zufrieden an.

Der wurde sehr ernst. „Ich denke natürlich genauso wie deine Mutter und bin froh, dass dein Problem, sagen wir‘s mal so, jetzt bei den Hörnern gepackt wird. Alles andere wäre erzieherisch falsch und würde mehr schaden als nützen. Allerdings gibt es einiges zu bedenken. Max, es ist ein Unterschied, ob du mein Sohn oder bitte nicht falsch verstehen, nur meine Tochter bist. Wir sind zwar menschlich nicht anders als alle anderen Leute, dennoch gibt es in Adelskreisen Besonderheiten. Das Hausgesetz gehört dazu. Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass nur der älteste Sohn den Titel und das Schloss erbt. Bist du eine Tochter, darfst du dich mit Gräfin ansprechen lassen. Um dich testamentarisch als Schlosserbin einsetzen zu können, bedarf es aber der Zustimmung deines Onkels Ludwig. Als mein jüngerer Bruder würde er sonst Schloss und Titel bekommen, wenn ich kinderlos sterbe, also ohne Sohn und Erben. Onkel Ludwig hat mit deinem Vetter Hubertus einen Sohn, der wiederum in die nächste Erbfolge eintreten kann. Wir haben uns vor langer Zeit über dich und die Nachfolge unterhalten. Damals stand fest, dass deine Mutter keine weiteren Kinder haben wird und mir so ein Sohn verwehrt bliebe. Onkel Ludwig war damit einverstanden, dass du das Schloss erhältst und der Titel verfällt. Es ist in Deutschland so, dass Nobilitierungen nicht mehr vorgenommen werden, denn wir sind keine Monarchie mehr. Damit sterben Adelshäuser oft aus, wenn keine männlichen Erben geboren werden. In unserem Hausgesetz besteht die Möglichkeit, dass der Titel solange ruht, bis wieder ein männliches Kind zur Welt kommt. Du würdest also nicht selbst offiziell Gräfin Wildenstein werden, den Titel aber an deinen Sohn vererben dürfen. Das ist vom Namen des Vaters unabhängig, solange dieser adliger Abstammung ist.“

Meine Augen waren während Vaters Worte immer größer geworden und ich musste mir eingestehen, dass ich ungefähr nur ein Viertel davon verstand. Hubertus war mein Vetter. Sechzehn Jahre alt und ein ganz passabler Typ. Er spielte Fußball wie ich und ritt ganz ordentlich. Mein Onkel Ludwig arbeitete im Management eines bayerischen Autokonzerns. Ich mochte ihn. Die ganze Familie war relativ unkompliziert, nur Tante Friederike übertrieb zeitweilig. Aber mit Hubertus verstand ich mich gut und das schien mir die Hauptsache zu sein. Was das Ganze mit Erbe und Hausgesetze anging, war mir ehrlich gesagt, alles ziemlich Latte.

Ich versuchte dennoch ein interessiertes Gesicht zu machen. Wenigstens rangen sich meine Eltern endlich dazu durch, mich als das anzusehen, was ich war. Ein Junge, und kein Mädchen. Vater verzog die Lippen, als ob er mich verstanden hatte.

„Ich weiß, dass ist alles sehr schwer für dich zu begreifen. Du wirst in ein paar Jahren besser Bescheid wissen. Nur kommt eine Menge Verantwortung auf Dich zu, wenn du tatsächlich mein Sohn werden solltest. Max, das Leben als Mann stellt andere Anforderungen an dich als das Leben einer Frau. Mutter und ich wollen dir zunächst einmal, unabhängig von den ärztlichen Gesprächen, die Gelegenheit geben, herauszufinden, ob du wirklich als Junge leben willst und kannst. Mutter wird zeitgleich Termine bei den Ärzten einholen und wir wollen zuerst nach Hamburg fahren. Ich habe gelesen, dass man heute Kindern dadurch hilft, dass die biologische Pubertät durch eine Spritze unterdrückt wird und sich das Kind im gefühlten Geschlecht erst einmal entwickeln kann, ohne das körperliche Veränderungen in die eine oder andere Richtung geschehen. Wenn du volljährig bist, darfst du dich selbst entscheiden, als was du leben willst. Nur diese Entscheidung ist nicht mehr rückgängig zu machen, wenn du dich zur Operation entschließt. Aber da werden wir mit den Hamburger Fachärzten sprechen. Ich denke, das ist erst einmal alles für heute. Oder, Adelheid?“

Meine Mutter überlegte kurz.

„Ja, Max, dein Geschlechtswechsel wird zunächst nur hier zuhause stattfinden. Du darfst allerdings deine Sporttrainer einweihen. Sie können mich anrufen, wenn sie Fragen haben. Ich werde ihnen alles erklären. Mit der Schule bleibt es vorerst wie es ist, denke ich. Wir müssen zunächst mit den Ärzten sprechen und ich möchte unbedingt, dass dich die Kinderpsychologin sieht und uns berät. Wenn sie meint, dass du als Junge in die Schule gehen sollst, werden wir uns mit dem Direktor unterhalten.“

Vater und Mutter nickten einander zu.

„Darf ich ganz schnell zu Chester laufen und ihm die Neuigkeit erzählen?“, rief ich überglücklich aus.

„Klar“, hörte ich meinen Vater sagen, der mir meinen Wochenstundenplan abnahm, um ihn zu ändern. Ich rannte derweil die Treppe hinunter.

„Chester, ich bin endlich ein Junge!“ Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich im Stall mein Pony drückte. Chester stupste mich mit seinen weichen Nüstern an, leckte über meine Wange und ließ seine Zunge in meine Jackentasche gleiten. Ein letztes Leckerli konnte ich ihm noch heraus pulen. Er schnaufte dankbar.

Mit dem Ärmel wischte ich über meine feuchten Augen. Oh shit. Ich war doch ein Raubritter und die kannten weder Schmerz noch Tränen. Mit zwölf Jahren lernte man damals als Knappe bereits Fechten. Ein Junge hatte nicht zu heulen. Okay, das musste ich mir also schnellstens abgewöhnen, wobei ziemlich viele aus meiner Klasse dicht am Wasser gebaut waren und schon bei Kleinigkeiten flennten.

Moritz zum Beispiel, war gestern mit dem Fahrrad auf die Schnauze gefallen und sein Gebrüll konnte man am anderen Ende des Dorfes hören. Der war Dreizehn! Nein, eine Memme würde ich nicht sein. Ich war hart im Nehmen und trug das Blut derer von Wildenstein in mir.

Chester bekam noch eine Handvoll Heu. Eine halbe Stunde später lag ich als der künftige Markgraf Maximilian August Ludwig (ich hieß tatsächlich Auguste Ludovika) im Bett und versprach im Abendgebet, meinem Titel alle Ehre zu machen.

Am nächsten Tag holte mich die Realität ein. Die Mathearbeit kam zwar mit einer zwei Plus zurück und ich freute mich bereits auf das Gesicht meines Vaters, der sich damit immer etwas schwer getan hatte. Ich musste mich zum Sportunterricht wie üblich im Umkleideraum der Mädchen umziehen. Igitt, was für Ziegen und Hennen meckerten und gluckten da um mich herum.

„Maximiliane, du siehst umwerfend aus, in deinem wunderschönen Jungenhemd, du wirst sicher mal Schönheitskönigin“, rief Martina mir hämisch zu. Alle Weiber lachten wie auf Kommando. Nur Daniela saß still auf ihrem Platz. Sie stand mir stets zur Seite. Vielleicht, weil sie selbst sehr pummelig war und mit der Zahnspange nicht gerade zu den hübschesten Mädchen gehörte. Sie wusste, was Mobbing hieß. Ich hatte genug von den Zicken. Groß baute ich mich vor Martina auf.

„Vor ein paar hundert Jahren hätte ich nicht gezögert, eine wie dich als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu lassen. Königin werde ich sicher nie, höchstens König. Du wirst es bereuen, mich heute geärgert zu haben“, erklärte ich erhaben und selbstsicher.

Martina kicherte. „Ich werde dich in einen Regenwurm verwandeln, du edler Prinz. Hex, hex.“ Oh, wie ich die Kuh hasste!

Unsere Sportlehrerin Frau Miersbach, kam herein und scheuchte uns in die Gymnastikhalle an die Keulen. Am liebsten hätte ich so ein Ding der Hexe Martina als Stolperfalle zwischen die Beine geworfen. Und die Jungs durften nach den Übungen am Barren Fußballspielen. Wie ungerecht das war! Aber auch der schlimmste Schulvormittag geht einmal vorbei und nach den Hausaufgaben stand von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr das Training mit Chester an.

Er sprang wie eine Eins und gab mir mein angeknackstes Selbstvertrauen zurück. Eine halbe Stunde später saß ich auf dem Rad und fuhr ins Dorf. Beim Kampftraining war ich endgültig wieder der Alte. Und als ich nach dem Abendessen mit Mutter Klavier übte, hatte ich den ersten Tag als Junge relativ gut überstanden. Mutter überraschte mich mit einem Termin in Hamburg in einer Woche. Ich würde dafür vom Unterricht befreit werden, sagte sie.

Am nächsten Morgen sah ich, wie sie im Zimmer des Schuldirektors verschwand. In der großen Pause kam ein Junge aus der Oberstufe zu mir, als ich mit zwei Freunden aus meiner Klasse Autoquartett spielte. Ich sollte zum Direx kommen. Auch das noch. Ich war stinkig, denn ich hatte gerade eine Glückssträhne gehabt. Auf dem Zahnfleisch kriechend klopfte ich an der Höhle des Löwen an, weil ich beim besten Willen nicht wusste, was ich nun wieder ausgefressen haben sollte. Schreck! Mum war immer noch da. Aber sie lächelte und der Direx sah freundlich aus.

„Max, komm näher. Deine Mutter hat mir eben von deinem Problem erzählt. Eine Ahnung hatte ich bereits. Aber als Lehrer mischen wir uns selten in familiäre Belange, passen nur bei körperlicher oder seelischer Misshandlung auf. Ich habe deiner Mutter erklärt, dass wir uns jedem ärztlichen Attest fügen werden. Falls die Ärzte dich also als Jungen einstufen, werden wir dich entsprechend hier führen, auch wenn du noch nicht operiert bist. Bayern bedeutet nicht automatisch von vorgestern zu sein. Wie das in der Praxis aussehen wird, beim Sport hauptsächlich, bespreche ich zu gegebener Zeit mit den Fachlehrern. Also, wenn es an dem ist, erwarte ich von meinem dann männlichen Schüler, Graf Maximilian von Wildenstein, entsprechend gräfliches Verhalten und weiterhin gute Leistungen. Du weißt: Adel verpflichtet. Und der Bonus, den Mädchen nun mal haben, weil sie Mädchen sind, der ist bei Ihnen futsch, mein Prinz. Haben wir uns verstanden?“

Meine Mutter konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Ich spielte freudestrahlend mit.

