Jammerossis Gegenwart

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Herr H. weiß nicht, wo er ist.

Wahrscheinlich weiß Herr H. auch nicht, warum er da ist, wo er ist.

Wir anderen nennen es Klinik, nennen es Station, nennen es „mein Zimmer“.

Herr H. hat keinen Bezug zu alldem.

Herr H. leidet. Er möchte nicht hier sein, wo er ist, wo wir anderen sind.

Wir anderen sehen fern. Sport, Nachrichten, Kochshows. Wir lenken uns ab. Mancher liest sogar. Ich habe Freundschaft geschlossen mit einem Automaten, auf dem steht LAVAZZA. Er macht mir Kaffee, sooft ich ihn aufsuche. Er versüßt mir manche Stunde, die ich mit einem meiner Bücher in einem meiner Verstecke verbringe. Am liebsten sitze ich in einem großen Mehrzweckraum an der großen Fensterfront, die mir einen großartigen Blick auf eine kleine Wasserfläche, einen Ausläufer des Kurparksees, bietet. Eine meditative Situation. Meist ist niemand außer mir in dem Raum.

Hier verstecke ich mich vor der Einsamkeit, vor dem Alleinsein, vor den dreißig Fernsehern auf meiner Station, die alle fast ständig laufen.

Herr H. hat keine Verstecke. Nicht hier, irgendwo um sieben Flurecken, nicht in sich.

Herr H. ist oft außer sich. Dann ruft er im ewig gleichen, nölenden Singsang nach Menschen, die ihm fehlen, deren Namen er weiß, die ihm vertraut sind.

Weil niemand kommt, wird er ungehalten, es fallen Worte wie „… nach Hause!“, „… hier Scheiße!“ und mehr. Ich verstehe nicht alles.

Ich verstehe, dass Herr H. leidet.

Ich setze mich zu Herrn H. Versuche, mit ihm zu spielen. Von einer Therapeutin bekam ich dafür ein Memory-Spiel. Herr H. schaut mich an. Ich schaue ihn an. Er nimmt mich wahr, schöpft vielleicht Hoffnung, dass ich einer bin, der ihm helfen kann. Ich verstehe schnell, dass Herr H. nicht mit mir spielen will, wohl auch nicht könnte. Mein Dasein beruhigt Herrn H. aber kurz. Nach einer Viertelstunde wird er unruhig, beginnt von neuem seine Rufe, seine Eruptionen des Schmerzes. Irgendwann gehe ich.

Herr H. bleibt.


Winter '25
 
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29. Juli, ein Dienstag-Abend

Letzter Badbesuch des Tages,
ein letztes mal heute das Radio einschalten.

UND welche FREUDE!
Die Sadduzäer-Passion wird gesendet – für mich.

Doch warum?
Der Sprecher sagt es im Anschluss:

Heute ist der hundertste Geburtstag von Theodorakis.
Und ich habe es nicht gewusst. Darum die Passion.

Darum das Badezimmerradiowunder für mich.
An diesem x-beliebigen Dienstagabend.

Jetzt wird gepodcastet.
Die Nacht ist lang und beginnt gerade eben.
 

Anders Tell

Mitglied
Lieber Clown,
Theodorakis war ein bedeutender Musiker und eine große Seele. Wieviel Hoffnung leuchtet aus seinen Konzerten. Maria Farantouri ist mit ihm aufgetreten und obwohl ich kein Griechisch kann, spürte ich die Stimmung in diesem Stadion. Er hat auch klassische Kompositionen geschaffen, von denen ich aber keine kenne. Da wirst Du mehr darüber wissen.

Sonntäglicher Gruß
Anders
 
Na klar, @Anders Tell , das war er. Und ja, ich liebe seine Musik in ihrer ganzen Weite und bin damit so weit gegangen, sie auch bei Antifa-Demos zu spielen. Gegen den Widerstand der "jungen Wilden", die dachten, solche Musik könne doch nicht links, nicht kämpferisch, nicht revolutionär, nicht subversiv sein.
Witzig auch die Reaktion der griechischen Kellner, wenn ich in Restaurants nach Musik von Maria Farantouri frage - dann leuchten ihre Augen, dann bekomme ich begeisterte Rückfragen, wieso ich nach ihr frage ... und dann: "Leider geht das nicht, wir haben ein fest eingestelltes Musikprogramm im Restaurant." Mh. Das ist dann der schnöde griechische Gegenwartspop.
 
