Jammerossis Gegenwart

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An einem Sonntag



Ich schreibe nicht im klassischen Sinne Tagebuch. Nur wenn der Moment für mich stimmig ist, setze ich mich mit Papier und Stift, oder eben wie jetzt, vor den Laptop, und schreibe. Von dem, was mir durch den Kopf geht, von den kleinen Ereignissen der Tage, die mir, oder in einem weiteren Sinne, die uns widerfahren. Uns, der Menschheit. Versuche also das zu verarbeiten, was es schafft, in die täglichen Nachrichten der Fernseh- und Radio-Sender zu kommen, was ja meist nicht gerade die erfreulichsten Vorgänge sind.

Gern lasse ich mich beim Schreiben von einem Musikprogramm mit viel Klassik, gelegentlichen Jazznummern und anderen Musiken abseits der geläufigen Populärkultur begleiten. Wähle dafür Radioprogramme, die in ihrem Namen einen Zusatz wie „kultur“ oder „klassik“ haben. Allein die Stimmen der Moderatorinnen und Moderatoren dort sind meist wohltuend anders als bei Sendern, die den Massengeschmack bedienen. Es wird nicht aufgeregt gekreischt, wenn Kulturmoderatorinnen uns etwas sagen, die Informationen kommen in gesittetem Sprachgestus herüber, fast, als säße eine überaus gebildete Freundin, ein kluger sympathischer Bekannter am Tisch. Wenn Sie es nicht schon getan haben, stellen Sie für eine Weile einen Kultursender ein, von dem Sie für – sagen wir mindestens ein halbes Jahr nicht abweichen. Vielleicht geht es Ihnen nach einer gewissen Zeit wie mir. Wenn eine(r) meiner Moderator(inn)en seine jeweilige Sendung beginnt und mit entsprechendem Gruß anmoderiert, antworte ich oft ganz selbstverständlich. „Guten Morgen Micha.“ Oder „Hallo Sabine.“ Eine ungefährliche Verrücktheit. Kaum bedenklich, hoffe ich.

Heute ist Sonntag. Sonntags könnte ich länger liegen bleiben. Keine Pflegeschwester klingelt zwischen viertel und halb sieben, schwebt dann herein, schmettert mir ihr „Morgen!“ entgegen, um dann gleich zum Geschäftlichen zu kommen – Messen des Blutzuckers, Verabreichen der Insulinspritze, ein wenig Smalltalk nebenher und „Tschüss bis morgen!“.

