In der Bretagne

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Klaus K.

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In der Bretagne

Er hatte alles geplant. Jetzt stand er an der Eingangstür zur Kirche an diesem Sonntag. In Plouer-sur-Rance, diesem idyllischen Ort zwischen Saint Malo und Dinan in der nördlichen Bretagne. Die Glocken begannen zu läuten, der Gottesdienst war vorbei. Die ersten Besucher traten jetzt heraus, er mischte sich direkt unter sie und verwickelte eine Frau, die er entfernt kannte, in ein Gespräch über die Predigt. Die hatte er ja zum Beginn des Gottesdienstes noch mitbekommen, er wußte daher, worum es sich inhaltlich handelte.

Für Maurice Basson war alles nach Plan verlaufen. Diverse Kontakte vor dem Beginn und vor der Kirchentür, und dann hatte er sich allein in die hinterste, in die letzte Reihe gesetzt. Da die Kirche recht gut besucht war, hatte er Glück gehabt und saß dann nahe bei der Eingangstür. Diese war mit einem schweren Vorhang versehen, der längs aufgeschlitzt war und sich fast neben seinem Sitzplatz befand. Der Zweck dieses Vorhangs bestand im Schutz vor Geräuschen, wenn sich die Eingangstür öffnen oder schließen sollte. Dazu im Schutz vor weiterem Lärm von draußen, zudem vor Wind, Luftzug, Lichteinfall während des Gottesdienstes.
Er war unter Zeugen hereingekommen, niemand drehte sich dann nach ihm um. Und jetzt war er mit den anderen Besuchern vermeintlich gerade wieder herausgekommen. Er wurde wieder gesehen, teilweise auch durch ein Kopfnicken begrüßt.

Bernard konnte zufrieden sein. Denn er, Maurice, hatte alles richtig gemacht, so wie Bernard es gewünscht hatte. Er war sein Bruder.

Die Tatsache, dass er knapp zehn Minuten während des Gottesdienstes nicht in der Kirche anwesend gewesen war, hatte niemand bemerkt, es sei denn, man hätte sich nach ihm umgedreht. Das war äußerst unwahrscheinlich, und selbst wenn, hätte es noch das " Argument Toilette" dafür gegeben. Für den Notfall. Es war alles gut geplant, gut bedacht worden. Er konnte in einem Moment, als der Pastor von der Kanzel zum Altar schritt und ihm den Rücken zuwendete, direkt hinter dem Vorhang verschwinden, denn alle Besucher waren jetzt mit dem Aufblättern ihrer Gesangbücher beschäftigt. Niemand drehte sich dabei um.
Als der Gesang dann einsetzte, konnte er leise aus der Kirchentür nach draußen treten. Jetzt blieben ihm nur ein paar Minuten bis zur Beendigung des Gottesdienstes, und da musste er ja dann wieder da sein. Aber das genügte. Der Ortskern war noch menschenleer jetzt an diesem Sonntagmorgen.
Er hatte es nicht weit, nur zwei Querstraßen entfernt lag sein Haus. Die alte Armeepistole seines Vaters aus den Zeiten der Resistance hatte er in der Innentasche seiner Jacke. Die würde er dann später entsorgen, und dafür bot sich der Fluss, die Rance, ja ideal an. Der Fluss war tief und er hatte die passende Stelle bereits vor Augen.
Bernard würde zufrieden sein. Er hatte die starke Schlaftablette bereits heute morgen eingenommen. So war es abgesprochen, bislang verlief alles wie geplant.

Die Gottesdienstbesucher verteilten sich schnell, die Glocken läuteten immer noch. Einige von ihnen - Männer und Frauen - gingen jetzt direkt in Richtung der Bar "Boit Sans Soif", Maurice schloss sich ihnen an. Ein Glas würde jetzt auch ihm guttun, der Besitzer hatte soeben die Tür geöffnet.
Zitterte er, zitterte seine Hand? Nein, er war ganz ruhig. Sein Nachbar am Tresen sprach ihn jetzt an, hatte eine Frage zum bevorstehenden Tontauben-Wettschießen am Nachmittag.
Maurice war Vorstandsmitglied des örtlichen Vereins, und heute ging es um etwas. Die konkurrierende Gemeinde aus St.Coulomb mußte besiegt werden, sonst drohte ein Abstieg in der Liga.
Maurice stand Rede und Antwort und beantwortete alle Fragen.
Die Bar füllte sich, lautes Stimmengewirr, lautes Gelächter, lautes Leben. Leben.

"Monsieur Basson! Monsieur Basson, bitte kommen Sie! Ganz schnell, bitte kommen Sie!" Madame Trudec wirkte völlig aufgelöst, als sie auf der Schwelle der Eingangstür stehen blieb und in den Raum hinein nach ihm rief. Sie war eine qualifizierte Pflegekraft, die sich um Kranke und bettlägerige Patienten in Plouer kümmerte und diese regelmäßig zu festen Uhrzeiten besuchte. Maurice stellte sein Glas ab, wand sich durch die Traube der Anwesenden zur Tür, wortlos.
"Was ist los, Madame Trudec?" fragte er dann sofort, als er im Freien war. "Was ist los? Ist etwas mit Bernard?"
"Monsieur Basson, es ist entsetzlich! Er ist erschossen worden, ein Schuss, in die Stirn! In seinem Bett! Vor etwa einer halben Stunde! Man hat ihn bereits untersucht, der Notarzt ist da......die Polizei ist da!"

