Innenstadt-Idylle

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Tula

Mitglied
Innenstadt-Idylle


Auf einer Bank am Markt verträume ich
den Nachmittag. Nichts regt sich, alles steht:
die Luft, am Turm der Zeiger, Bienenstich
zum Sonderpreis vorm Bistro, das nach Gästen fleht.
Der 'lause' über einer morschen Tür
fehlt jetzt das 'K', das schon vor langem fiel.
Da kann die Stadtverwaltung nichts dafür,
sie setzt auf Aufschwung: wir sind heut' ein Ausflugsziel.
Man liest, die Stadt sei schön wie nie zuvor!
Und auch, dass fünfzig Gäste letztes Jahr
allein (!) das Rathaus und das alte Tor
bewunderten, was ein Verdienst des Amtes war.
Im Spiegel gleitet über den Asphalt
ein Köter, den hier jede Ecke kennt.
Das alte Kopfsteinpflaster war zu alt
und überhaupt, aus Kostengründen nicht im Trend.
Am Lindenbaum an meiner Seite wagt
sich schon das dritte Blatt ans Licht der Welt.
Sein Schatten kühlt ein halbes Ohr und fragt
mich ob man Bäume stets nach zwanzig Lenzen fällt.
So döst mit mir intim und unbeschwert
in märkischer Gelassenheit die Stadt.
Hach! Denke ich, wie is' dit lobenswert
und schön für 'een, der immer noch die Heimat hat ...
 
T

Trainee

Gast
Hallo Tula,

ich mag Idyllen derzeit besonders gern. ;) Und deine gefällt mir richtig gut.

Beim Schluss

Hach! Denke ich, wie is' dit lobenswert
und schön für 'een, der immer noch die Heimat hat .
"bessere" ich wegen deines sturmzerzausten Exils unwillkürlich nach:

und schön für 'een, der immer noch am Stromnetz hängt!
Alles Liebe, viel Sprit und gute Aussichten
Trainee
 

Tula

Mitglied
Hallo prewarmarklin

vielen Dank für deinen netten Kommentar. Ja, die (K)lause ist wohl auch meine Lieblingsstelle. Meine märkische Heimatstadt war mal voller Kneipen, nicht unbedingt wohlige, aber immerhin. Traurig jedenfalls, dass es keine Zille-Stube mehr gibt, da standen echt lustige Sprüche an der Wand.

Ob der Text wirklich stockt, möchte ich irgendwie bezweifeln. Der Idee und der sommerlich-stehenden Luft entsprechend, würde ich das Gedicht selbst langsam vortragen. Lyri sitzt auf der Bank und beobachtet die vor seinen Augen vor sich hin dösende Innenstadt; da treten die Bilder und auch Erinnerungen nur nach und nach in Erscheinung.

Auch wenn die Stadt nicht mehr so grau wie damals ist, hatte sie doch mehr Leben, schon der Geschäfte wegen, denn es gab keine Gewerbegebiete und Einkaufszentren am Rande der Stadt und auch nicht mehr Discounter als die schon genannten Kneipen.

Meine Enkel (die ich noch nicht habe) werden sicher eines Tages wieder im Schatten sitzen. Ansonsten ist das alles ein wenig übertrieben, wie es sich für einen satirischen Ansatz auch gehört. Das Gedicht beschreibt eine Idylle, was ich durchaus literarisch zu verstehen sehen wollte (https://wortwuchs.net/idylle/), ein bisschen Nostalgie, Vorfreude auf meinen nächsten Besuch in zwei Wochen und überhaupt ein Versuch, sich an etwas Neues zu wagen.

LG
Tula
 

Tula

Mitglied
Hallo Trainee

vielen Dank auch für deinen Gruß, in der Tat hatte ich bei dem schlechten Wetter hier schon wieder Heimweh :)
Glücklicherweise belaufen sich die Schäden hier nur auf einen abgeknickten Ast und ein verbogenes Verkehrsschild und der Regen hat sogar mein Auto gewaschen!

LG
Tula
 

anbas

Mitglied
Hallo Tula,

mir gefällt dieses Gedicht zum einen aufgrund der Stimmung, die Du, wie ich finde, gekonnt einfängst.

Interessant (und zwar positiv interessant ;)) finde ich, wie Du hier mit einigen Zeilenumbrüchen arbeitest. Sie sorgen evtl. für das von prewarmarklin angesprochene Stocken. - Ich jedenfalls stockte zunächst während des Lesens bei einigen dieser eher ungewohnten Zeilenumbrüche. Je mehr ich mich aber darauf einließ, um so mehr "entstockte" ;) ich beim Lesen.

Liebe Grüße

Andreas
 

Tula

Mitglied
Hallo Andreas

vielen Dank für Kommentar und Wertung.

In der Tat ist es nicht immer leicht, den Lesefluss der inhaltlichen Absicht anzupassen. Bei gewissermaßen 'schönen' Gedichten (z.B. Natur) sollen / können die Reime im wörtlichen Sinne 'fließen', allerdings auf die Gefahr, dass das Gedicht schnell ins Leiern kommt und gerade deshalb als 'unmodern' und altbacken erscheint.

Bei diesem Thema, denke ich, wäre ein perfekter sprachlicher Fluss eher unpassend, würde der Idee des allmählichen Beobachtens entgegenwirken. Das Ganze mag dann sogar leicht 'deppisch' klingen, was mit der naiven Schlußfolgerung unterstrichen werden soll.
Der Leser mag sich bei dieser übrigens ebenso an Nietzsche erinnern:

Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n —
Wohl dem‚ der jetzt noch — Heimat hat!



Liebe Grüße
Tula
 



 
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