Hi Ralf Langer
das ist eben die Crux der heutigen Lyrik: Die Lyriker schreiben nur noch für Lyriker. Aber mal ganz nebenbei: Dieser Stil ist out. Die Lyrik besinnt sich wieder auf sich selbst, es wird wieder gereimt, ein Gedicht, das man beim ersten Lesen versteht, ist nicht mehr verpönt, die Geheimniskrämer haben abgedankt, ich verweise zum Beispiel auf Rap, der die Dinge ungeschminkt beim Namen nennt. Bei deinem verschwurbelten Gedicht muss man sich nicht wundern, dass außer Lyrikern kaum noch jemand Lyrik liest, geschweige kauft.
Du fragst in deinem Kurzgedicht, ob eine Welt ohne Gott zu denken ist. Schon die Fragestellung gibt indirekt eine Antwort: Nein! Wäre es anders, würdest du eine These aufstellen: Es ist gibt eine Welt ohne Gott.
Dann weichst du auf das Denken aus und versuchst das irgendwie zu erklären: Seit es das Denken gibt, gibt es auch ein Ich, das nicht vergibt. Nun ist es wohl recht einsichtig, wenn ich behaupte, der Mensch denkt, seit er Mensch ist, also sein Gehirn benutzt, dadurch unterscheidet er sich eben vom Tier. Ein Ich, bedingt durch die christliche Religion, gibt es aber erst seit den mechanischen Materialisten, erst im Kampf des Bürgertums gegen den Feudaladel entdeckte der Mensch sein Ich, er begriff, dass es auf sein eigenes Handeln ankommt, nicht auf das, was sein imaginärer Gott über ihn bestimmt. Und das war erst im späten Mittelalter. Und wie verhält sich das nun mit dem Vergeben?
Wem oder was soll der Mensch nicht vergeben? Reiner Formulierungsschnörkel? Da du im Folgenden darauf zurückgreifst, könntest du dir diesen Passus sparen.
Weiter geht es: Nur Gott vergibt. Die Existenz Gottes wird also von dir als Autor nicht in Frage gestellt.
Das Vergeben ist das Mal Gottes, sein Zeichen, das wir uneinsichtig weitertragen, als wäre es keins.
Wie soll ich das deuten? Nur der eingebildete Gott kann vergeben, der Mensch nicht, der ist fein raus, Gott tut es ja für ihn? Denke ich das weiter, dann ist gerade diese Passage eine Rechtfertigung für jede Barbarei, die man sich vorstellen kann, halb so schlimm, Gott vergibt dir ja.
Das ist auch der Sinn der katholischen Beichte, und gerade der Katholizismus hat nach zweitausend Jahren Verbrechen Vergebung ja nötig.
... das wir weitertragen, als wäre es keins - das übersetze ich mir, Menschen können nicht vergeben, sie müssen es auch nicht, füge ich hinzu, das tut ja ihr Gott. Eine sehr bequeme Religion.
Zusammenfassend schätze ich das Gedicht als eine Rechtfertigung des Katholizismus ein, die ein obrigkeitliches Denken offenbart, denn schon immer ging die Kirche mit der jeweiligen Macht Hand in Hand gegen "die da unten". Sofern man in diesem Fall überhaupt von Denken sprechen kann, es handelt sich vielmehr um den bedingungslosen Glauben. Offensichtlich rechnest du dich nicht zu "denen da unten", sondern eher zu "denen da oben". Für mich hat es immer etwas Anachronistisches, wenn ein Mensch des 21. Jahrhunderts den Katholizismus verteidigt, nachdem die Geschichte der christlichen Kirche nachgewiesenermaßen eine einzige Anhäufung von Verbrechen ist. Marx hatte da schon recht: Die Religion ist das Opium des Volkes, der gedemütigten Kreatur.
Mit der Religion kommt er auf keine dummen Gedanken, wie etwa Aufstände oder Revolutionen, die Religion macht ihn zum widerstandslosen Geschöpf.
Die Anspielung im Titel auf Kain wirkt auf mich doch recht aufgesetzt. Du hast das Gedicht fast bis zur Unverständlichkeit gerafft. Was die Seele eines Gedichtes ausmacht, die Poesie, vermisse ich jedoch. Poetische Besonderheiten, die erwähnenswert wären, sind mir nicht aufgefallen, lediglich das einmal eingesparte "gibt", das mich in dieser Zeilenanordnung allerdings stolpern lässt, und ein Enjambement.
Meine Einschätzung deines Gedicht unterscheidet sich von der Einschätzung meiner Vorgänger von grundauf, aber ich kann nur über das schreiben, was ich an Text vorfinde, und meine ganz persönliche Ansicht dazu äußern. Also nicht persönlich nehmen, sondern nachdenken, wo hat Einsprengsel recht, wo nicht.
Einsprengsel