„Ja, Herr Direktor. Ich werde mich bemühen, denselben Blödsinn zu machen, wie alle anderen Jungen. Und mit der Strafe zu leben wie die anderen.“

„Raus, ab in deine Klasse!“ Ich hörte nur noch, wie die beiden in schreiendes Gelächter ausbrachen.

Geil! Endlich war ich am Ziel! Überglücklich ließ ich die kommende Woche vergehen. Am Dienstag fuhren wir alle drei mit dem ICE nach Hamburg. Wir mussten zunächst nach München. Mit dem Auto wären das 180 km gewesen. Vater beschloss, den Regionalzug zu nehmen und Gerhard mit dem Auto wieder zum Schloss zu schicken. Der ICE stand auf dem Münchner Hauptbahnhof bereit. War das aufregend! Den Bahnhof hatte man vollständig überdacht, so dass bei Regen niemand nass werden konnte. Es liefen ganz viele Menschen an uns vorbei. Mutter behielt den Überblick. Sie lotste uns zum richtigen Zug. Beinahe hätte sie sich mit Vater gestritten, der meinte, wir wären auf dem falschen Bahnsteig. Mum hatte Karten für die erste Wagenklasse bestellt. Als ich endlich auf meinem Platz saß, fragte ich den Schaffner, was das für ein komischer Kasten war, der am Sitz vor mir hing. Er erzählte es mir lachend. Mutter kaufte bei ihm Kopfhörer und ich durfte den Film ‚Findet Nemo‘, darin sehen. Die Reise war echt super. Nach dem Film wurde ich ziemlich müde und schlummerte vor mich hin, bis Mum mich weckte.

Der Hauptbahnhof in Hamburg erschien noch gigantischer als der in München. Mutter sagte, wir müssten bis Altona durchfahren. Vater nahm mich sicherheitshalber an die Hand, als wir aus dem Zug stiegen. Die Arztpraxis lag nahe am Bahnhof, wir mussten also nicht weit laufen.

Die Anmeldung und der erste Kontakt zu Doktor Reimers, der mich von nun an für viele Jahre durchs Leben begleiten sollte, verliefen null Problemo. Mir wurde Blut abgenommen, ich musste in ein Glas pinkeln und wurde gemessen und gewogen. Zwischendurch sollte ich Tests machen, Bilder beschreiben, was ich in den Klecksen sah und so, und am Schluss saßen wir alle zusammen bei Dr. Reimers im Sprechzimmer. Der war wirklich nett.

„Also, Max. Du wirkst auf mich nicht wie ein Mädchen. Aber der Reihe nach. Du bist körperlich und geistig kerngesund. Es gibt keine Auffälligkeiten im Blut und die körperliche weibliche Entwicklung ist völlig altersgemäß. Normalerweise erwarten die Patienten vom Arzt nicht nur die Diagnose, sondern einen Vorschlag zur Behandlung, also Medikamente oder den Rat zu einer Operation. Bei Transsexualität ist das etwas anders. Wir müssen deine Entwicklung abwarten. Du zeigst zwar untrügliche Anzeichen einer Frau zu Mann transsexuellen Prägung, aber wie wirst du mit achtzehn Jahren darüber denken? Wir können dir jetzt damit helfen, dass wir die biologische körperliche Entwicklung nicht noch schlimmer werden lassen. Deine Brust ist noch wenig entwickelt und die Regel hat gerade erst eingesetzt. Es gibt die Möglichkeit, deine weibliche Pubertät zu stoppen. Das bedeutet, du bekommst keine Blutung mehr und das weitere Brustwachstum wird verhindert. Dazu erhältst du in regelmäßigen Abständen von mir eine Spritze. Dann lassen wir die Jahre vergehen. Du, Max, entweder als gefühlter Maximilian oder als gefühlte Maximiliane, bestimmst dabei den Weg. Willst du als Junge leben, kleidest du dich entsprechend und bittest deine Eltern, dich wie einen Jungen zu behandeln. Willst du wieder ein Mädchen sein, teilst du uns das mit und lebst dein körperlich angeborenes Geschlecht. Du entscheidest, und niemand anderes. Niemand darf dich deswegen mobben. Es gibt auch beim Schwimmen oder in der Umkleidekabine keine Veranlassung in dir keinen Jungen zu sehen, wenn du es so willst. Das Leben ist allerdings kein Ponyhof, denn die gesellschaftlichen Anforderungen an einen Jungen sind andere als an ein Mädchen. Aber ich glaube, das Problem haben deine Eltern bestens im Griff. Die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung mit Testosteron beginne ich frühestens ab dem siebzehnten Lebensjahr, wenn eine gewisse geistige Reife vorhanden ist. Die hat wenig oder gar nichts mit der pubertären körperlichen Reife zu tun. Unser Gehirn besteht aus vielen Teilen. Kinder leben aus dem sogenannten limbischen System heraus, in dem die Gefühle liegen. Vorne am Kopf beginnt der Vordere Cortex, da sitzt das schlussfolgernde Denken. Zwischen dem dreizehnten und dem einundzwanzigsten Lebensjahr verbinden sich beide Teile miteinander. Die Gefühle werden also an die Einsichtsfähigkeit gekoppelt. Ein Erwachsener weiß, dass er niemanden ungestraft verhauen darf, nur weil er sauer auf ihn ist. Mit der biologischen körperlichen Entwicklung hat das überhaupt nichts zu tun. Wenn es anders wäre, dürfte keiner, bei dem Hormonstörungen auftreten, mit Achtzehn den Führerschein machen. Ich gebe dir die nächsten Jahre Zeit, dich zu finden und werde dich nach deinen Wünschen fragen. Zwischen uns beiden wird ein Vertrauensverhältnis wachsen. Bist du mit siebzehn Jahren der Auffassung, dass du den Rest deines Lebens als Junge verbringen willst, setzen wir die Spritze ab und du bekommst männliche Hormone, die du nach der geschlechtsangleichenden Operation lebenslang einnehmen musst. Darüber sprechen wir aber ausführlich, wenn es soweit ist. Hast du noch Fragen?“ Nein, hatte ich nicht. Das war alles zu schön um wahr zu sein. Ich war endlich ein Junge geworden. Mehr wollte ich nicht. „Ich hätte da noch etwas“, sagte mein Vater. „Wenn sich Max später entscheidet, doch lieber als Frau leben zu wollen, kann er dann trotz der Spritzen noch Kinder bekommen?“ Dr. Reimers lächelte. Er schien über die Frage hoch erfreut zu sein. „Ja, selbstverständlich. Die Spritze verhindert, dass die biologische Entwicklung beginnt. Wird sie abgesetzt, erfolgt die normale Pubertät im somatischen Geschlecht. Erst die Gabe gegengeschlechtlicher Hormone bewirkt bleibende körperliche Veränderungen, wie Bartwuchs und Stimmbruch, also die Ausprägung sekundärer männlicher Geschlechtsmerkmale.“

Er schaute von einem zum anderen. „Weitere Fragen?“ Meine Eltern sahen einander an. „Wann bekommt Max die erste Spritze und können Sie mir eine Bescheinigung darüber ausstellen, die ich der Schule vorlegen kann?“, fragte meine Mutter. Dr. Reimers nickte. „Die gibt Ihnen gleich meine Sprechstundenhilfe. Die Spritze kann ich ihm sofort geben. Sie erhalten den nächsten Termin in drei Monaten.“

Ich war hellwach. Das fühlte sich an wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. „Whow, danke!“ Mehr brachte ich im Überschwang meines Glückes nicht heraus.
Die plötzliche Unruhe meiner Mutter bemerkte ich nicht. Erst als mein Vater seine Hand auf die ihre legte und meinte, „Liebling, ist noch etwas?“, drehte ich mich zu ihr um. Mutter sah mich zärtlich an. „Maximilian, da gibt es in der Tat eine wichtige Sache, die wir jetzt noch mit dem Doktor besprechen müssen.“ Sie atmete tief ein. „Mein liebes Kind. Wenn dir Dr. Reimers hilft und deine weibliche Pubertät mithilfe von Medikamenten unterdrückt, bedeutet das, dass du dich nicht weiter zur Frau entwickeln wirst. Wenn du eines Tages männliche Hormone erhältst, müssen im Anschluss deine weiblichen Organe, also deine Eierstöcke und deine Gebärmutter entfernt werden. Der Operateur wird dir Penis sowie Hoden formen und dein Körper wird sich dem, eines jungen Mannes stark annähern, so dass niemand im normalen Leben merkt, dass du als Mädchen geboren wurdest. Doch eines wirst du nie können: Max, du wirst nie eigene Kinder haben.“
Liebevoll strich sie über mein Haar und legte ihre Hand danach auf den Arm meines Vaters. Den Kopf senkend fuhr sie leise fort. „Max, du bist unser einziges Kind. Ich bekam kurz nach deiner Geburt Krebs und meine Gebärmutter musste entfernt werden. Somit konnte ich deinem Vater keinen Sohn und Erben mehr schenken. Du wirst als unser Sohn vielleicht den Titel eines Grafen von Wildenstein tragen dürfen, aber unser Adelsgeschlecht wird mit dir aussterben.“ So bewegt hatte ich meine Mutter noch nie erlebt. Ihre bedeutungsvollen Worte hallten in meinem Kopf nach und lösten eine Lawine von Gedanken aus.

Daran hatte ich nie gedacht. Ich werde nach meiner Operation der letzte Graf Wildenstein nach der vierhundertjährigen Geschichte unseres Hauses sein. Langsam wurde mir die Tragweite der Entscheidung bewusst, die ich vor wenigen Minuten bedenkenlos getroffen und die mich bereits in den Olymp hinaufgehoben hatte. Erschrocken blickte ich von einem zum anderen. Dr. Reimers schien einen Augenblick konzentriert nachzudenken. Mein Vater wollte etwas erwidern, doch der Doc kam ihm zuvor.