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Die Pflegeschwester seufzt herein.

"GutenMorgenHerrHmhmhm, nawiegehtsunsdennheute? Naklar, esmuss.
Unddasbei38Grad, diesheutewerden, hammsejesacht…"

Ich stutze, bin verunsichert. 38 Grad? Achtunddreißig?
Ich beiße mir auf die Lippen. Bloß keinen Ärger provozieren.

Das Radio erzählt im Hintergrund was von „…AfD-Verbotsantrag…blablabla…“
Langsam werden meine Lippen blutig. Blutrot wie die Fahne des Widerstands.

„…Nun die Wetteraussichten für Mitteldeutschlandblablablabla…
Die Temperaturen steigen bis an die 30-Grad-Marke.blablabla“ Autsch.

„So,malnochdenBauchfreimachen, dannhammworsschonjeschafft.
Bismorjen,Herr …!“
„Hm. Bis morgen, Frau …!“



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Frühsommer 25
 
Vorgestern, 3. Dezember,
eines meiner Tagebuchgedichte aus der Klinik fiel mir ein, als ich vormittags schwankend in der Küche stand und Zwiebeln putzte und achtelte, Kartoffeln vom Vortag briet und schließlich ein Ei drüberschlug ...



Sehnsucht

nach unserem Haus, nach unserer Küche
Sehnsucht nach den Fenstern mit ihren Überwurfriegeln
Sehnsucht nach unserem Herd Sehnsucht nach dem Duft des Brennholzes

Sehnsucht nach der knisternden Pfanne voller Kartoffeln und Zwiebeln und geviertelten Tomaten, gewürzt mit den Pfeffern ferner Länder Sehnsucht nach Olivenöl

Sehnsucht nach unserem Radio und den darin gespeicherten Sendern
Sehnsucht nach den ruhigen Stimmen die von der Welt erzählen und mir sagen, in welchem Theater welches tolle Stück uraufgeführt wurde

Sehnsucht nach Bachs Chorälen und Kantaten und Konzerten … nach Orgelbombast
Sehnsucht nach den Geistlichen Liedern von Schütz, von Paul Gerhardt, nach Mozarts Requiem

Sehnsucht nach euren Stimmen Meine Sehnsucht läuft über Ich giere nach allem und nach euch
 

John Wein

Mitglied
Eine Gefühlswelt voll starker Bilder und diesmal auch in den verschiedenen Gedankensplittern gut gegliedert.

Musik löst in uns starke und übersinnliche Gefühle aus, denen man sich nur schwer entziehen kann.
Schopenhauer über die Musik:
Keine Kunst wirkt auf den Menschen so unmittelbar, so tief ein, als die Musik, weil keine uns das wahre Wesen der Welt so tief und unmittelbar erkennen lässt, als diese. Das Anhören einer großen, vollstimmigen und schönen Musik ist gleichsam ein Bad des Geistes; es spült alles Unreine, alles Kleinliche, alles Schlechte weg, stimmt Jeden hinauf auf die höchste geistige Stufe, die seine Natur zulässt.

Mozarts Requiem habe ich mal in Prag genossen, daran musste ich mich hier erinnern. Hör dir mal das an:


Gruss John
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Clown,

ich möchte ja nicht darauf herumreiten und Dich 'belehren', wie etwas ist, was Dich betrifft.
Aber so ein bisschen möchte ich schon das 'Jammern' anders bewertet wissen, vor allem, weil Deine Texte eben keine Jammereien sind, sondern ehrliche Reflexionen. Nur darum sind sie lesenswert.
Ich finde es sogar großartig, wie Du uns an diesen Prozessen teilhaben lässt, wie man aus den Trümmern einer gewohnten Existenz seinen inneren Kompass neu ausrichtet. Ich kann verstehen, wenn man selbst hohe Ansprüche an sich stellt, die Tatsache(n) des Verlusts und seine Ursachen strenger beurteilt als ein Leser, der eine andere Perspektive hat und für den die 'neue Existenz' bereits Fakt ist.
Ich hoffe, das war jetzt nicht zu persönlich, aber lasse mir bitte diese Art der Wertschätzung durchgehen.

Liebe Grpße
Petra
 



 
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