In Sicherheit

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anbas

Mitglied
In Sicherheit*

Würde und Güte sprechen aus seinen Augen
Ruhig sitzt er da und folgt dem Gespräch
Nur selten ergänzt er die Worte seiner Frau

Sein Kopf schmerzt häufig
Seit Gewehrkolben ihn trafen
Damals auf der Polizeistation in Kabul

Die Dolmetscherin übersetzt einfühlsam
Bleibt aber sachlich distanziert

Eigentlich zu alt für die Flucht
Trotzdem mussten sie fort
Und haben es geschafft irgendwie

Klein ist das Zimmer im Flüchtlingsheim
Nebenan saufen und huren Junggesellen
Deren Sprache er nicht kennt
Nur eine dünne Wand trennt Welten

Die Familie zerbricht
Sein Sohn die Schwiegertochter die Enkel
Wohnen in derselben Unterkunft
Nur zwei Häuser entfernt
Gehen eigene Wege
Lernen Deutsch
Haben keine Zeit
Doch darüber spricht er nicht

Nachts juckt sein ganzer Körper
Schläft deshalb oft auf einer Matratze im Flur
Das Kratzen soll seine Frau nicht stören
Die Ärzte ratlos
Sprechen von Trauma und kranker Seele

Noch vier weitere Zimmer gibt es
Leichtbau schwedischer Art
Eine Großfamilie aus seinem Land
Fünf Kinder toben hier herum
Der Holzfußboden bebt bis in den späten Abend
Und immer wieder diese Kopfschmerzen

Nun bitten sie um ein anderes Zimmer
In einem anderen Haus
Es muss auch gar nicht bei seinem Sohn sein
Man will ja nicht stören hat Verständnis
Nur etwas mehr Ruhe möchten sie haben

Die Verzweiflung bricht aus seiner Frau heraus
Sie weint und klagt ist kaum zu beruhigen
Die Dolmetscherin versucht zu trösten

Und aus seinen Augen
Rinnen stille Tränen
Über runzlige Haut





*Nach einer wahren Begebenheit.
 

Soljanka

Mitglied
Hallo anbas,

das wäre schade, wenn dieser Beitrag unterginge.
Mir gefällt diese einfühlsame Beobachtung jenseits aller Phrasendrescherei.

Gruß von
Soljanka
 

anbas

Mitglied
Hallo Soljanka,

ich freue mich sehr über Deine Rückmeldung.

Das beschriebene Ereignis liegt fast 20 Jahre zurück und gehört zu den Erlebnissen in meiner gut 30jährigen "Sozialarbeiterlaufbahn", die besonders in meiner Erinnerung haften geblieben sind.

Ich hatte es schon mehrfach "am Wickel", bin aber bei der Umsetzung nie sehr weit gekommen. Das Risiko, zu rührselig zu werden oder eben, sich im Phrasendreschen zu verlieren, ist groß. Nun scheint es geklappt zu haben :).

Liebe Grüße

Andreas
 

Maribu

Mitglied
Hallo Andreas,

'In Sicherheit' ist von dir beeindruckend auf den Punkt gebracht worden!
Afghanistan ist ja so weit weg!
Die Taliban sind schon lange besiegt!
Was geht uns das in Deutschland oder Europa an?!
Sollen sie sich doch ruhig in die Luft sprengen!
Wir haben doch nur ein wichtiges Thema, und das ist der Brexit!

'Würde und Güte sprechen aus seinen Augen' das ist bewundernswert, wo er noch den Gewehrkolben spürt und würdelos behandelt wurde und wird. - Für Hass hat er offenbar keine Kraft mehr. Resigniert wartet er auf...
Ja, auf was?


Lass den Text doch in ein Lyrik-Forum verschieben, hier auf 'Diary" findest Du wenig Resonanz und das ist sehr schade!

Liebe Grüße Maribu
 

anbas

Mitglied
Hallo Maribu,

vielen Dank für Deine Rückmeldung und die Wertung!

Ja, ich hab daran gedacht, diesen Text in die Lyrik zu stellen - und denke immer noch mal wieder drüber nach.

Hier geht es mir ähnlich wie bei meinem Text "Antrag auf Entschädigung" ( https://www.leselupe.de/lw/titel-Antrag-auf-Entschaedigung-116967.htm ). Der Inhalt ist mir derart wichtig, dass ich ihn nur ungerne einer Diskussion aussetzen möchte, die sich eher auf formale Dinge, stilistische Anmerkungen usw. konzentriert. - Andererseits könnte genau diese Diskussion den Text noch weiter verbessern...

Ich werde weiter drüber nachdenken.

Liebe Grüße

Andreas
 

anbas

Mitglied
Lieber Arno,

ich beziehe mich auf Deine Anmerkungen, die Du zu Deiner Sternewertung gemacht hast - für die ich mich herzlich bedanke:

"Güte" kann man im Unterschied zu "Würde" einem Gesicht nicht ablesen, sondern nur dem aktiven Verhalten entnehmen.
Es gibt die - zumindest mir - geläufige Redewendung, dass jemand "gütige Augen" hat. Vor dem Hintergrund passt die Formulierung durchaus.
Und dann der Schluss: " ... rinnen stille Tränen über runzlige Haut." Mal ehrlich: Wie würdest du eine solche Stelle in einem Text aus fremder Feder über Insassen eines Pflegeheims finden?
Zum einen geht es hier um eine Flüchtlingsunterkunft und nicht um ein Pflegeheim ;). Doch nun zu dem eigentlichen Kritikpunkt: Alles, was ich in diesem Text geschrieben habe, ist genau so geschehen. Ich habe in meiner rund 30jährigen Sozialarbeiter-Laufbahn einige sehr unschöne und belastende Dinge hören und erleben müssen - auch solche, die wesentlich schlimmer als diese Situation waren. Dennoch gehört das Beschrieben zu jenen Momenten, die mich besonders tief mitgenommen haben. Somit ist diese Formulierung für mich die Kernaussage in diesem Text.
Mag sein, dass man die Stelle noch anders formulieren kann - mir ist da noch nichts anderes eingefallen, ohne das ich das Gefühl hatte, diese Kernaussage zu verwischen. Vielleicht findet sich ja noch eine.

