Jammerossis Gegenwart

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An einem Sonntag



Ich schreibe nicht im klassischen Sinne Tagebuch. Nur wenn der Moment für mich stimmig ist, setze ich mich mit Papier und Stift, oder eben wie jetzt, vor den Laptop, und schreibe. Von dem, was mir durch den Kopf geht, von den kleinen Ereignissen der Tage, die mir, oder in einem weiteren Sinne, die uns widerfahren. Uns, der Menschheit. Versuche also das zu verarbeiten, was es schafft, in die täglichen Nachrichten der Fernseh- und Radio-Sender zu kommen, was ja meist nicht gerade die erfreulichsten Vorgänge sind.

Gern lasse ich mich beim Schreiben von einem Musikprogramm mit viel Klassik, gelegentlichen Jazznummern und anderen Musiken abseits der geläufigen Populärkultur begleiten. Wähle dafür Radioprogramme, die in ihrem Namen einen Zusatz wie „kultur“ oder „klassik“ haben. Allein die Stimmen der Moderatorinnen und Moderatoren dort sind meist wohltuend anders als bei Sendern, die den Massengeschmack bedienen. Es wird nicht aufgeregt gekreischt, wenn Kulturmoderatorinnen uns etwas sagen, die Informationen kommen in gesittetem Sprachgestus herüber, fast, als säße eine überaus gebildete Freundin, ein kluger sympathischer Bekannter am Tisch. Wenn Sie es nicht schon getan haben, stellen Sie für eine Weile einen Kultursender ein, von dem Sie für – sagen wir mindestens ein halbes Jahr nicht abweichen. Vielleicht geht es Ihnen nach einer gewissen Zeit wie mir. Wenn eine(r) meiner Moderator(inn)en seine jeweilige Sendung beginnt und mit entsprechendem Gruß anmoderiert, antworte ich oft ganz selbstverständlich. „Guten Morgen Micha.“ Oder „Hallo Sabine.“ Eine ungefährliche Verrücktheit. Kaum bedenklich, hoffe ich.

Heute ist Sonntag. Sonntags könnte ich länger liegen bleiben. Keine Pflegeschwester klingelt zwischen viertel und halb sieben, schwebt dann herein, schmettert mir ihr „Morgen!“ entgegen, um dann gleich zum Geschäftlichen zu kommen – Messen des Blutzuckers, Verabreichen der Insulinspritze, ein wenig Smalltalk nebenher und „Tschüss bis morgen!“.

Einmal habe ich es an einem Sonntag bis zehn Uhr ausgereizt mit dem Aufstehen. Anders als in meiner Kindheit bin ich dafür nicht ausgeschimpft worden. Vorteil meiner Behinderung. Von mir wird nichts mehr erwartet. Aber meist kann ich sowieso nicht ewig lange untätig im Bett liegen. Ich könnte im Bett lesen, ja. Aber das gehört mehr in die Abend- oder Nachtstunden. Früh meldet sich irgendwann die Lust auf den ersten Kaffee, eigentlich sogar auf die ganze Zeremonie. Durch die Krankheit bin ich da leider etwas eingeschränkt. Mir die alte Holzkaffeemühle zu nehmen, dann die entsprechende Menge Bohnen durchzudrehen, eine bestimmte Zubereitungsart zu wählen, all diese ritualisierten Handgriffe und Begleitgrimassen. Das klingt jetzt nicht dramatisch aufwendig oder körperlich schwer. Aber tun Sie das mal alles mit einer Hemiparese. Es strengt an. Darum spare ich mir die nötige Energie für ganz besondere Tage auf. Zum Beispiel Tage, an denen ich völlig allein zuhause bin. Nicht nur morgens, weil die ganze Familie mich wochentags spätestens um sieben verlassen hat. Nein, es gibt hin und wieder ganze Tage, an denen ich fast völlig allein bin. Alle sind weg. Himmlische Morgenstunden. Küchenfenster aufreißen, Vogelgezwitscher reinlassen. Den ersten Kaffee zelebrieren. Ein paar Gedichte oder einige Seiten Kurzprosa von Ritsos lesen. Oder selbst schreiben. Das könnte nur von einem ausschweifenden Spaziergang oder einer kleinen Radtour getoppt werden. Ein sehenswertes Ziel einplanen. Schloss Sondso mit seinem wunderbaren Park. An einer Führung teilnehmen. Kulturgeschichte atmen. Durch die Geschichte flanieren. Amüsanten Geschichtchen unbedeutender Adliger folgen. „In dem und dem Jahr ließ der Fürst das Schloss für achtzehntausend Goldtaler als Geschenk an die Fürstin auf seine jetzige Größe erweitern. Die landlosen Bauern der Umgegend mussten die Bautätigkeit nach getaner Feldarbeit unterstützen, natürlich ohne dafür einen angemessenen Lohn zu erhalten und so weiter und so fort.“ Ach ja, die gute alte Zeit. Gut. Nach den Stunden in der Geschichte einen Platz ansteuern, der einen leckeren Absacker bieten könnte. Auf einer Terrasse mit Blick über den Fluss sitzen, bis es Zeit wird, mich nach Haus zu wenden. Leider bleibt alles ein schöner Traum. Ich habe keine Möglichkeit, solche Touren zu unternehmen. Dafür bräuchte ich ein geeignetes Fahrzeug. Und das nötige Kleingeld. Seit meinem 18. Oktober habe ich keinen Cent Einkommen. Meine Frau ernährt mich durch ihr Einkommen mit, sie sorgt für Kleidung und Dach überm Kopf, ich genieße die nötige medizinische Versorgung. Ein Leben in der Hängematte. Die ich gern oft verlassen würde, wofür mir aber die Mittel fehlen. Selbstbestimmt leben ist wohl etwas anderes. Also fange ich an, mich nach Wegen aus der Isolation umzuschauen. Ich beginne im Internet damit, komme mir nach ein paar Seiten wie im Paradies für Schwerbehinderte vor. Was uns alles bereitgestellt wird! Und immer mit dem Ziel, dass uns möglichst wenig an Lebensqualität verloren gehen möge. Menschenwürde, Teilhabe undsoweiter. Irgendwann werde ich stutzig. Alles, was mir bisher ganz selbstverständlich angeboten und zur Verfügung gestellt wurde, sind Hilfsmittel, deren Sinn davon auszugehen scheint, dass wir Schwerbehinderten alle gern zuhause hängen, nichts mit der Welt vor der Tür zu tun haben wollen – und wahrscheinlich ja auch gar nichts mit dieser Welt anfangen können. Was ist mit Kultur, mit Politik, mit Bildung, mit meinem Bedürfnis, mich verantwortlich in die gesellschaftlichen Prozesse unserer Zeit, unseres Landes einmischen zu wollen?