Pankreas-Karzinom. Inoperabel, im Endstadium. Er wollte es so. Er wollte Sterbehilfe, auf seine Weise und völlig selbstbestimmt. Aber er wollte keine Reise in die Schweiz oder in die Niederlande. Er wollte seinen Tod hier, hier in seinem Haus. Und die Kirche, als ewiger Verweigerer der Vernunft? Ein Handlanger des Todes, wie gehabt. Überall, auch in der Bretagne.
 
Zuletzt bearbeitet:

Languedoc

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Hallo Klaus K.,
Welchen Preis Monsieur Basson wohl zahlen wird für diesen "Freundschaftsdienst" an den Todkranken?
Gruß
Languedoc
P.S. Im Text fehlen einige Beistriche.
 

Klaus K.

Mitglied
Hallo Languedoc,

Maurice Basson ist (war) der Bruder von Bernard Basson. Das war an und für sich klar, ich habe es kurz noch einmal verdeutlicht. Damit er nicht für das, was u.a. Staat/Religion/Organisationen verbieten, "bezahlen" muß, geht doch aus dem Aufbau und dem Kontext hervor. Es handelte sich um eine einmalige Entscheidung, einen für ihn einmaligen Vorgang, und die Kirche wurde hier zum Erfüllungsgehilfen wider Willen.
Zum postscriptum: Mir sind keine fehlenden Kommata aufgefallen, ich lasse mich aber gerne konkret überzeugen.
Mit bestem Gruß, klaus k.
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Klaus K.,

Mir war beim ersten Durchlesen nicht klar, dass es sich hier um Brüder handelt - ich habe erst jetzt zwei diesbezügliche, ziemlich versteckte Hinweise im Text gefunden:
"Er (Maurice) hatte es nicht weit, nur zwei Querstraßen entfernt lag sein Haus."​
"Er (Bernard) wollte seinen Tod hier, hier in seinem Haus.",​
woraus ich aber auch nur schließen kann, dass Maurice und Bernard gemeinsam ein Haus bewohnen und/oder besitzen. Über ihr familiäres Verhältnis sagt das nichts aus.

Nun fügst Du in dem Text ein: „Er war sein Bruder“, um die private Konstellation zwischen Sterbehelfer und Gestorbenen zu verdeutlichen. Diese Blutsbande allein ist jedoch kein überzeugender Grund für Maurices Bereitschaft, seinen kranken Bruder zu töten, noch dazu in einer Aktion, die in meinen Augen einem kaltblütigen Mord gleicht (Schuss in die Stirn). Hätte es eine Überdosis Schlaftabletten nicht auch getan? Usw., usf., ich meine, diese Geschichte wirft viele Fragen auf und genau das ist das Interessante an ihr: Der Leser hat jeden Spielraum, Mutmaßungen und Interpretationen anzustellen. Find ich an sich gut.

Ist es für diesen Plot überhaupt von Belang, zu wissen, dass es sich um Brüder handelt? Deiner Aussage nach nämlich läuft die Pointe darauf hinaus, dass „die Kirche ... hier zum Erfüllungsgehilfen wider Willen [wurde]“; und dafür ist erst mal irrelevant, ob die beiden Protagonisten Brüder sind oder nicht.

Wichtiger scheint mir der Punkt zu sein, dass es für Maurice eine „einmalige Entscheidung, ein für ihn einmaliger Vorgang“ gewesen sein soll, ohne jegliche Konsequenzen, offenbar weil ihm die Tat nicht nachzuweisen sei aufgrund perfekter Planung. Ich persönlich bezweifle, dass das Innenleben eines Menschen im Zusammenhang mit Sterbehilfe auf diese Weise funktioniert, auch nicht jenes einer fiktiven Prosafigur. Vielleicht ist mir die Geschichte psychologisch zu wenig fundiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der geschilderte Vorgang ohne Emotionen abläuft.

Wie auch immer, die Geschichte ist sehr anregend.

Ein scharfes Lektorat könnte den Text stilistisch enorm aufwerten. Lohnen würde sich bereits eine kleine Überarbeitung hinsichtlich Füllwörter, Adverbien, Wortdoppelungen: jetzt, denn, dann, wieder, als, noch, ...

Detto wäre eine bessere Absatzgestaltung drin.