„Gräfin, Sie ahnen gar nicht, was Sie angestoßen haben. Ich habe schon öfters Gespräche mit älteren operierten Transidenten geführt, die, als sie mit allem durch waren, ihre Unfruchtbarkeit bedauerten. Die Geschlechtsanpassung hat einen hohen Preis. Aber es muss eine Lösung geben. Ich habe da eine Idee!
Von unserem Gynäkologen hier im Haus, Herrn Dr. Malinka, weiß ich, dass er Ehepaaren hilft, die mit unerfülltem Kinderwunsch zu ihm kommen. Es gibt viele Ursachen dafür. Manchmal entnimmt der Kollege den Frauen Eizellen und bringt sie außerhalb des Körpers in der Reagenzschale mit dem Samen des Ehemannes zusammen. War dies erfolgreich, setzt er der Frau das befruchtete Ei ein und in den meisten Fällen wird eine normale Schwangerschaft daraus. Die überzähligen Eizellen friert er ein und kann später ein weiteres Kind auf diese Art zeugen. Es gibt auch junge Frauen, die ihre Eizellen einfrieren lassen, weil sie wissen, dass sie aufgrund ihres Studiums und Berufs erst spät Mutter werden können. Wenn wir Max Eizellen entnehmen könnten und einfrieren, dann wäre er in der Lage, sie in vitro befruchten zu lassen und seiner Ehefrau einzusetzen. Das Kind wäre zwar nicht aus seiner Samenzelle, sondern aus seiner Eizelle entstanden, aber er kann als Vater angesehen werden. Die Frauen machen das bereits häufig. Sie lassen ihre Spermien noch vor der Hormonbehandlung einfrieren und da die meisten in lesbischen Beziehungen leben, trägt die Partnerin den Nachwuchs aus. Das Problem wird die rechtliche Anerkennung sein. Doch das müsste von einer Familie zu gegebener Zeit durchgeklagt werden. Die Ehefrau ist rechtlich die Mutter, auch wenn das Ei nicht von ihr stammt. Transidenten haben meines Erachtens nach dem Grundgesetz dasselbe Recht Eltern zu werden und sich fortzupflanzen, wie alle anderen auch.“

Ich hatte mit großen Augen zugehört. Das meiste verstand ich sogar. Meine Mutter und mein Vater blickten sich erstaunt an. Mein Vater legte seinen Arm um mich. „Max, was meinst du? Wollen wir mit diesem Arzt sprechen?“ Ja, die Idee klang gut. Ich nickte erleichtert mit dem Kopf. „Ich rufe eben oben an, dann können Sie sich möglicherweise gleich bei Dr. Malinka vorstellen. Ich kann dir aber unter diesen Umständen heute noch keine Spritze geben, Max“, meinte Doktor Reimers und griff zum Telefonhörer. Mein Vater lächelte zufrieden. „Das wäre großartig. Max, du merkst wahrscheinlich gar nichts davon, weil sie dir eine Kurznarkose geben. Und später stehen dir alle Optionen offen.“

Das Telefonat überstieg leider meine bisherigen Lateinkenntnisse. Herr Reimers legte auf. „Du hast gehört, Max. Du darfst mit deinen Eltern einmal die Treppe hochgehen und zu Dr. Malinka in die Praxis kommen. Wir sehen uns danach und besprechen das weitere Vorgehen.“ Er stand auf und brachte uns zur Tür. Mutter steuerte auf den Fahrstuhl zu. Ich fühlte viel zu viel Kraft in mir und war wohl mit Vater auf einer Wellenlänge. Wir nahmen die Treppe und machten einen Wettlauf draus. Oben angekommen ordneten wir uns beide, schnauften aus und spazierten mit Mutter durch die Glastür zum Tresen. Wir brauchten gar nicht viel sagen. „Einen kleinen Moment, noch. Nehmen Sie kurz im Wartezimmer Platz. Ich rufe Sie gleich rein“, meinte die dunkelhaarige Sprechstundenhilfe und lächelte mich freundlich an. Nach zehn Minuten saßen wir vor Dr. Malinka. Er war genauso nett wie Dr. Reimers. Ich fühlte mich wohl und gut aufgehoben. Meine Eltern ließen sich beraten, während ich zu träumen anfing und aus dem Fenster sah. Hamburg war schon eine aufregende Stadt. Ich wusste, dass es Eisbahnen gab und einen riesigen Hafen. Aber auch einen berühmten Zoo. Ich erwachte erst, als meine Mutter mich kurz an stupste. „Max, ich weiß, du bist müde. Aber, du musst jetzt ein wenig zuhören, was Herr Doktor Malinka uns erzählt. Es geht ja um dich!“ Japp, das war klar. Wir waren nicht zum Spaß mit dem Zug nach Hamburg gefahren. „Möchtest du etwas trinken, Max? Einen Orangensaft vielleicht? Schau mal, da drüben stehen ganz viele kleine Flaschen.“ Dr, Malinka schmunzelte. Wirklich, in der Sitzecke hinter mir standen umgedrehte Gläser und sechs bunte kleine Flaschen auf einem Glastisch. Hach! Zweimal brauchte mich niemand zu bitten. Der Kirschsaft hatte es mir angetan. Ich schraubte sofort den Deckel auf. Herrlich, das Getränk rann meine trockene Kehle hinunter. Aber die Fläschchen waren sehr klein. Da war gleich die Zweite fällig. Diesmal musste der Apfelsaft dran glauben. Ich spürte einen wohl bekannten Blick auf mir ruhen. Okay, Mum, ich weiß was sich gehört. Artig setzte ich mich wieder auf meinen Platz. Der Doktor lächelte verständnisvoll.
„Es gibt zwei Möglichkeiten“, begann er zu erklären. „Wir können Eizellen aus dem vorpubertären Körper entnehmen oder aus dem bereits entwickelten. Normalerweise haben die Patienten Blutungen, so dass reife Eier in die Eileiter wandern. Wir entnehmen die Zellen während einer kurzen Narkose mit einer kleinen Kanüle durch die Bauchdecke. Es ist völlig schmerzlos und ungefährlich. Die Zellen werden mikroskopisch untersucht und in Amsterdam eingefroren. Die Kosten sind geringer als hier in Deutschland. Das Problem bei Max ist, dass wir nicht wissen, wie er sich später entwickeln wird. Wenn er mit einer Frau zusammenleben will, kann sie nach künstlicher Befruchtung das Kind austragen. Das geht auch hier in Deutschland. Falls Max aber mit einem Mann zusammen lebt, werden beide eine Leihmutter brauchen. Das ist bei uns noch nicht erlaubt und deshalb nimmt unser Labor in Holland die weitere Betreuung vor. Dort ist die nichtkommerzielle Leihmutterschaft möglich. Darüber müssen wir uns heute noch keinen Kopf machen. Wir brauchen für die Entnahme ungefähr 25 Eizellen. Dazu gebe ich den Frauen ein spezielles Medikament, welches mehrere Eisprünge auslöst. Nach der letzten Regel wäre es bei dir in vierzehn Tagen soweit. Ich mache das in meiner Klinik und du kannst gleich im Anschluss wieder nach Hause fahren. Die erste Spritze gebe ich dir dann auch. Die Folgetermine hast du bei Dr. Reimers.“
Meine Eltern sahen mich an. „Max, es liegt bei dir. Ich übernehme die Kosten und muss ohnehin Rücksprache mit unserer Krankenversicherung nehmen. Du entscheidest und niemand anders“, sagte mein Vater ernst. Schade, dann wurde es heute noch nichts, mit dem neuen Leben als Junge. Aber ich hatte bereits eine gefühlte Ewigkeit darauf gewartet, dass mir weitere vierzehn Tage erträglich erschienen. „Ja, das machen wir so.“ „Gut, ich spreche gleich mit Dr. Reimers und den Termin sowie alle Unterlagen erhaltet ihr von meiner Sprechstundenhilfe.“ Der Doktor stand auf, gab erst mir und danach meinen Eltern die Hand. Wenig später trafen wir Dr. Reimers auf dem Flur seiner Praxis. Er wünschte uns Glück und überreichte meiner Mutter eine Karte, auf der der erste richtige Spritzentermin bei ihm vermerkt war. Als wir draußen vor der Tür standen, fühlte ich trotzdem, wie sich mein Leben zu verändern begann.

Ich drückte meine Eltern fest und Tränen schimmerten plötzlich in meinen Augen. „Danke, Mum. Danke, Dad. Ihr habt mir ein neues Leben geschenkt. Ich bin endlich ich selbst.“ Wortlos nahmen sie mich in die Mitte, einer hielt meine linke Hand, der andere die rechte. Das Gefühl war unbeschreiblich schön. Ich stand so viele Jahre neben mir und nun hatte sich endlich mein Herzenswunsch erfüllt. Mein Vater bemerkte, dass er Hunger habe. Ja, den hatte ich inzwischen auch.

Zu Hause erzählte ich jedem, der es hören wollte und auch denjenigen, die es weniger interessierte, dass ich ab sofort nur noch Max hieß und ein Junge war.

In der Schule lief es wider Erwarten recht unproblematisch. Mum hielt Wort und sprach mit dem Direx. Sie besaß wirklich einen ziemlich guten Draht zu ihm. Das einzige zu lösende Problem war der Sportunterricht. Der Direktor kam extra deshalb in unsere Klasse, erklärte den anderen, um was es ging und erwartete, dass ihm keiner widersprach. Ich sollte mich bei den Jungs ganz normal wie jeder andere umziehen. Die Angelegenheit war also von höchster Stelle geklärt.

Mit einem recht mulmigen Gefühl betrat ich trotzdem am nächsten Tag die Umkleide vorm Sportunterricht. Mit den meisten Jungs spielte ich schon am Nachmittag im Fußballverein und dort zogen wir uns immer zusammen um. Allerdings duschten wir zu Hause. Hier in der Schule duschten wir nach dem Sportunterricht, wenn danach noch andere Stunden auf dem Plan standen. Ich schmiss bewusst cool meine Sporttasche auf die nächste freie Bank.

Andreas war zwei Köpfe größer als ich, kam auf mich zu und baute sich wie ein Schrank vor mir auf. „Du, Graf, wehe du fasst mich nachher beim Duschen an!“

Ich blickte überrascht hoch und konterte: „Andy, was soll ich denn da anfassen? Da ist doch nichts!“ Die ganze Klasse begann zu grölen. Alarmiert von unserem Krach kam Herr Schaaf hereingestürzt.

„Was ist hier los! Zack, Zack, meine Herren, an die Ringe. Ihr wollt doch noch Fußballspielen.“ Er sah auf mich herab und witzelte: „Ihr habt ja nun den künftigen Star von Bayern München in der Mannschaft. Max, ich will nachher Tore von dir sehen. Und wenn möglich, mehr Ruhe bitte. Die anderen Klassen möchten noch etwas vom Unterricht mitbekommen!“

Ich sah Andy an und flüsterte: „Das glaubt auch nur der!“

Er grinste. „Hast du das eben ernst gemeint? Das da bei mir nichts ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ne, da ist bestimmt alles okay bei dir“, und setzte traurig nach: „Ich wollte, ich wäre schon so weit!“

Andreas legte mir spontan seinen Arm um die Schulter. Was dann kam, war das Krasseste, was ich bisher in der Schule erlebt hatte. Ich war an den Ringen besser als alle anderen. Herr Schaaf nickte mir wohlwollend zu und beim Fußball stand es am Schluss Sechs zu Eins für meine Mannschaft. Drei Tore hatte ich davon geschossen. Es gab zwei Eigentore und der Gegentreffer rutschte Frank durch. Frank war unser Torwart und musste hinterher getröstet werden. Aber wir gönnten den anderen den Ehrentreffer.



Nächstes Kapitel "Endlich ein Junge", Fortsetzung des gesamten Romanes

Freitags erhielten wir am späten Nachmittag Besuch. Unser Dorfpfarrer bat darum, meine Eltern sprechen zu dürfen. Anfangs saßen die drei allein in der Bibliothek und tranken Tee. Ich hatte erst gar nichts von seiner Ankunft mitgekriegt, denn ich büffelte gerade für die nächste Lateinarbeit, als Mia zu mir ins Zimmer kam und sagte, ich möchte zu meinen Eltern kommen. Immerhin durfte ich jetzt das doofe Lateinbuch einen Augenblick zur Seite legen. Nicht schlecht, dachte ich.