Einmal habe ich es an einem Sonntag bis zehn Uhr ausgereizt mit dem Aufstehen. Anders als in meiner Kindheit bin ich dafür nicht ausgeschimpft worden. Vorteil meiner Behinderung. Von mir wird nichts mehr erwartet. Aber meist kann ich sowieso nicht ewig lange untätig im Bett liegen. Ich könnte im Bett lesen, ja. Aber das gehört mehr in die Abend- oder Nachtstunden. Früh meldet sich irgendwann die Lust auf den ersten Kaffee, eigentlich sogar auf die ganze Zeremonie. Durch die Krankheit bin ich da leider etwas eingeschränkt. Mir die alte Holzkaffeemühle zu nehmen, dann die entsprechende Menge Bohnen durchzudrehen, eine bestimmte Zubereitungsart zu wählen, all diese ritualisierten Handgriffe und Begleitgrimassen. Das klingt jetzt nicht dramatisch aufwendig oder körperlich schwer. Aber tun Sie das mal alles mit einer Hemiparese. Es strengt an. Darum spare ich mir die nötige Energie für ganz besondere Tage auf. Zum Beispiel Tage, an denen ich völlig allein zuhause bin. Nicht nur morgens, weil die ganze Familie mich wochentags spätestens um sieben verlassen hat. Nein, es gibt hin und wieder ganze Tage, an denen ich fast völlig allein bin. Alle sind weg. Himmlische Morgenstunden. Küchenfenster aufreißen, Vogelgezwitscher reinlassen. Den ersten Kaffee zelebrieren. Ein paar Gedichte oder einige Seiten Kurzprosa von Ritsos lesen. Oder selbst schreiben. Das könnte nur von einem ausschweifenden Spaziergang oder einer kleinen Radtour getoppt werden. Ein sehenswertes Ziel einplanen. Schloss Sondso mit seinem wunderbaren Park. An einer Führung teilnehmen. Kulturgeschichte atmen. Durch die Geschichte flanieren. Amüsanten Geschichtchen unbedeutender Adliger folgen. „In dem und dem Jahr ließ der Fürst das Schloss für achtzehntausend Goldtaler als Geschenk an die Fürstin auf seine jetzige Größe erweitern. Die landlosen Bauern der Umgegend mussten die Bautätigkeit nach getaner Feldarbeit unterstützen, natürlich ohne dafür einen angemessenen Lohn zu erhalten und so weiter und so fort.“ Ach ja, die gute alte Zeit. Gut. Nach den Stunden in der Geschichte einen Platz ansteuern, der einen leckeren Absacker bieten könnte. Auf einer Terrasse mit Blick über den Fluss sitzen, bis es Zeit wird, mich nach Haus zu wenden. Leider bleibt alles ein schöner Traum. Ich habe keine Möglichkeit, solche Touren zu unternehmen. Dafür bräuchte ich ein geeignetes Fahrzeug. Und das nötige Kleingeld. Seit meinem 18. Oktober habe ich keinen Cent Einkommen. Meine Frau ernährt mich durch ihr Einkommen mit, sie sorgt für Kleidung und Dach überm Kopf, ich genieße die nötige medizinische Versorgung. Ein Leben in der Hängematte. Die ich gern oft verlassen würde, wofür mir aber die Mittel fehlen. Selbstbestimmt leben ist wohl etwas anderes. Also fange ich an, mich nach Wegen aus der Isolation umzuschauen. Ich beginne im Internet damit, komme mir nach ein paar Seiten wie im Paradies für Schwerbehinderte vor. Was uns alles bereitgestellt wird! Und immer mit dem Ziel, dass uns möglichst wenig an Lebensqualität verloren gehen möge. Menschenwürde, Teilhabe undsoweiter. Irgendwann werde ich stutzig. Alles, was mir bisher ganz selbstverständlich angeboten und zur Verfügung gestellt wurde, sind Hilfsmittel, deren Sinn davon auszugehen scheint, dass wir Schwerbehinderten alle gern zuhause hängen, nichts mit der Welt vor der Tür zu tun haben wollen – und wahrscheinlich ja auch gar nichts mit dieser Welt anfangen können. Was ist mit Kultur, mit Politik, mit Bildung, mit meinem Bedürfnis, mich verantwortlich in die gesellschaftlichen Prozesse unserer Zeit, unseres Landes einmischen zu wollen?

Als ich nach fast fünf Monaten Rehaklinikaufenthalt auf meine Entlassung vorbereitet wurde, hätte mir eine detaillierte Schilderung aller Möglichkeiten, die mir perspektivisch gesetzeskonform zur Wahl stehen, wirklich Lust auf die Zukunft gemacht, möglichst in einer gedruckten übersichtlichen Handreichung zusammengefasst. In welchem Amt muss ich mit welchen Stichworten und Unterlagen anklopfen, um dieses und jenes zu erfragen, zu beantragen usw.? Was kann ich erwarten, um mir Mobilität zu verschaffen? Welche Möglichkeiten habe ich, eine interessante Erwerbsarbeit zu finden? Bisher fand ich im Internet nicht eine Seite, die mir dazu verständlich und verbindlich Auskunft gibt. Alles liest sich grandios und vollmundig, wie der Sozialstaat für Menschen mit schweren Handicaps sorgt. Und es ist richtig. Es gibt irre tolle Dinge.