Trotzdem danke ich Dir für Deine Rückmeldung. Ich werde mir sicherlich noch hin und wieder Gedanken drüber machen.

Liebe Grüße

Andreas
 
G

Gelöschtes Mitglied 20513

Gast
Du beschreibst die Begegnung mit einem Flüchtling in der Flüchtlingsunterkunft aus der Beobachterposition, enthältst dich, obwohl du den Text unter "Tagebuch" gepostet hast, jeder eigenen Meinung, in der Annahme, die Fakten sprechen für sich. So kam mir beim Lesen das Gefühl auf, hier wird ein Mensch beobachtet, jede seiner Regungen und Äußerungen, aber der Beobachter selbst bleibt kühl distanziert. Da muss doch etwas Gefühlsmäßiges im Beobachter vorhanden sein, wenn er diese Begegnung seinem Tagebuch anvertraut, in dem er sich aussprechen kann. Ich verstehe die Distanziertheit nicht. So beobachten Psychiater ihre Kranken oder Waldspaziergänger einen Ameisenhaufen. Du warst Sozialarbeiter, schreibst du. Immer so kühl, so distanziert, der Mensch vor dir ein Objekt, nicht das Subjekt? Das wäre das, was ich kritisch anfragen muss.

Andererseits entsteht für die Öffentlichkeit ein Einblick in eine Welt, zu der sie normalerweise keinen Zugang haben. Dies halte ich für den Verdienst dieses Textes. Aber da wir uns hier in einem literarischen Forum befinden, hätte ich mir nicht ganz unberechtigt ein wenig Literatur vorstellen können. Ich möchte Wärme spüren gegenüber dem Flüchtling, Sympathie, Hilfsbereitschaft. Davon in deinem Text kein Wort. Oder gehören sie nicht zum Repertoire des Sozialarbeiters? Ich will ja nicht übertreiben, aber ich hatte ein wenig den Eindruck, du sezierst in diesem Text eine Tomate und nicht einen hilfsbedürftigen Menschen.

blackout
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:

anbas

Mitglied
Hallo Blackout,

stimmt, der Text ist sehr distanciert geschrieben. Doch das ist auch so beabsichtigt. Ich finde, dass manchmal viel mehr Emotionen entstehen können, wenn die Schilderung eher nüchtern bleibt. Bei sozialen Themen wird für meinen Geschmack viel zu oft auf die Tränendrüse gedrückt oder moralisiert. Das wollte ich hier nicht.

Ohne Mitgefühl hätte ich diesen Text nicht schreiben können. Ohne Mitgefühl wäre einem anderen diese Umstände egal und/oder nicht erwähnenswert erschienen (nach dem Motto "Sollen doch froh sein, dass sie jetzt in Sicherheit leben...").

Als Sozialarbeiter braucht man auf der einen Seite Empathie, auf der anderen auch die professionelle Distanz. Diese Gratwanderung gehört aus meiner Sicht zu den besonderen Herausforderungen in diesem Beruf. Ohne genug Empathie erreicht man die Menschen nicht, ohne professionelle Distanz ertrinkt man mit ihnen zusammen in den Problemen, verliert den Überblick und kann nicht mehr helfen (und macht sich auf Dauer selber kaputt).
Konkret in dieser Situation war dieser Balanceakt für mich besonders schwer gewesen. Ich kannte das Ehepaar schon länger und beide waren mir sehr sympatisch. Wenn diese Sympathie mitschwingt, ist die Gefahr noch größer, sich mit in das Problem zu verstriken. Als dann die Frau anfing zu weinen, war ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei mir, kämpfte damit, eine Lösung für die Situation zu finden. Als ich dann aus den Augenwinkeln die Tränen des alten Mannes sah, war es eines der wenigen Male, in denen ich kurz davor war, eine Beratung abzubrechen, weil sie mich emotional so sehr gepackt hatte - doch damit hätte ich den beschrieben Balanceakt verloren.

Warum habe ich das Ganze ins Tagebuch gesetzt? Da die Leselupe ein literarisches Forum ist, hatte ich die Befürchtung, dass der Text im Ungereimten "zerpflückt" worden wäre, dass man aus diesem Bericht "Kunst" machen möchte - und zwar in einer Form, die der eigentlichen Geschichte hinter dem Ganzen nicht gerecht wird.

Ich persönlich halte den Text trotzdem für literarisch gut, da ich schon der Meinung bin, dass er durch die distancierte Art Emotionen entstehen, dass er mehr ist, als nur ein trockener Bericht.


Ich danke Dir für Deine Rückmeldung, da sie mich dazu gebracht hat, noch einmal über diesen Text etwas mehr zu reflektieren.


Liebe Grüße

Andreas
 



 
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