„Max, wir haben Besuch von Pfarrer Lüders.“ Mein Vater nickte mir zu. Ohne mir etwas dabei zu denken, streckte ich Hochwürden die Hand aus und begrüßte ihn, wie es sich gehörte. „Ich hab den Messdienerunterricht letzten Donnerstag vergessen und bitte um Entschuldigung. Die Schule und das Reitturnier, wissen Sie. Aber ich will mich bessern und komme morgen zur Beichte. Ich hoffe, Sie und unser Herr Jesus können mir noch einmal verzeihen.“

Der Pfarrer lächelte. „Es geht nicht um den Unterricht, Maximiliane. Ich verstehe nicht, warum dich dein Vater jetzt geholt hat, das Gespräch hier ist rein erwachsener Natur.“

Hä? Ich verstand wieder nur Bahnhof. Würde mir mal einer erklären, was los ist?

Meine Mutter reagierte prompt. „Wir haben vor Max keine Geheimnisse, Hochwürden, und ich denke, es geht doch um ihn. Es geht Ihnen um unseren Sohn? Oder habe ich den Grund Ihres Besuchs missverstanden?“ Boar! Meine Mutter hatte ihrer Stimme einen Klang gegeben, der signalisierte, das mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Auch mein Vater zog die Augenbrauen hoch.

Der Pfarrer atmete aus. „Es geht nicht, dass ein Mädchen wie ein Mann behandelt wird. Wir sind alle auf unseren Platz in der Welt gestellt worden und müssen das sein, als was Gott uns erschaffen hat. Die Bibel duldet keine Abweichungen. Alles andere ist Ketzerei!“ Stille. Mein Vater hatte sich während der Rede unseres Priesters immer weiter gestreckt. Er stand auf und trat ans Fenster. „Herr Pfarrer, mein Geschlecht, und ich meine das der Wildensteiner Grafen, lebt seit mehr als vierhundert Jahren hier. Wir waren und sind katholisch und unterstützten alle bayerischen Herzöge und Könige. Wie auch den Deutschen Kaiser. Ketzerei ist ein Wort aus einer Zeit, die wir längst hinter uns gelassen haben. Es gehört hier und heute nicht mehr in unseren Sprachgebrauch. Ich bin nicht so bibelfest wie meine Frau und ich denke, dass diese Ihnen zu den anderen Vorwürfen mehr sagen kann.“

Meine Mutter stellte ihre Teetasse ab. Eine geradezu übermenschliche Kraft schien sie zu stärken und zu führen.

„Ja, das will ich gerne. Als was hat uns Gott denn erschaffen? Nun, er hat am Anfang ein Stück Lehm genommen und nach seinem Ebenbild einen Menschen geformt. Damit hatte er aber nur einen Klumpen Erde vor sich und seine Meisterleistung bestand darin, diesem Klumpen, dem er den Namen Adam gab, Leben einzuhauchen. Adam wurde ein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber was war zuerst da? Doch der Klumpen Lehm. Erst mit dem Leben, wurde ein Mensch daraus. Und was macht uns zum Menschen? Der Körper, der nur eine Hülle für unsere inneren Organe ist und allein gar nicht existieren kann? Oder das, was wir Gehirn nennen, dort wo unser Verstand sitzt? Das Gehirn steuert Hände, Arme, Beine, alle Funktionen des Körpers. Nur dadurch können wir unsere Gliedmaßen gebrauchen und denken, fühlen, lernen, sprechen. Der wichtigste Teil des Körpers ist das Gehirn und das hat Gott zum Leben erweckt. Er hat also alles richtig gemacht. Im Gehirn sitzt das Zentrum unseres Selbst und es bestimmt auch, ob wir uns als Männer oder Frauen sehen. Wer sagt überhaupt, dass ich vor einem Löwen fliehen sollte und ein Wildschwein ein leckerer Braten für mich wäre? Wer teilt mir mit, wann es Zeit ist, etwas zu essen, zu trinken oder wann ich mich ausruhen muss? Das ist einzig und allein die Leistung unseres Gehirns.

Gott hat noch etwas Schönes erschaffen. Er hat uns als Kinder auf die Welt kommen lassen. Unschuldig und in ihrer Ursprünglichkeit rein. Sündenfrei, Herr Pfarrer! Ein Kind sagt frei heraus, was es denkt. Und wenn ein kleines Kind meint, dass es ein Junge ist und dies im Widerspruch zu seinen körperlichen Geschlechtsmerkmalen steht, hat dieses Kind trotzdem erst einmal Recht. Cogito, ergo sum. Das brauche ich Ihnen sicher nicht zu übersetzen. Der Kopf bestimmt das Denken und der Kopf bestimmt das Geschlecht. Mein Sohn ist allem Anschein nach als Junge geboren worden, obwohl sein körperliches Geschlecht weiblich ist. Solange Max sagt, dass er ein Junge ist, solange wird er für mich ein Junge bleiben. Ändert er seine Meinung, soll‘s mir auch recht sein. Und niemand wird mein Kind dafür ächten. Wer das tut, bekommt es mit mir zu tun. Und glauben Sie mir, Herr Pfarrer, ich bin tatsächlich, als was ich nach außen erscheine, nämlich eine Frau. Und jetzt kommt das Wichtigste: ich bin zudem eine Mutter! Jesus hat uns alle durch sein Opfer von unseren Sünden befreit und Liebe gepredigt. Gott ist Liebe. Darf ich Ihnen noch einen Tee einschenken?“

Uff. Wenn ich nicht schon meine Mutter über alles lieben würde, hätte ich es jetzt getan. Das war superaffengeil, Mum! Du bist wirklich die Größte. Auch Vater, der sich sichtlich baff inzwischen wieder hingesetzt hatte, war etwas in seinem Sessel zusammengesunken und blickte sie bewundernd an. Es knisterte in der Luft. Ich konnte die Spannung spüren. Der Pfarrer überlegte offensichtlich seine nächsten Worte gut.

„Danke, nein. Ich muss gehen. Ich werde die Angelegenheit mit dem Bischof besprechen. Solange Maximiliane nicht als Mädchen am Messunterricht teilnehmen will, ist sie beurlaubt. Der Bischof und vielleicht Rom, wer weiß, haben das letzte Wort in dieser Angelegenheit. Auf Wiedersehen. Bemühen Sie sich nicht, ich finde selbst hinaus!“ Er stand auf und ging aus der Tür, ohne sich umzudrehen. Mutter und Vater sahen sich sprachlos an.

„Du, ich glaube, wir sind gerade exkommuniziert worden“, meinte mein Vater sarkastisch. „Trotzdem, Adelheid, komm zu mir, mein Schatz. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Eine bessere Frau und Mutter meiner Kinder hätte ich mir nicht wünschen können.“

He, und was ist mit mir? Kein Messdienerunterricht vorerst? Geil, Chester!! Ich hatte noch mehr Zeit zum Reiten. Ich denke, also bin ich. Wer sagte das noch? Das steht doch ganz vorne in meinem Lateinbuch. N‘ Franzose, glaub ich. Muss ich gleich nachsehen. Mein Vater zeigte jetzt aber wirklich Gefühle. Und da standen die beiden in der Bibliothek und knutschten sich, als ob es ums Leben ging. Pfarrer hin, Pfarrer her, unser Herr Jesus war nicht der Pfarrer. Den Verdacht hatte ich jedenfalls schon lange. Jesus dachte anders. Der hatte nämlich gesagt, man solle die Kindlein zu ihm bringen, und etwas von Nächstenliebe erzählt. Ich werde mich in Zukunft mehr an Jesus halten und nicht so sehr an den Pfarrer. Ach, und Latein können war wirklich nicht schlecht. Ich beschloss, mich von meinen immer noch knutschenden Eltern zu verabschieden. Die Lateinarbeit morgen war nicht unwichtig. Zu Chester konnte ich nach dem Lernen gehen und heute Abend wollte ich mich mal beim Gebet mit meinem neuen Kumpel Jesus unterhalten.

Am Sonntagmorgen fuhr die ganze Familie wie üblich zur Kirche. Pfarrer Lüders predigte vom verlorenen Sohn und ich freute mich in meiner Bank zusehen zu dürfen, wie die doofe Martina ihm als Messdienerin das Wasser zum Händewaschen reichen musste. Eigentlich wäre ich diese Woche damit dran gewesen, aber das wollte er ja nicht und hatte mir damit einen riesigen Gefallen getan. Nach der Messe mussten wir nämlich mit ihm über die Messe sprechen und das dauerte in der Regel sehr lange. Er fand immer wieder etwas Neues und kam selten vor halb ein Uhr zum Ende. Heute fand unser jährliches Reitturnier statt. Und ich sollte schon um zwei Uhr mit Chester abreiten. So konnte ich wenigstens gleich nach der Messe um halb zwölf Uhr nach Hause fahren und noch etwas essen. Chester war bereits eingeflochten und geputzt.

Meine Reitkleidung hatte ich auf meinem Bett zurechtgelegt, damit ich mich schnell zu Hause umziehen konnte. Robert und die anderen im Stall arbeiteten Hand in Hand, wenn Vater und ich auf Turniere fuhren. Ich sollte im Pony E und Pony A starten und Vater ging heute Abend im Springpferde S und danach im S zwei Sterne Springen an den Start.

Ich war wirklich sehr aufgeregt und dankte meinem Kumpel Jesus, dass er Martina zu Recht fürs Mobbing bestrafte. Ich kniete und betete sehr inbrünstig. Wenn er noch etwas Zeit hatte, sollte er mir eine gute Platzierung sichern, bat ich ihn. Das Lamm Gottes war zu Ende gelobt worden und wir durften wieder aufstehen. Martina strauchelte. Die Hexe war nach dem Kniefall auf ihr Messkleid getreten und buchstäblich über sich selbst gestolpert. Meine Liebe und Achtung für Jesus kannte keine Grenzen mehr! Die Eucharistiefeier begann. Oh je. Ob der Pfarrer jetzt mitspielte? Mein Vater ging nach vorne, kniete vor ihm und einen Moment lang sah es aus, als zögerte Hochwürden, aber er gab ihm die Hostie in den Mund. Auch meine Mutter kniete vor ihn nieder und bekreuzigte sich, nachdem sie die Hostie empfangen hatte. Gottseidank erhielt ich auch eine Hostie, nahm sie aber in die Hand. Der Pfarrer machte mir das Kreuzzeichen auf die Stirn.

Er flüsterte mir zu: „Komm morgen Abend um fünf Uhr in die Kinderbeichte.“

Ich musste mit dem Kopf nicken. Die Geschichte mit Martina und meine Schadenfreude kämen wohl zur Sprache. Da waren noch Sachen aus der Schule, wo ich ziemlich Bockmist gebaut hatte. Die Beichte würde nicht einfach werden, aber okay, ich sah zum Kreuz. Wenn Jesus es wollte, tat ich ihm den Gefallen und hoffte, dass er heute Nachmittag auf dem Turnierplatz Wort hielt.