Doch die Wege zur Werkzeugausgabe sind verworren. Klar, da fängt die Sparsamkeit des Systems an. Was der Bedürftige nicht versteht, danach fragt er vielleicht gar nicht erst. 7. September 25





An der Stelle brach ich etwas abrupt meinen Eintrag ab, weil er deutlich den Umfang meiner sonstigen Notizen überschritt. Ich musste an dem Tag schließlich noch frustriert und depressiv auf dem Sofa liegen und mich mit irgendwelchen Serien vom Weltschmerz ablenken. Bis bald, liebes Tagebuch! 10. September
 
1. Oktober '25

Ich sollte es nicht tun. Es bekommt mir nicht.

Dieses Aufwachen und gleich in den folgenden Minuten die Nachrichten im Handy lesen, also die echten News aus aller Welt – Politik, Wirtschaft, Umwelt, Soziales, Kultur usw., ich meine nicht die privaten Mitteilungen. Ich hätte es heute nicht tun dürfen. Nicht heute. Diese blöde Angewohnheit! Diese ewige Neugier, dieses unbändige Hoffen, es könnte ja mal was Gutes passiert sein … und dann? Trump, der böse Clown von Zirkus MAGA, entlässt immer mehr hochrangige Militärs, die wahrscheinlich bald ersetzt sind durch Speichellecker der harten Sorte, UND SCHWÖRT DEN GANZEN VERBLEIBENDEN HAUFEN MILITÄRS AUF EINEN KRIEG IM INNERN DER USA EIN. Ich habe wirklich nicht gedacht, dass der Typ mich noch mit irgendetwas schockieren kann. Ich hielt alles mögliche Böse schon für denkbar und naheliegend, aber da hatte ich einen Aussetzer im Schwarzdenken. Er bereitet nun also das Feld, um seine Gegner*innen notfalls (?) physisch zu besiegen, zu beseitigen. Dafür die ganzen Provokationen, die Besetzungen großer Städte, der Abbau von Bürgerrechten, die endlosen Hasspredigten gegen die „Woken“, gegen „radikale Linke“, gegen die „terroristische Antifa“.

Mir ist übel. GoTT, wenn ich jemals diesem abscheulichen Menschen gegenüberstehen sollte, dann segne mich mit der Kunst, zwei Meter zielsicher im kraftvollen Strahl kotzen zu können.

Wann kommt endlich die couragierte FBI-Einheit, die den kriminellen MAGA-Clan aus dem Weißen Haus zerrt? Wie viele Verbrechen muss Donald noch begehen, bis es reicht? Mich selbst mit solchen Gedanken belastend, humpele ich durch den Tag, meine sechzig Jahre, meine eiternde Hoffnungslosigkeit, meine gelegentlich zwickenden Ängste mit mir schleppend. Zum Abend will mein Sohn kochen. Was für ein Lichtblick. Und bis dahin? Träumen. Lesen. Aus dem Fenster schauen. Vielleicht laufen Rehe über den Acker.


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23. Oktober '25

Das Jahr Hemiparese begann am 18. Oktober 2024 mit einem schweren Schlaganfall und endete ziemlich genau ein Jahr später. Leider endete die Hemiparese nicht. Aber etwa um den 18. Oktober 2025 setzte die Gewöhnung ein. Die Gewöhnung an die Tatsache, schwerbehindert zu sein. Eine Art Immobilie. Aus eigener Kraft nur beschränkt beweglich. Sehr beschränkt. Der Jahrestag ging an mir vorbei. Ich registrierte ihn nicht, obwohl ich mir ein paar Dinge vorgenommen hatte. Alles glatt vergessen. Erst zwei, drei Tage später wieder daran erinnert. Ich wollte im Beisein einiger geladener Freunde ein buntes Band an meinen Ginkgo knüpfen und will dies an jedem weiteren 18. Oktober fortführen. Nun ja. Ich hatte auch niemanden eingeladen. Damit fing das Debakel wohl an. Zur Hemiparese eine beginnende Demenz? Nein. Schusselig-vergesslich war ich schon immer.