Rechtschreibung:
S-Schreibung: daß = dass, er mußte = musste, er schloß = schloss, ein Schuß = Schuss
Vorstandmitglied = Vorstandsmitglied
gut tun = guttun

Komma:
Da die Kirche recht gut besucht war, (Komma) hatte er Glück gehabt und ...
... dass er knapp zehn Minuten während des Gottesdienstes nicht in der Kirche anwesend gewesen war, (Komma) hatte niemand bemerkt ...
... und selbst wenn, (Komma) hätte es noch das „ Argument Toilette“ (das Argument Toilette) dafür gegeben.
Madame Trudec wirkte völlig aufgelöst, (Komma) als sie auf der Schwelle der Eingangstür stehen blieb ...
„Was ist los, Madame Trudec?“, (Komma) fragte er dann sofort, (Komma) als er im Freien war.
Man hat ihn bereits untersucht,, (ein Beistrich weniger) der Notarzt ist da ...

Et voilà.

Freundliche Grüße

Languedoc
 

Klaus K.

Mitglied
Cher Languedoc,

vielen Dank für deine Mühe. Zumindest konnte ich deine Irritation "wieviel er wohl zahlen wird für diesen Freundschaftsdienst an den Todkranken" wohl auflösen. Weder spielte Geld eine Rolle, noch befindet man sich im Plural.
Anscheinend ist wohl doch wichtig zu erkennen, dass es Brüder sind. Dies wird aber nicht als Begründung für die Tat an sich benutzt. Es fungiert als "Erleichterung" für die Tat und ist damit wichtig. Das Verhältnis der beiden Brüder zueinander wird deutlich, die Gemeinsamkeit auch hinsichtlich der Entscheidung. Mehr "Psychologie" braucht es da nun wirklich nicht. "Ohne Emotionen abläuft?" Er überprüft, ob er zittert, ob seine Hände zittern! Diese Nachwirkung wird doch geschildert, tiefer einzusteigen verwässert hier m.E. doch den Kern der Handlung, dieser kleine Schlenker sagt doch alles. Pardon, aber da kann ich einfach nicht mehr folgen.

Die ärgerlichen Flüchtigkeitsfehler hast du detektivisch gefunden, dafür gleichfalls merci. Mein "Lektorat" war nicht zugegen, und ich habe meinen Text irgendwann mal wieder nur noch sträflich überflogen.

Stören tut mich allerdings der Hinweis, dass "ein scharfes Lektorat den Text stilistisch enorm aufwerten könnte". Ich bezweifle eine "enorme stilistische Aufwertung". Mein "Stil" wird nicht verändert, von keinem Lektor dieser Welt. Hier stösst man bei mir auf Granit. Aus gutem Grund. Was meinen Stil anbelangt bin ich sehr empfindlich und empfinde die gewählte Formulierung auch als absolut despektierlich. Und eine einzelne Meinung kann niemals mein Maßstab sein.

Ob eine bzw. diese "Aufwertung" durch Auslassung oder Reduktion von Füllwörtern und Adverbien erfolgen kann? Ich habe da größte Zweifel. Diese hier vorliegende Geschichte hat einen ganz besonderen Stil als tragendes Element. Es gibt genügend angeblich "tolle" Literatur, die überwiegend nur aus Subjekt/Prädikat/Objekt besteht. Bei mir findet diese sich allerdings nicht. Eine Frage der persönlichen Präferenz.

Ein Lektor ist auch für mich keine Instanz, nur ein Dienstleister mit beschränktem Zugriffsrecht hinsichtlich offensichtlicher Fehler-Korrekturen. Ansonsten kann er sich mit seinem Verleger/Herausgeber über seine stilistischen Vorstellungen unterhalten. Er ist kein Autor. Was hat er oder sie veröffentlicht, das ihn oder sie qualifiziert hätte? Ein Magister Artium in Germanistik irgendwann genügt da sicher nicht.

Ich werde die Kleinigkeiten, die du akribisch herausgefunden hast, noch korrigieren. Eine Story lebt von einer Idee, einer Herleitung, einer gegebenenfalls gelieferten Conclusio, weiterführenden Denkanstössen. Das Beiwerk ist dabei eher sekundär.-
Das alleinige zentrale Thema ist die "Sterbehilfe", festgemacht an einer der in unheilvoller Allianz verbrüderten Institutionen, hier an der diesbezüglichen Haltung der Kirche. Ein sehr wichtiges und aktuelles Thema, betrachtet von der Seite Betroffener, verpackt in eine sich erst am Ende auflösende Geschichte.

Ach ja, und die "Form". Absätze. Mon dieu, ja. Gerne, von mir aus. Ein Fall für das Lektorat. Und nun......je crois que ca suffit!
Vielen Dank und mit bestem Gruß, klaus k.
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Klaus K.,

Selbstverständlich steht es jedem Autor frei, ob und wie weit er seine Schreibkünste verfeinert.
Und zu Deiner Geschichte gibt es mit Sicherheit die unterschiedlichsten Lesermeinungen. Vielleicht meldet sich ja hier noch der eine oder andere Kommentator.
Es grüßt
die chère Languedoc
 

Klaus K.

Mitglied
Chère Languedoc,

...völlig d'accord! Grüße nach Narbonne, Beziers, Bages und ggf. auch - sofern bekannt - Ouveillan!
LG, klaus
 



 
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