„Hast du gesehen, wie der Pfarrer zögerte?“, fragte meine Mutter meinen Vater, später im Auto. Der lächelte.

„Ich bin nicht nur Schlossherr, sondern auch im Gemeinderat und im Kirchenvorstand. Der riskiert keinen Eklat. Außerdem hast du ihm sämtlichen Wind aus den Segeln genommen. Du solltest fürs Amt der Bürgermeisterin kandidieren. Bei dir würden alle stramm stehen“, lachte er.

„Mir reicht der Landfrauenverein und der Chor. Meine Klavierstunden mit den Kids und alle anderen ehrenamtlichen Aufgaben sind genug. Macht ihr das mit der Politik unter euch Männern aus. Allerdings ist Frauke Lange ziemlich aktiv, sie wäre eine gute Wahl für das Amt.“

Ich hörte dem Gespräch meiner Eltern nur noch mit halbem Ohr zu. Meine Gedanken kreisten um das Turnier unseres Reitvereins. In Windeseile hatte ich mir in meinem Zimmer meine Reithosen übergezogen und musste mir beim Essen eine Ermahnung von Mum anhören.

Dad lächelte verständnisvoll. Er war mindestens genauso gespannt wie ich und sollte selbst reiten. Unser siebenjähriger Hengst Apatchi wurde in der Springpferdeprüfung vorgestellt. Wenn Appi dabei gut abschnitt, käme er in drei Wochen mit zur Auktion. Mit der Pferdezucht hatte sich mein Vater ein weiteres finanzielles Standbein aufgebaut. Mir tat es immer leid, wenn ich mich von unseren Fohlen oder Junghengsten verabschieden musste. Aber das war nun mal das Leben, sagte Vater. Wir mussten mit der Zucht Geld verdienen und die Besten wurden halt verkauft. Gut, dass ich kein Pferd war. Wer weiß, was den Erwachsenen noch alles eingefallen wäre.

Robert holte mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Mein Handy summte einmal kurz in der Hosentasche. Ich hatte es auf Vibrieren gestellt, damit Mutter nichts merkt. Einmal vibrieren hieß, alles paletti, Chester steht auf dem Hänger. Das war nämlich nicht so leicht, denn er wollte nicht immer, wie wir wollten. Robert und die anderen Stallburschen hatten ihre Tricks. Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her.

„Du darfst ausnahmsweise aufstehen, Max. Sag Robert, ich komme gleich. Er soll alles für die Abfahrt vorbereiten“, sagte Papa und erlöste mich. Ich lief gleich los. Als Vater endlich kam, brauchte er nur noch in den Transporter zu steigen. Ohne Probleme parkten wir eine Viertelstunde später auf dem Turnierplatz.

Robert schickte mich zur Meldestelle. Janina, ein Mädchen aus dem Reitverein, saß am Computer, als ich an der Reihe war. Sie ging schon in die Zwölfte und lachte mich fröhlich an.

„Hi, Maxi…miliane! Startbereitschaft erklären?“

„Japp, auch für meinen Dad. Springpferde S und S zwei Sterne, ich Pony E und Pony A. Chester ist in Höchstform, ach so. Und ich bin ab sofort ein Jungeee!“

Sie stutzte. „Wie hast du das denn hingekriegt?“, fragte sie mit großen Augen.

„Ganz einfach, wir waren in Hamburg beim Arzt. Ich bekomme jetzt alle drei Monate eine Spritze und keinen Busen mehr. Gottseidank. Wenn ich Siebzehn bin, kann ich Bescheid sagen und kriege männliche Hormone. Aber ich darf bereits heute als Junge zur Schule gehen und mich überall wie ein Junge anmelden. Also auf der Nennung streichst du bitte das e weg und machst Maximilian daraus. Aber nur das. Den zweiten Namen Auguste lass bitte ganz weg, sonst lachen die anderen mich wieder als den dummen August aus, wie beim Fußball, als der Trainer mich fragte, welchen Namen er denn nun auf die Spielerliste schreiben sollte.“

„Schon geschehen, soll ich den Richtern etwas dazu notieren? Die kennen dich ja alle als Mädchen?“

„Kannst du gerne, danke. Und die Daumen kannst du mir drücken.“

„Ne, geht nicht. Meine kleine Schwester startet auch beim Pony E. Du hast also ernst zu nehmende Konkurrenz!“

„Anita? Reitet sie etwa ihr dickes Shetty? Wie hieß der noch gleich?“

„Bronko, und ich hoffe, er kommt wenigstens über ein oder zwei Hindernisse mit ihr. So fett wie der ist, kann der eigentlich nicht springen.“

„Okay, wir sehen uns, Janina.“ Schnell lief ich zum Hänger, half Chester runterzuholen und begann ihn zu satteln. Es wurde Zeit. Auf dem Abreiteplatz war schon einiges los. Das Pony E begann und Robert deutete mir mit den Fingern an, dass ich drei Reiter vor mir hatte.

Der große Moment kam. Ich ritt ein und direkt auf den Richterwagen zu. Zum ersten Mal grüßte ich wie ein Junge, in dem ich die Hand an meinen Helm legte und kurz mit dem Kopf nickte. Die Richter kannte ich. Frau Behrens und Herr Weidenstock kamen immer zu uns, wenn ein Turnier stattfand. Ich sah, wie Frau Behrens mit Bernd, dem Ansager, sprach.

„Kommst du mal bitte näher zum Richterwagen“, sagte er. Ich tat, was er wollte und ritt so nahe heran, dass ich mit den Richtern sprechen konnte.

„Hier steht Maximilian, ist das richtig? Du bist doch ein Mädchen?“, fragte mich Frau Behrens.

„Nein, ich war in Hamburg beim Arzt, ich bin transsexuell und ein Junge. Ich darf als Junge leben, bis ich alt genug bin, um operiert zu werden. Ich gehe auch als Junge in die Schule.“

„Rufen Sie mal bitte den Vater aus“, bat Frau Behrens.

„Einen kleinen Augenblick, mein Kind. Ich muss mich vergewissern, dass alles seine Richtigkeit hat, sonst bekommen wir unnötige Proteste“, meinte sie zu mir.

„Herr von Wildenstein, bitte einmal zum Richterwagen“, hörte ich Bernd sagen. „Einen Moment, bitte, meine Damen und Herren, es geht gleich weiter.“

Mein Vater lief über den Platz.

„Bleiben Sie ruhig, Herr Graf. Wir haben Zeit genug. Als was sollen wir Ihre Tochter ansagen? Sie meint, sie wäre ein Junge und hieße Maximilian. Ich muss das aus rechtlichen Gründen mit Ihnen klären und darf mich da nicht auf die Aussage eines Kindes verlassen.“ Frau Behrens sah Vater fragend an.

„Ja, das ist richtig. Natürlich muss alles seine Ordnung haben. Wir sind in Hamburg bei einem Kinderarzt gewesen und der hat uns bestätigt, dass unsere Tochter nur äußerlich ein Mädchen ist. Sie ist vom gefühlten Geschlecht her ein Junge. Meine Frau war in großer Sorge und sah es als notwendig an, ärztlichen Rat einzuholen. Herr Direktor Schmidt führt Max als Jungen in der Schule. Wir wollen ihm die Gelegenheit geben, in der gefühlten Rolle zu leben und warten ab, wie er sich mit siebzehn Jahren entscheidet. Hormonelle und operative Maßnahmen sind erst im Erwachsenenalter möglich und bis dahin wird die Pubertät unterdrückt. Ich wäre Ihnen in Maximilians Namen sehr dankbar, wenn Sie ihn in der männlichen Rolle ankündigen“, sagte mein Vater.

„Das ist selten und ich habe selbst einen solchen Fall noch nicht erlebt, aber ich weiß natürlich, dass es das gibt. Gut, das reicht uns, oder Herr Weidenstock?“ Der nickte.

„Keine Bedenken. Wenn der Vater einverstanden ist, haben wir nichts dagegen. Aber ich denke, wir fangen erneut an. Max, du reitest bitte raus und kommst noch einmal zur Grußaufstellung herein. Dann starten wir und Herr Schade wird dich mit deinem männlichen Namen ankündigen.“ Frau Behrens war sofort einverstanden.

Mein Vater nickte ihr dankbar zu und kletterte unter die Absperrung durch, damit die Reitbahn frei wurde. Ich atmete einmal kurz ein und trabte mit Chester zu Robert, der am Einritt wartete. Er ahnte wohl schon etwas.

„Cool bleiben, Junge, ruhig angaloppieren, gleichmäßiges Tempo und immer zum nächsten Hindernis schauen.“ Chester wollte aus der Bahn laufen, aber Robert nahm ihn am Zügel und drehte ihn herum. Der arme Kerl hatte wohl gedacht, heute gäbe es kein Springen mehr und er könnte in seinen gemütlichen Stall zurück. Doch erst kam die Arbeit und danach bekam er eine Extraportion Futter.

„Wir begrüßen die Kopfnummer 12, passend zum Alter des Reiters, Maximilian von Wildenstein, mit seinem Pony Chester. Der Start ist frei.“ Ich grüßte noch einmal und zog meinen Helm ein wenig nach vorne. Die Zuschauer sollten alle wissen, dass hier kein Mädchen vor ihnen stand. Vollste Konzentration. Chester gehorchte jedem Schenkeldruck und flog über die Hindernisse. Ich ging mit der Hand vor und meine Schenkel klebten am Pferdeleib.

Null Fehler in einer passablen Zeit, aber auf die kam es nicht an. Das Ponyspringen war ein Stilspringen und die Leistung des Reiters sowie die Harmonie zwischen Reiter und Pferd wurden bewertet. Robert empfing mich bereits mit sehr zufriedener Miene. Vater kam angelaufen und klopfte mir aufs Bein.

„Für die Nummer 12, Maximilian von Wildenstein, gibt es für diese schöne Vorstellung die Traumnote von 8,8“, hörte ich Bernd sagen.

„Wow“, ich sprang fröhlich ab und drückte Chester fest an mich. Als ich ihn zum Hänger führte, spürte ich die Blicke der Zuschauer auf mir. Irgendetwas war anders. Viele tuschelten und sprachen miteinander. Ich konnte aber nicht hören, was sie sagten. Stolz und überglücklich sattelte ich Chester ab.

Das Pony Stil A stand erst um vier Uhr auf dem Programm. Vorher kamen noch die Führzügelwettbewerbe und die Siegerehrungen. Das A würde auf dem großen Platz stattfinden, wo gleich nach uns die Erwachsenen mit der Springpferdeprüfung starten sollten.

Ich vertrieb mir die Zeit auf dem Dressurplatz und besuchte danach die Pommes Bude. Sheila, die dicke Angestellte des Schlachters, bediente dort, brutzelte leckere Pommes und Bratwurst. Sie kam aus Äthiopien und besaß eine so dunkle Haut, dass sie nie einen Sonnenbrand bekommen konnte. Ihr Mund verzog sich zu einem breiten fröhlichen Lachen, als ich vor ihr stand.