Nicht vergessen habe ich, dass die Aufzeichnungen dieses Jahres, besonders jene aus der Rehaklinik, irgendwie aufbereitet und vielleicht wirklich in Buchform gebracht werden wollen. Im Verlauf des Jahres fanden wichtige, teilweise niederschmetternde Wahlen statt, aufregende Sportveranstaltungen, ich habe Geburtstage verpasst, mein Einkommen ersatzlos verloren, die Winde haben viel Zeit übers Land geblasen, ohne dass ich sie nutzen oder genießen konnte. Gut, die Therapien haben mir sicher gut getan, aber ihr wisst schon wie ich es gemeint habe. Man will Lebenszeit immer möglichst so verbringen, dass man sie als vollen Brunnen erlebt, aus welchem man schöpft und schöpft und schöpft … Ich habe gehört, wie der Eimer auf den Boden aufschlug und kaum noch Wasser aufspritzte. Und nun? Tage in kräftigem Grau, gesprenkelt mit leuchtend kunterbunten Momenten. Ein experimenteller Schwarzweißfilm.
 
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Der Roman des Lebens – meines Lebens – jetzt in Spiegelschrift? Das las sich doch mal so flüssig. Jahr für Jahr.

Und nun? Mühsames Entziffern. Tag auf Tag. Und es fühlt sich an wie rückwärts denken.


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11. November '25

Irgend etwas am Aufwachen ist ungewöhnlich. Nicht allmählich wie sonst, sondern ruckartig, fast wie ein Erschrecken. Dabei hat mich nichts aufgeschreckt, auch der Traum vorm Erwachen war unterhaltsam, beinahe belustigend. Ich begegnete in ihm ein paar realen Personen aus meiner Vergangenheit. Dem Jens, seiner Schwester, deren Freundin - so, wie sie früher viel zusammen auftauchten. Dazu erschienen weitere Gesichter, die allesamt in dieses Universum passten, auch wenn ich nicht mehr zu allen die Namen parat habe. Witzig war, dass sich der Jens leicht zu mir beugte, um mich nach der Ausgabe XY irgendeiner literarischen Pornographie-Kultreihe zu fragen, ob ich ihm die besorgen könne. Einen schrägen Geschmack hatte er tatsächlich. Für diese Gefälligkeit wolle er wiederum herumfragen, ob es irgendwo einen bezahlbaren Transporter für mich gäbe. Offenbar hatte ich ihm von meinen Plänen erzählt, mein Geschäft mit neuen Möglichkeiten zu beleben … Dann war ich wach. Ich stiere ein wenig in die Dunkelheit, versuche, mich zu orientieren. Seit einer Weile brauche ich im Dunkeln immer ein wenig, oben und unten, Tür und Fenster, Raum und Traum auseinander zu halten. Im Badezimmer rauscht die Dusche. Wenig später klappert die Tür. Der Sohn verlässt das Bad, seine Freundin übernimmt es. Sohn poltert ins Dachgeschoss hinauf, stößt sich an einem Balken, flucht, schimpft – wie schön. Alles wie immer. Bis ich dran bin, lese ich im Bett die ersten Nachrichten des Tages. Gottes Wort empfiehlt (oder befiehlt?) mir: Fürchte dich nicht und verzage nicht! Ich versuche, daraus Mut für den Tag zu schöpfen. Dann wird das Bad auch für mich frei. Wenig später sitze ich in der Küche.
Nur Momente nach dem Hinsetzen erlebe ich das allmorgendliche Wunder der Dämmerung. Plötzlich, aber nicht schlagartig, ist es draußen so hell, dass ich die Elemente des Gartens in ihren Umrissen klar erkennen kann. Mich interessiert, wann der eigentliche Sonnenaufgang sein wird. Also schaue ich in der Wetterapp nach. Noch genau eine halbe Stunde! Ich fühle mich beschenkt. Die Zeit der Dämmerung lässt mich Dinge und Vorgänge erkennen, ohne dass der Tag mich blendet. Sohn stellt mir einen Kaffee mit viel Milchschaum auf den Platz. Wir wechseln ein paar Worte über störende Balken, Wünsche nach besserer Raumverteilung, mehr der Körpergröße des jeweiligen Bewohners folgend. Ich bin froh, dass mein Zimmer mit seinen relativ niedrigen zwei Metern zwanzig mich nie gedrückt hat. Nur die Grundfläche könnte etwa fünf mal so groß sein. Dann hätte ich Platz für meine tausenden Bücher. Ach! Kaum aufgehört zu schlafen, fangen die Tagträume wieder an. Ich reiße mich los, wechsele lieber noch ein paar Gedanken mit dem Sohn. Da kommt schon die Pflegeschwester, die mein Wohlbefinden kontrollieren muss. Draußen wird es rasant heller. Alles wie immer. Nur ich. Ich fühle mich anders als an vielen anderen Tagen. Innerlich seltsam heiter, gelöst. Gesegnet vielleicht.
 