Als ich nach fast fünf Monaten Rehaklinikaufenthalt auf meine Entlassung vorbereitet wurde, hätte mir eine detaillierte Schilderung aller Möglichkeiten, die mir perspektivisch gesetzeskonform zur Wahl stehen, wirklich Lust auf die Zukunft gemacht, möglichst in einer gedruckten übersichtlichen Handreichung zusammengefasst. In welchem Amt muss ich mit welchen Stichworten und Unterlagen anklopfen, um dieses und jenes zu erfragen, zu beantragen usw.? Was kann ich erwarten, um mir Mobilität zu verschaffen? Welche Möglichkeiten habe ich, eine interessante Erwerbsarbeit zu finden? Bisher fand ich im Internet nicht eine Seite, die mir dazu verständlich und verbindlich Auskunft gibt. Alles liest sich grandios und vollmundig, wie der Sozialstaat für Menschen mit schweren Handicaps sorgt. Und es ist richtig. Es gibt irre tolle Dinge.

Doch die Wege zur Werkzeugausgabe sind verworren. Klar, da fängt die Sparsamkeit des Systems an. Was der Bedürftige nicht versteht, danach fragt er vielleicht gar nicht erst. 7. September 25





An der Stelle brach ich etwas abrupt meinen Eintrag ab, weil er deutlich den Umfang meiner sonstigen Notizen überschritt. Ich musste an dem Tag schließlich noch frustriert und depressiv auf dem Sofa liegen und mich mit irgendwelchen Serien vom Weltschmerz ablenken. Bis bald, liebes Tagebuch! 10. September
 
1. Oktober '25

Ich sollte es nicht tun. Es bekommt mir nicht.

Dieses Aufwachen und gleich in den folgenden Minuten die Nachrichten im Handy lesen, also die echten News aus aller Welt – Politik, Wirtschaft, Umwelt, Soziales, Kultur usw., ich meine nicht die privaten Mitteilungen. Ich hätte es heute nicht tun dürfen. Nicht heute. Diese blöde Angewohnheit! Diese ewige Neugier, dieses unbändige Hoffen, es könnte ja mal was Gutes passiert sein … und dann? Trump, der böse Clown von Zirkus MAGA, entlässt immer mehr hochrangige Militärs, die wahrscheinlich bald ersetzt sind durch Speichellecker der harten Sorte, UND SCHWÖRT DEN GANZEN VERBLEIBENDEN HAUFEN MILITÄRS AUF EINEN KRIEG IM INNERN DER USA EIN. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass der Typ mich noch mit irgendetwas schockieren kann. Ich hielt alles mögliche Böse schon für denkbar und naheliegend, aber da hatte ich einen Aussetzer im Schwarzdenken. Er bereitet nun also das Feld, um seine Gegner*innen notfalls (?) physisch zu besiegen, zu beseitigen. Dafür die ganzen Provokationen, die Besetzungen großer Städte, der Abbau von Bürgerrechten, die endlosen Hasspredigten gegen die „Woken“, gegen „radikale Linke“, gegen die „terroristische Antifa“.

Mir ist übel. GoTT, wenn ich jemals diesem abscheulichen Menschen gegenüberstehen sollte, dann segne mich mit der Kunst, zwei Meter zielsicher im kraftvollen Strahl kotzen zu können.

Wann kommt endlich die couragierte FBI-Einheit, die den kriminellen MAGA-Clan aus dem Weißen Haus zerrt? Wie viele Verbrechen muss Donald noch begehen, bis es reicht? Mich selbst mit solchen Gedanken belastend, humpele ich durch den Tag, meine sechzig Jahre, meine eiternde Hoffnungslosigkeit, meine gelegentlich zwickenden Ängste mit mir schleppend. Zum Abend will mein Sohn kochen. Was für ein Lichtblick. Und bis dahin? Träumen. Lesen. Aus dem Fenster schauen. Vielleicht laufen Rehe über den Acker.


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