„Na, da brat mir einer einen Storch. Dann bist du jetzt also der Junior Graf“, meinte sie und warf noch ein paar Pommes mehr in den Korb. Aber das war normal. Wir Kinder bekamen immer einen Zuschlag von ihr, denn wir mussten noch wachsen, meinte Sheila stets.

„Ja, Sheila, ich bin endlich ein Junge und es hat lang genug gedauert, bis meine Eltern das eingesehen haben. Aber nun wird alles gut. Was sagst du zu Chester?“

„Der ist toll in Form, Rot-weiß wie immer?“

Nickend kam meine Zustimmung. Es duftete köstlich. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, als der Überzug an Ketchup und Mayo Gestalt annahm. Eine fremde Frau hatte sich hinter mir angestellt. Ich beachtete sie nicht und trat ihr mit meiner Schale Fritten in der Hand auf den Fuß.

„Entschuldigung“, sagte ich artig. Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.

„Du solltest dich was schämen. Ein Mädchen, das vorgibt ein Junge zu sein, pfui, wie gottlos ist das! Mädchen, die pfeifen und Hennen, die krähen.“ Sie kam nicht weiter. Sheila fiel ihr ins Wort.

„Denen soll man wie alten Weibern, die totalen Blödsinn reden, den Kopf abdrehen. So, wer meine Kids beleidigt, beleidigt mich. Also, was soll‘s sein und dann schleich di.“ Die Frau starrte Sheila an und verstand anscheinend gar nicht, was diese gemeint hatte.

„Eine Bratwurst bitte, mit Senf.“ Ich zwinkerte Sheila zu. Die wusste sofort Bescheid und griff unter ihre Theke. Sie hatte nämlich eine Geheimwaffe gegen die großen Jungs, die sie zu gerne ärgerten und manchmal mussten auch Männer dran glauben, wenn sie ihr zu anzüglich wurden.

„Macht 1,80 Euro“, sagte sie und schmunzelte, als sie die Bratwurst mitsamt Senf auf den Tresen legte. Die Frau ging, ohne sich umzusehen. Später sah ich sie am Getränkestand stehen. Die hatte vielleicht einen Durst. Aber das war kein Wunder. Sheila bewahrte nämlich unter der Theke ihres Pommes Wagens immer einen Topf mit echtem Düsseldorfer Löwensenf auf. Der war sehr scharf und wer nicht ahnte, in was er biss… oh je, dem tränten die Augen.

Ich mochte Sheila sehr. Sie war ein Original im Dorf und ein Pfundskerl. Ein paar Mal wurde ich auf meinen Geschlechtswechsel angesprochen. Als ich mir als Wegzehrung eine Naschtüte aus dem Kaffeezelt holte, hielt mich unsere Bäckersfrau am Hemd fest. Sie nahm mich besitzergreifend in den Arm und an Entkommen war nicht mehr zu denken. Allerdings bekamen wir von ihr immer Kuchenreste umsonst, wenn wir nach der Schule in die Bäckerei stromerten und für die Eltern am nächsten Tag Bestellungen aufgaben. Manchmal schenkte sie uns einen Lolli extra.

„So, mein Kleiner, nun erzähl mal. Du warst in Hamburg? Hast du den berühmten Hafen gesehen? Und du bist jetzt also ein richtiger Junge?“ Sie saß nicht allein am Tisch. Der halbe Landfrauenverein war anwesend und die Frauen sahen mich neugierig an.

Ich erzählte meine Geschichte. Und sagte ihnen, dass ich erst mit achtzehn Jahren operiert werden durfte, aber nun erst mal keine Brust und keine Regel mehr bekam. Sie fragten mir ein Loch in den Bauch, bis meine Mutter am Tisch erschien. „Adelheid, das trifft sich gut. Wir quetschen gerade deinen Junior aus. Erzählst du uns mehr über Transsexualität? Das ist sehr interessant. So etwas hatten wir hier ja noch nicht“, rief Frauke Lange aus. Sie war im Gemeinderat tätig. Die beiden duzten einander seit langem. Ich stand auf und bot meiner Mutter den Platz an.

„Wenn das dabei herauskommt, soll meine Ina aber auch schnellstens ein Junge werden“, meinte eine der Frauen verblüfft. „Das nenne ich Erziehung.“ Alle lachten in meine Richtung. Ich wurde rot im Gesicht und lief schnell wieder zum Hänger. Das Pony A begann bald.

Am Abend lag ich zufrieden im Bett. Das E Springen hatte ich haushoch gewonnen, im A war ich drittplatziert. Appi hatte den Zweiten gemacht und war so gut wie verkauft, erzählte Papa. Ein Käufer bot ihm mehr, als er auf der Auktion bekommen würde. Im zweiten S kam Papa unter die ersten Zehn und wurde platziert. Der Tag konnte nicht besser gelaufen sein. Mir fiel die komische Frau wieder ein. Ich erzählte Mutter davon. Sie gluckste, als ich ihr von Sheila und dem Senf berichtete. Sie wollte Sheila fragen, wer die geheimnisvolle Frau war und gab mir einen Gutenachtkuss.

Nach dem Turnier war bekanntlich vor dem Turnier. In den kommenden Wochen trainierte ich mit Chester, schrieb Klassenarbeiten und spielte Fußball. Das normale Leben hatte mich voll im Griff. Die ominöse Frau war vergessen. An einem Dienstag fuhren wir nach Hamburg. Die Eizellenentnahme spürte ich nicht und die Narkosespritze war nicht schlimm. Dr. Malinka hielt Wort. Es tat nichts weh und hinterher bekam ich eine Spritze in den Po. Damit war mein Leben als Mädchen endgültig beendet. Ich hielt wie ein junger Gentleman meiner Mutter die Türen auf und bestellte das Essen in der Gastwirtschaft. Sie erzählte meinem Vater am Handy davon. Er lachte und meinte, dass er nun wohl mein Taschengeld erhöhen müsste, denn der Mann bezahlt selbstverständlich auch für die Dame.

Unsere Sommerferien brachen an. Blutungen hatte ich keine mehr bekommen und meine Brust war als solche kaum noch erkennbar. Im Freibad trug ich nur noch eine Badehose. Dort wusste wie im ganzen Dorf jeder Bescheid, kein Mensch nahm von mir Notiz. Bis zu dem Tag, als ich aus der Jungsumkleide im Schwimmbad kam und wieder diese Frau fast umgerannt hätte. Sie schimpfte gleich los.

„Kannst du nicht aufpassen, du Bengel!“ Ihre Augen weiteten sich. „Du?“ Sie blickte auf meine nackte Brust und auf die Wölbung in meiner Badehose. Ich hatte mir ein kleines Sockenknäul hineingesteckt um wie ein Junge zu erscheinen. „Du ziehst dir sofort etwas an, du schamloses Kind“, schrie sie. Einige Mütter drehten automatisch den Kopf zu uns hinüber und ich starrte die Person völlig perplex an.

Der Bademeister war wie immer sofort zur Stelle. „Was gibt es?“ Er sah auf mich. „Hast du Blödsinn gemacht, Max?“ Ich schüttelte energisch den Kopf. „Ab zu den anderen und haltet euch von dem Wäldchen fern, damit ich euch Banditen immer im Auge habe. Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er die Frau.

„Das wird ein gerichtliches Nachspiel haben“, hörte ich sie sagen. Grußlos ließ sie unseren altgedienten Bademeister stehen. So überrascht sah ich den selten.

Zuhause brauchte ich gar nichts mehr zu sagen. Meine Mutter wusste bereits Bescheid. Die Frau des Försters war mit ihrem zweijährigen Sohn im Schwimmbad gewesen und hatte das Desaster mitbekommen. Ihre beiden älteren Jungen, mein Freund Jacob und sein zehnjähriger Bruder Mario, blieben mit mir im Bad, als sie mit dem kleinen Sven in die Försterei nach Hause fuhr und beunruhigt erst mal am Schloss anhielt, um mit meiner Mutter zu sprechen. Sie verabschiedeten sich gerade, als wir auf unseren Rädern ankamen.

„Vielen Dank, Roswitha, ich werde mich der Sache gleich annehmen. Wir müssen herausfinden, wer die Frau ist und was sie hier macht.“

„Keine Ursache, Adelheid, wir sind doch eine große Familie. Uns kann so leicht nichts erschüttern“, antwortete Jacobs Mutter und zeigte ihm mit dem Finger den Heimweg.

„Na denn, Max.“

„Na denn, Jacob.“

Ich brachte mein Fahrrad in die Remise und folgte meiner Mutter ins Schloss, wo sie schnurgerade auf das Arbeitszimmer meines Vaters zusteuerte.

„Es gibt Sorge“, sagte sie und ließ mich erzählen.

„Was ist ein gerichtliches Nachspiel, Dad?“, fragte ich, als ich fertig war. Vater überlegte. Wohl weniger, um mir meine Frage richtig beantworten zu können, als umso mehr er die Identität der Frau noch nicht kannte.

„Wenn man ein rechtliches Problem hat oder sieht, kann man sich vor Gericht melden und von einem Richter, der streng nach dem Gesetz urteilen muss, ein ebensolches Urteil verlangen. Das ist für die beteiligten Menschen bindend, kann aber von einem höheren Gericht wieder aufgehoben werden.“

„Und wie hoch geht das?“

„Das geht bis zum Bundesverfassungsgericht in Deutschland, in Karlsruhe, oder in Europa bis zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg. Max, du lässt dich mit dieser Frau auf keine Diskussion ein und sagst uns sofort Bescheid, wenn sie dich wieder angreift“, meinte mein Vater.

„Hm.“ Meine Mutter schien sich zu beruhigen. „Diskussion nein, aber du kannst sie ruhig nach dem Namen fragen und wer sie eigentlich ist. Aber versuche dabei nicht frech rüberzukommen, nur wie ein Naseweis und Lausejunge. Das sollte dir nicht schwerfallen. Diese Person muss ja etwas darstellen, sonst würde sie den Mund nicht so voll nehmen. Ich versuche über die Landfrauen etwas über sie herauszufinden“, sagte sie entschlossen.

Erleichtert atmete ich aus. Mir war die Szene im Schwimmbad sehr unangenehm und peinlich gewesen. Wenn das einer meiner Kumpels mitbekommen hätte!

„Danke, Mum. Ich hab mich scheußlich gefühlt. Die Frau ist echt doof“, setzte ich nach.

„Wir wollen nicht voreilig über einen Menschen urteilen, Max. Sie wird Gründe haben, die wir im Augenblick noch nicht kennen. Mutter wird sich darum kümmern. Du hast ansonsten keine Probleme im Dorf oder in der Schule. Ich verstehe deinen Unmut über diese Frau, mir würde es ebenso ergehen. Trotzdem kannst du mit der Toleranz der Menschen hier sehr zufrieden sein.“ Die Worte meines Vaters klangen verständnisvoll, duldeten aber keine Widerrede. Er hatte im Grundsatz recht. Mutter lächelte und ging. Dad und ich wechselten das Thema. Wir unterhielten uns über Chester, das nächste Turnier und Appi, der übermorgen abgeholt werden sollte.