Danke fee, Dimpfelmoser und Otto,
für die Sterne. Heißt ja wahrscheinlich, dass euch mein tagebuchartiges Geschreibsel irgendwie gefallen hat. Diese Ermutigung hilft mir, damit weiterzumachen. Danke.
Clown
 
2. Juni 25

Montagmorgen, kurz vor acht.


Das schwache Licht einer verhangenen Sonne füllt mühsam das Zimmer, die Küche, schafft Schatten auf den Tisch.

Schatten. Von der Teekanne, der Kaffeekanne, dem Brotkorb, dem Kaffeebecher, der H-Milch-Pappe, dem Zuckerglas, dem gekochten Ei, der dicken Kerze, die nie angezündet wird.

Das Messer hat nur einen schmalen Schatten. Es liegt. Genau wie der Löffel. Sie verschaffen mir keine düsteren Gedanken, anders als manchmal die Schatten von Tee- und Kaffeekanne.

Ein unerfüllter Weihnachtswunsch fällt mir ein: Schreiben können wie Ritsos.
Ich werde ihn wieder auf die Liste setzen und an den Weihnachtsmann schicken. Später. Immer wieder.
 
12. November 25



Ein Gedicht schreiben wollen
empfinde ich oft wie stehen vor einem Raum, dessen Inneres ich bestenfalls erahne.

Wenn ich Glück habe, finde ich den Schlüssel der Tür zufällig in der Hosentasche.
Oder ein Fenster steht offen, so dass ich hineinsteigen kann.

Oh Katze, lass dich nicht von der Fensterbank verscheuchen.
Ich will nur schauen und lauschen und warten.
 
Märchenhaft . geträumt



Vielleicht begegnen wir uns am Hang, wenn ihn gerad die Sonne bescheint – nein, wir begegnen uns ganz sicher dort, und obwohl wir beide unsere Tarnkappen tragen, wissen wir beim zufälligen Berühren unserer Hände sofort, wem die andere gehört und flüstern „hallo“ und mein Wunsch nach deinem Kopf auf meiner Schulter ist so plastisch, dass du ihn als Bitte spürst und erfüllst und wir gehen auf Feldwegen durch die helle Stunde. Beim Schnüffeln zwischen den Zweigen der Benjeshecke verliert dein Hund seine Kappe, wird sichtbar, wir lachen, wenden einander zu und riskieren einen unbeholfenen Kuss. Du tastest auf meinem Kopf – nach meinen Haaren? Du fragst, welche Farbe meine Kappe habe. „Sie ist blau“, sage ich. „Blau“, sagst du. „Ja, blau.“ „Wollen wir zum Fluss?“ Da sie schweigt, frage ich „Bist du noch da, lächelst du?“ „Ich bin hier, bei dir. Du hältst meine Hand. Spürst du sie nicht?“ „Doch. Es war eine seltsame Frage von mir. Ich meinte wohl etwas anderes.“ Wir gehen langsam weiter. Niemand kann uns sehen. Nur der Hund stromert sichtbar um uns herum. Ich bleibe stehen, sage leise ihren Namen. „Nein“, sagt sie. „sprich nicht weiter. Sag nichts vom Strudel der Gedanken, die zum Dorf ziehen, zu den Leuten, zu ihren armseligen Leben, ihren düsteren Bildern, ihrem Neid, ihren Vorstellungen, wie dieses und jenes zu sein hat, und nicht anders. Du tust mir gut, wie du bist, wenn uns das Dorf im Rücken liegt. Wenn es uns nicht sieht und wir uns nicht zu ihm umwenden. Wenn unsere Küsse nach Wind schmecken und nicht nach Asche.“ Ich bewundere sie für die bezaubernde Sprache. Da fällt mir wieder ein, dass sie eine Fee ist. Aus Abenteuerlust bei den Menschen gelandet. Ich weiß, dass sie meine Gedanken lesen kann. Es verunsichert und beruhigt mich gleichermaßen. Alles ist gut, solange ich gut bin, sage ich still zu mir. Mein neuestes Mantra. Eine Melodie aus Verliebtheit und Liebe und Angst, die Nähe der Fee zu verlieren. „Ja, gehen wir zum Fluss. Das Dorf arbeitet, alle haben zu tun. Lass uns die Kappen ablegen. Am Fluss.“
 