In den nächsten Tagen lief alles wie gewohnt weiter. Ich genoss zusammen mit Jacob und meinen Freunden die Ferien. In der letzten freien Woche stand eine Reise nach München an. Ich sollte mich der Kinderpsychologin vorstellen und fuhr mit Mutter im Zug in die Landeshauptstadt.

Die Ärztin war sehr nett. Sie sprach mich gleich so an, wie ich es wollte. Außerdem kannte sie Doktor Reimers. Ich sollte erzählen, wie ich die Zeit, bevor ich als Junge leben durfte, erlebt hatte und wie es mir jetzt ging. Mutter verließ nach einer Weile das Zimmer. Sie hatte verstanden. Frau Michelsen wollte mit mir allein reden.

„Max, als du klein warst und deine Mama dir Kleider anzog, woher wusstest du, dass du ein Junge warst?“ Ich brauchte nicht lange zu überlegen.

„Ich wusste es einfach. Ich war wie mein Vater, wie Robert oder die anderen Männer. Jacob spielte mit mir und er trug Hosen. Ich wollte genauso angezogen werden wie er. Ich war wie er. Ich wusste gar nicht, was Mädchen sein sollten. Ich war jedenfalls keines.“

„Wie alt warst du damals?“

„So um die drei oder vier Jahre. An meinem dritten Geburtstag kam Mama mit einer Kinderpost die Treppe herunter. Daran erinnere ich mich gut. Ich stand immer neben mir und war wütend, wenn ich ein Kleid anziehen sollte. Ich schrie einmal so lange, bis Mama mir endlich Hosen holte. Schon krass, wenn ich mir das vorstelle. Da ist man ein kleiner Mensch und die Umgebung erscheint einem total verwirrend. Es passte einfach nichts zusammen. Mein Kindermädchen war nicht besser als Mama. Sie versuchte auch ständig mir Kleider anzuziehen und ich schrie und boxte sie. Sie starb letztes Jahr. Ich denke manchmal, ich hätte artiger sein müssen.“

Frau Michelsen machte sich Notizen, die sie jetzt zur Seite legte. „Max, du bist nicht schuld am Tod deiner Kinderfrau. Sie hat dich sehr lieb gehabt, so wie du warst. Sie war alt und wurde krank. Sie ist auf eine ganz natürliche Weise gestorben. Bestimmt wollte sie nicht, dass Du glaubst, Du hättest etwas mit ihrem Tod zu tun. Ich möchte nur wissen, wie weit deine Erinnerung zurückreicht. Es gibt die sogenannte genuine Transsexualität und die Sekundäre. Beim ersten ist der Wunsch und das Gefühl dem anderen Geschlecht anzugehören, bereits als Kleinkind vorhanden. Je älter du wirst, umso weiter entwickelt sich dein Gehirn. Irgendwann erlebst du dich als eigenständige Person. Das ist der Beginn der Feststellung deiner Geschlechtszugehörigkeit. Unbewusst identifizierst du dich mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Wir gehen davon aus, dass dir dein Gehirn sagt, was du bist: Junge oder Mädchen. Insofern passt man später das biologische Geschlecht dem Gefühlten an. Umgekehrt funktioniert das nicht. Man kann einem Menschen dieses tief empfundene Geschlechtsgefühl nicht nehmen. Und Kinder wie du, bestätigen diese Annahme. Ich denke, wir holen deine Mutter wieder rein.“

Ich stand auf und kam einen Moment später mit ihr zurück.

„Ja, Frau von Wildenstein, ich bin ähnlicher Meinung wie der Kollege in Hamburg. Es liegt wahrscheinlich eine genuine Transsexualität vor. Das bedeutet, Ihr Kind ist mit dem falschen Geschlecht geboren worden. Alles natürlich unter Vorbehalt. Wir müssen gerade bei Kindern immer die Entwicklung abwarten, bevor Maßnahmen ergriffen werden können, die irreversibel sind, wie Stimmbruch oder sogar Operationen. Die geschlechtliche Ausrichtung wird sich noch einstellen. Wir wissen jetzt schlicht nicht, in welche Richtung Max wirklich strebt. Deshalb und weil es bis zum achtzehnten Lebensjahr und darüber hinaus zu vielen Schwierigkeiten mit der Umwelt kommen kann, wollen wir die Kinder psychologisch begleiten. Meistens sind die Eltern dankbar, wenn sie kompetente Ansprechpartner haben. Ich werde Max aufnehmen, jedoch nur insoweit, als wir uns über seinen Lebensalltag und seine Erlebnisse unterhalten und Sie mir über Ihre Sorgen berichten können. Auf keinen Fall wollen wir Max beeinflussen. Er allein bestimmt, wie er oder sie leben möchte. Ich denke alle drei Monate sind für unsere Treffen ausreichend. Max schreibt sich auf, wenn etwas passiert ist, über das er mit mir sprechen muss. Darüber reden wir dann und suchen Lösungen.“

Meine Mutter war beruhigt. Die beiden vereinbarten den nächsten Termin und ich zog sie danach ins angrenzende Eiscafe. Das konnte nicht besser für mich laufen.

Nach den Sommerferien erhielt ich einen Dämpfer. Papa berichtete von einem Telefonat, das er mit dem Bischof persönlich geführt hatte. Pfarrer Lüders tritt aus gesundheitlichen Gründen zurück und ein neuer junger Pfarrer wird sich schon bald in der Gemeinde vorstellen. Ich durfte ab sofort selbstverständlich als Junge zum Messdienst kommen, wenn ich es denn wollte. Der Bischof fragte nach meiner Firmung. Vater legte den Termin auf das nächste Jahr fest, so wäre ich dreizehn Jahre alt und genau im richtigen Alter. Der Bischof wollte sie selbst vornehmen. Ich war nicht der einzige und unsere Firmung sollte ein großes Fest für die Gemeinde werden. Das Problem war allerdings die Eintragung der Firmung in den Taufschein. Die konnte aus rechtlichen Gründen erst nach der amtlichen gerichtlichen Vornamensänderung erfolgen. So müssen sie mich wohl oder übel noch als Mädchen eintragen. Mein Vater meinte, dass das vollkommen in Ordnung sei. Man könnte alles umschreiben lassen, wenn ich erwachsen bin. Hauptsache, der Bischof sprach mich bei der Firmung mit Max an. Das war für den überhaupt kein Problem. Er hob die Bedeutung unserer Familie für die Region und die Gemeinde hervor und welche ruhmreiche Vergangenheit auf Schloss Wildenstein in den vergangenen Jahrhunderten lag, sowohl weltlich als auch katholisch. Mein Vater war nach dem Telefonat sehr zufrieden. Ich weniger. Ahnte ich doch, dass meine Beurlaubung vom Messdienst damit ein jähes Ende fand.

Wie Recht ich damit hatte, merkte ich bereits eine Woche später. Der neue Pfarrer machte uns seine Aufwartung und lud mich gleich als künftigen Erben des Hauses zum Dienst am Sonntag ein. Und ausgerechnet an dem Tag stand wieder ein Turnier in einer Nachbargemeinde an. Vater lächelte und sprach für mich. Natürlich käme ich meiner Pflicht gerne nach und meine stolzen Eltern freuten sich bereits auf die erste Predigt des neuen Pfarrers. Bäh, schleimiger ging‘s wirklich nicht. Mir blieb also nichts erspart.

Am Dienstag war die nächste Reise nach Hamburg geplant. Wir flogen diesmal und ich musste noch bis elf Uhr in den Unterricht. Meine Eltern hatten sich also nicht nur mit dem Pfarrer gegen mich verschworen, sondern auch mit dem Direx.

Trotzdem war die Reise sehr aufregend und ich freute mich, Doktor Reimers zu sehen. Wir unterhielten uns eine ganze Stunde. Anschließend gab er mir die neue Spritze und ich war entlassen.

Die folgenden Wochen vergingen ohne besondere Vorkommnisse, außer dass sie sehr arbeitsintensiv wurden. Für mich hatte sich eigentlich gar nicht so viel geändert, aber mein Leben kam mir jetzt ein gewaltiges Stück eindeutiger und klarer vor. Ich musste niemandem mehr beweisen, dass ich ein Junge war und meine Geschlechtlichkeit nahm immer weniger Platz im Alltag ein, umso normaler dieser wurde.

Meine Mutter versuchte herauszufinden, um wen es sich bei der geheimnisvollen Frau handelte und fragte überall bei ihren Bekannten und in ihren Vereinen nach. Im Nachbardorf wurde sie endlich fündig. Die Fremde war die Tante eines jungen Bauern, dessen Hof etwas außerhalb lag. Sie lebte eigentlich in Köln und führte dort einem Pfarrer den Haushalt. Die junge Bauersfrau, Mutter zweier kleiner Kinder von einem halben Jahr und vier Jahren, war an Krebs erkrankt und musste oft ins Krankenhaus. Die Tante war gekommen, um der jungen Familie zu helfen.

Meine Mutter fuhr sofort auf den Hof. Als Vorsitzende des Landfrauenvereins gehörte es zu ihren wichtigsten Aufgaben, sich um die anderen Frauen zu kümmern und Hilfe zu organisieren, wo Hilfe gebraucht wurde. Georg Zander, der Bauer, arbeitete im Stall, als meine Mutter eintraf. Sie stellte sich gleich vor und berichtete, dass sie von dem Unglück der Familie gehört hatte und die Landfrauen einen Hilfsdienst für ihn organisieren würden. Egal, ob seine Frau Mitglied im Landfrauenverein war oder nicht.

Georg bat sie mit Tränen in den Augen dankbar herein. Seine Frau hatte Brustkrebs und war erst achtundzwanzig Jahre alt. Meine Mutter versprach ihm einen Arbeitsdienst für den Haushalt und eine Kinderbetreuung, bis seine Frau wieder gesund war. Sie wollte gleich am Nachmittag zu ihr ins Krankenhaus fahren, um alles Wichtige mit ihr selbst zu besprechen.

Georg freute sich sehr, denn er teilte die Ansichten seiner Tante nicht immer und die älteste Tochter, die schon in den Kindergarten ging, litt bereits unter deren strengem Regiment. Andererseits war er auf sie angewiesen, aber das änderte sich dank der Landfrauenhilfe nun.

Meine Mutter berichtete ihm von mir und den beiden etwas merkwürdigen Begegnungen. Sie wollte seine Tante gerne kennenlernen. Er versprach, mit ihr zu telefonieren. Die Hilfsaktion startete bereits am selben Nachmittag. Eine der alleinstehenden älteren Frauen packte ihre Sachen und zog ins Gästezimmer des Hofes. Meine Mutter hatte ihren Verein im Griff. Aber die Frauen arbeiteten gerne mit, sie profitierten alle davon. Ich war gespannt auf die Reaktion der Tante, wenn sie erfuhr, dass meine Mutter der Familie nun half.