Nein. Es ist anders.



„Sie werden wieder laufen lernen müssen. Wie ein Kleinkind Schritt vor Schritt setzen.“

So sagte eine Ärztin oder ein Therpeut nach dem Schlag. Okay, dachte ich. Das habe ich schon mal hinbekommen. Es gibt noch Fotos davon. Das war 1966. Als die Stones „Aftermath“ herausbrachten.

Aber es ist ganz anders.

Damals hatte sogar ich ein paar leichte Speckschichten an mir. Damals fiel ich öfter um, berappelte mich schnell, stand irgendwann wieder, lachte mein süßes Kleinkindlachen – und weiter ging‘s.

Wenn ich heute falle, droht OBERSCHENKELHALSBRUCH, drohen lang währende blaue Flecke, droht Schelte. „Na Herr M-m-m, mal wieder an der Selbstüberschätzung gescheitert?“ „Na klar, was sonst?“

Nein. Das Kleinkind lernt instinktiv. Mir liegt mein Kopf im Weg.
 
Selbstbezeichnungen – Selbstbezichtigungen



Wenige Wochen nach meinem Eintreten in dieses Forum fing ich dann doch an mich zu fragen, warum ich mir so einen blöden Namen verpasst habe. „Clown seiner Klasse“ – Schnapsidee ohne Schnaps, kann ich inzwischen erklärend dazu sagen. Es fällt mir immer schwer, einen Namen frei zu wählen, wo ich es mal darf. Mir fehlt die nötige Eitelkeit, etwas Wohlklingendes zu wählen, zur ernsthaften Ernsthaftigkeit steht mir die angeborene Selbstironie im Wege, und mich mit einem hübschen Namen irgendwie „sexy“ daherkommen zu lassen – nee, das ist nicht meine Art. Klar, ich könnte auf meinen Namen zurückgreifen, an den ich mich sechzig Jahre lang gewöhnt habe, gewöhnen musste. Aber das gleicht einer Selbstanzeige. Als wollte ich mich aus Reue über irgendwelche Schandtaten hinstellen und rufen: „Hier, schaut, ich bins, der Olaf!“ Oder der Peter, der Thomas, der Jens oder wer auch immer. Die Vorstellung lässt mich schaudern. Also einen Namen wählen, der Quatsch mit Soße ist. Das passt irgendwie zu mir. Ich war tatsächlich spätestens ab der fünften Klasse der Klassenclown. Die siebziger Jahre. DDR. „Clown“ sprachen damals nur gebildetere Leute bei uns richtig aus. Die meisten sagten „Klon“ beziehungsweise „Klohn“ – also langes „o“. Nun gab es damals einen wichtigen Film in Kino und Fernsehen: „Thälmann, Sohn seiner Klasse“. Ich bastelte daraus eben still für mich so ein „Thomas, Klohn seiner Klasse“. Hätte ich mir nie gewagt laut zu sagen, weil ich dann wahrscheinlich schon als Elfjähriger meine Dissidentenkarriere begonnen hätte. Aber insgeheim fand ich mich dafür kolossal witzig.

Das ist also der Hintergrund meiner Namenwahl. Mich im Tagebuchbereich aber auch noch „Jammerossi“ zu nennen, war zugegebenerweise ganz schön überzogen, denn das bin ich eigentlich absolut nicht. Trotzdem nannte ich mich im Titel meines Tagebuchstranges so, weil, ja warum? Mir wurde beim Lesen meiner tagebuchhaften Aufzeichnungen des letzten Jahres bewusst, dass sich das meiste um mich dreht, um meinen Krankheitszustand, vieles ist vielleicht wirklich Jammerei über verfehlte Behindertenförderung, über das Schicksal und so weiter. Ich wünsche, das könnte ich noch mal rückgängig machen, und viel sachlicher, viel erwachsener würde drüber stehen: „Meine Gegenwart“. Denn davon berichte ich. Gern auch mal jammernd, wo es passt, aber meist schaue ich den Unbillen meines Lebens frontal in die Augen. Was dir an meinen Schilderungen nun seltsam vorkommt, das sollst du gern hinterfragen und mich auf Fehleinschätzungen, die mir unterlaufen, aufmerksam machen. So. Das wollte ich mal loswerden, weil ich fast täglich mit so einem Clown seiner Klasse, der sich auch noch als Jammerossi bezeichnet, konfrontiert bin und es nicht mehr ändern kann.
 

Anders Tell

Mitglied
Hallo Clown,
ich finde Deinen Namen originell und ich glaube auch treffend. Das Unterbewusstsein wählt oft gar nicht so willkürlich.
Jammerossi ist glaube ich unpassender. Da musste ich spontan an die DDR-Bürger denken, die sich ständig beklagten, was es alles nicht gibt. Und Du jammerst ja nicht, sondern machst das Beste aus Deiner Situation.
Mit mehr Mobilität wird es besser und ich bin mir sicher, dass Du da was erreichen wirst. Steht Dir zu.
Liebe Grüße
Anders
 
Die Namen dieses Tages

Dieser Tag heißt Heute.
Und er heißt Donnerstag.
Er heißt auch Fünfter Juni 2025.

Es gibt noch mehr Namen für diesen konkreten Tag.
Für mich heißt er auch Mir ist kühl.
Oder Mir fehlt das Licht der Sonne.



Ich könnte noch etwas überziehen.
Was? Noch einen Pullover? Eine Jacke?
Sollte ich mehr Lampen einschalten?

Das Radio ergreift mich heute kaum,
es zündet keinen Gedankenfluss.
Sollte ich es ausschalten?
Einen frischen Tee zubereiten?
Den vorhandenen noch mal erhitzen?

Der Tag Heute heißt auch Ich fühle mich leer.








5.VI.2025
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Clown,

ich mag es, Deinen Gedanken hier zu folgen ... und ich gebe Anders Recht - der Clown passt - das fand' ich schon vor Deinen Erläuterungen.

Und ich denke auch, dass der 'Jammerossi' passt - weil er so wenig passt wie die sonstigen Zuschreibungen - das darf man sich ruhig mal klar machen. Als im Westen die Reviere geschlossen wurden und Massenarbeitslosigkeit drohte, machten die Kumpel auf sich aufmerksam und man empfand das als 'mannhaften' Widerstand (um so vergeblicher, desto heldenhafter). Als einem Land der Staat unterm Hintern weggezogen wurde, war das Jammern. Gehört werden zu wollen, ist kein Jammern. Aber das wurde so benannt und darum ist es eingesickert.
Und mit diesem Faden beweist Du, dass diese Zuschreibung bei Dir nicht stimmt und noch nie gestimmt hat.
Das ist also gleichzeitig ein Dorn im Fleische der Diffamierer und ein Heldenepos :)

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Hallo Clowni,
Weißt du was, du hast eine schöne Schreibe, gefällig und gut nachvollziehbare Beschreibungen. Vielleicht solltest du doch nochmal überlegen, die langen Texte ein bisschen zu gliedern, das macht es dem Leser einfacher.
Gern gelesen! (siehe PN)
Gruß, John
 



 
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