Eine Woche später saßen wir beim Abendessen und entgegen der üblichen Tischregeln, berichtete meine Mutter von ihrem Gespräch mit Klara Warnke. „Also, die Dame ist dreiundsechzig Jahre alt, Haushälterin bei einem Pfarrer in Köln und wollte zuerst keine Hilfe, weil sie sich wohl für unentbehrlich hält. Georg war da anderer Ansicht. Schließlich lebte sie in Köln und hatte immer eine mehrstündige Zugfahrt zu bewältigen. Natürlich ist sie gerne willkommen und darf helfen, meinte er. Aber die ortsansässigen Landfrauen können viel flexibler reagieren und die Last ist auf viele Schultern verteilt, so dass die Frauen Freude an ihrer Aufgabe haben, weil jede gerne etwas beitragen will. Nachdem ich ihr das erklärt hatte, wurde sie zugänglicher. Ich sprach sie auf ihre Arbeit im Pfarrhaus an und erzählte ihr von dir. Klara hatte ihrem Pfarrer davon berichtet und nicht unbedingt Zustimmung erhalten. Formal ist die Kirchenlehrmeinung auf ihrer Seite. Dennoch muss sich die Kirche dem tatsächlichen Leben stellen, weil es zum Beispiel gerade in Köln viele Homosexuelle gibt. Da ist Toleranz und Respekt gegenüber Menschen mit ihren Problemen gefragt. Niemand außer Gott ist perfekt, meinte der Pfarrer. Daran kaute die Ärmste ziemlich lang. Ich habe sie zum Adventsfest zu uns aufs Schloss eingeladen. Dort könnt ihr euch näher kennenlernen und bitte versuchen, Frieden zu schließen. Sie hat zugesagt und ich hoffe, das leidige Thema ist damit vom Tisch. Du wirst ihr freundlich entgegentreten.“

Ich seufzte nur: „Okay, Mum.“ Mir war das egal.

Das Adventsfest gab es jedes Jahr vor Weihnachten. Der Schlossplatz wurde weihnachtlich geschmückt, einen großen Baum schlug Vater regelmäßig selbst und meistens durfte ich mit in den Wald fahren und ihn aussuchen. Viele Leute kamen, die an Ständen Selbstgebasteltes oder Strickwaren anboten. Natürlich gab‘s Kaffee und Glühwein für die Großen und das ganze Schloss duftete herrlich nach Lebkuchen und Bratwurst. Der Weihnachtsmann kam am Abend, nachdem wir Kinder alle zusammen mit den Erwachsenen Weihnachtslieder gesungen hatten. Meistens fuhr er in der Ponykutsche vor und ganz selten, wenn Schnee lag, kam er im Pferdeschlitten. Ich wusste sehr früh, wer sich hinter dem weißen Bart verbarg. Es war Robert.

Die anderen Jungen grinsten immer, wenn die jüngeren Kinder sich respektvoll seiner Rute näherten. Aber alle bekamen eine Naschtüte aus seinem Sack. Nur die frechsten Jungen erhielten einen Klaps mit der Rute. Für uns war das vom zehnten Lebensjahr an eine Ehre und wir hielten ihm unsere Hintern freiwillig vor. Diesmal wollte ich auf jeden Fall dazugehören und hatte mir ein ordentlich freches Gedicht ausgedacht.
 
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Nostoc

Mitglied
Hallo Ruedipferd,

vielen Dank für diese Erzählung. Hast mir sehr gut gefallen. Die Charaktere konnte ich vor meinem inneren Auge erkennen und auch die Freude von Max, als er merkt, dass sich alles gut für ihn entwickelt. Ich habe mich nur während des Lesens gefragt: Wann passierts denn? Wann bekommt Max den Knüppel zwischen die Beine? Die Geschichte ist richtig gut erzählt, hätte aber m.M. noch Platz für einige spannungsfördernde Wendungen gehabt. LG Nostoc
 

Chandrian

Mitglied
Hallo Ruedipferd,

Danke für die schöne Geschichte. Dieses Happyend tat richtig gut, vor allem, da viele Kinder in diesem Alter auf viel mehr Unverständnis stossen (zum Glück nicht alle). Ein Pony als Zuhörer und Leidensgenosse ist klasse, richtig herzerwärmend.

Die Erklärung der Selbstfindung von Kindern hingegen fand ich eher kompliziert umschrieben. Da dies eine sehr philosophische Angelegenheit ist, finde ich schwierig, zu sagen, dass Kinder die Geschlechterrollen ihren Eltern abschauen (ich bin mir nicht sicher, ob du dies nur als Beispiel genommen hast). Es spielen sehr viele Faktoren zusammen und wirken auf Kinder ein. Schön finde isch jedoch wieder, wie du beschrieben hast, wie Kinder die sozialen Konstrukte "Junge" und "Mädchen" wahrenden und mit bestimmten Attributen wie "schön" verbinden.
Ich war auch ein wenig verwirrt darüber, dass Max von sich selbst erst dann als Junge gedacht hat, als er das ok von den Eltern bekommen hatte.
Der "erste tag als Junge" macht für mich keinen Sinn, da transgeschlechtliche Personen sich schon vorher im andern Geschlecht fühlen bzw nicht wohl sind in ihrem Geschlecht.
Es könnte aber auch sein, dass Max dies anders empfunden hat und das ist ja auch möglich.
Ein etwas ausgeprägterer innerer Konflikt hätte meiner Meinung nach bei diesem Thema auch gut gepasst. Hier wurde es Max sehr einfach gemacht: keine Selbstzweifel, keine grössere Konfrontation mit Unverständnis - was sehr schön ist und leider viel zu selten vorkommt.

Nur noch ein kleiner Hinweis - Transsexuell ist Ansichtssache heute nicht mehr ganz korrekt. Falls die Geschichte ein paar Jahre vorher spielt, ist die Verwendung davon richtig, da man damals auch Medizinisch von einer Transsexualität und nicht -identität sprach. Der Begriff wird heute von vielen Menschen abgelehnt, weil die Endung "-sexualität" die körperliche Komponente im Gegensatz zur sozialen ("gender") betont und so klingt, als hätte Transsexualität etwas mit sexueller Orientierung zu tun, was nicht der Fall ist.

Sorry, ich wollte nicht so viel meckern, auf jeden Fall finde ich grundsätzlich eine Geschichte zu diesem Thema toll. Trans*-awareness ist wichtig!

Liebe Grüsse
Chandrian
 

Ruedipferd

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Im Anschluss stelle ich den kompletten Roman ein, teilweise mit Hinweis auf den neuen Thread, da die Zeichenanzahl insgesamt über 400000 liegt. Nächstes Kapitel: Endlich ein Junge.
 

Ruedipferd

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Hallo Ruedipferd,

vielen Dank für diese Erzählung. Hast mir sehr gut gefallen. Die Charaktere konnte ich vor meinem inneren Auge erkennen und auch die Freude von Max, als er merkt, dass sich alles gut für ihn entwickelt. Ich habe mich nur während des Lesens gefragt: Wann passierts denn? Wann bekommt Max den Knüppel zwischen die Beine? Die Geschichte ist richtig gut erzählt, hätte aber m.M. noch Platz für einige spannungsfördernde Wendungen gehabt. LG Nostoc
Die Spannung folgt im Roman, den ich jetzt in gesamter Länge eingestellt habe. Freue mich über Rückmeldungen!
 

Ruedipferd

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Hallo Ruedipferd,

Danke für die schöne Geschichte. Dieses Happyend tat richtig gut, vor allem, da viele Kinder in diesem Alter auf viel mehr Unverständnis stossen (zum Glück nicht alle). Ein Pony als Zuhörer und Leidensgenosse ist klasse, richtig herzerwärmend.

Die Erklärung der Selbstfindung von Kindern hingegen fand ich eher kompliziert umschrieben. Da dies eine sehr philosophische Angelegenheit ist, finde ich schwierig, zu sagen, dass Kinder die Geschlechterrollen ihren Eltern abschauen (ich bin mir nicht sicher, ob du dies nur als Beispiel genommen hast). Es spielen sehr viele Faktoren zusammen und wirken auf Kinder ein. Schön finde isch jedoch wieder, wie du beschrieben hast, wie Kinder die sozialen Konstrukte "Junge" und "Mädchen" wahrenden und mit bestimmten Attributen wie "schön" verbinden.
Ich war auch ein wenig verwirrt darüber, dass Max von sich selbst erst dann als Junge gedacht hat, als er das ok von den Eltern bekommen hatte.
Der "erste tag als Junge" macht für mich keinen Sinn, da transgeschlechtliche Personen sich schon vorher im andern Geschlecht fühlen bzw nicht wohl sind in ihrem Geschlecht.
Es könnte aber auch sein, dass Max dies anders empfunden hat und das ist ja auch möglich.
Ein etwas ausgeprägterer innerer Konflikt hätte meiner Meinung nach bei diesem Thema auch gut gepasst. Hier wurde es Max sehr einfach gemacht: keine Selbstzweifel, keine grössere Konfrontation mit Unverständnis - was sehr schön ist und leider viel zu selten vorkommt.

Nur noch ein kleiner Hinweis - Transsexuell ist Ansichtssache heute nicht mehr ganz korrekt. Falls die Geschichte ein paar Jahre vorher spielt, ist die Verwendung davon richtig, da man damals auch Medizinisch von einer Transsexualität und nicht -identität sprach. Der Begriff wird heute von vielen Menschen abgelehnt, weil die Endung "-sexualität" die körperliche Komponente im Gegensatz zur sozialen ("gender") betont und so klingt, als hätte Transsexualität etwas mit sexueller Orientierung zu tun, was nicht der Fall ist.

Sorry, ich wollte nicht so viel meckern, auf jeden Fall finde ich grundsätzlich eine Geschichte zu diesem Thema toll. Trans*-awareness ist wichtig!

Liebe Grüsse
Chandrian
Ich bin ja selbst den ganzen Weg gegangen und die Ärzte verwenden den Begriff auch heute noch im medizinischen Teil und in den Gutachten. Aber ich weiß, dass sich im Sprachgebrauch einiges verändert hat. Allerdings tun die meisten Leute leider etwas zu viel des Guten. Man kann es nicht allen Recht machen und für mich zählt nur als Trans, wer komplett in die Angleichung geht, da für diese Leute Gesetze vorhanden sein müssen. Das TSG alter Fassung, nach dem ich behandelt wurde, ist wenig hilfreich und ich hoffe, die Regierung kriegt jetzt endlich etwas Besseres auf die Reihe. Alle diejenigen, die mit ihrem Leben zurecht kommen, können sich natürlich bezeichnen, wie sie es möchten. Das Problem liegt bei denen, die die Vornamens-und Personenstandänderung für sich brauchen und sich komplett operieren lassen wollen/müssen. Als Mediziner weiß man auch, dass die sexuelle Ausrichtung nichts mit Transsexualität/Transidentität zu tun hat. Man muss nur irgendwo eine Linie ziehen, damit die, die Hilfe brauchen, sie auch bekommen können. Sonst wird es mit dem Gendern zu viel kuddelmuddel. Freue mich auf deine Reaktion zum ganzen Roman, der noch nicht lektoriert und deshalb hier erstmal für alle zugänglich ist.
 



 
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