An alle Freunde,
die bei der Überarbeitung geholfen haben. Viele eurer Vorschläge wurden verwertet, einige Satzumstellungen vorgenommen und das Ganze zu einem hoffentlich bekömmlichen Menü zubereitet.
Ich möchte mich ganz herzlich für die rege Mitarbeit bedanken und stelle, statt langer Erklärungen, die Neufassung hier vor.
Mit herzlichen Grüßen
Willi
Kerstins Abenteuer
von Willi Corsten
Die Kinder der Regenbogenschule sind Feuer und Flamme. Sie wollen dem Nikolaus bei der Bescherung helfen und im Waisenhaus ein Krippenspiel aufführen. Ideen sind gefragt, denn man braucht Geld für Malbücher und Buntstifte, für Farbkästen und Puppen, für Schokolade, Marzipan und mancherlei Spiele, die Kinderherzen erfreuen.
Timo will Trödelsachen verkaufen, alten Krimskram, den ohnehin keiner von ihnen mehr braucht. Die Idee ist gut und bald huschen emsige Wühlmäuse durch Keller und Speicher, schnüffeln in Kisten und Schränken und stöbern nach Schätzen, die für den guten Zweck verscherbelt werden können.
Auf dem Schulfest spielt Jenny Akkordeon. Zahlreiche Münzen kullern in den Hut und begleiten mit lustigem Klimpern ihr Spiel. Jessica verkauft Wanderstöcke, die ihr Großvater geschnitzt hatte. Benjamin dachte sich etwas besonderes aus. Auf dem Pausenhof hat er Schemel und Fußbank bereit gestellt und Bürsten und Putztücher hinzu gelegt. Ein gefräßiges Sparschweinchen hungert nach Geld. „Schuhe putzen“ ruft der Junge, „einmal Schuhe putzen, drei Jahre Garantie." Über fehlende Kundschaft braucht er nicht klagen. Zwei Stunden später streikt das Sparschwein, es ist voll bis oben hin.
Am sechsten Dezember fährt Herr Krüger dann mit seinem Bus an der Schule vor. Töchterchen Kerstin ist gleich mitgekommen. Auf sie wartet ein gefährliches Abenteuer, das sie so bald nicht vergessen würde.
Kerstin ist zehn Jahre alt und die jüngste in der Klasse. Ihr Mundwerk hat nie Sendepause. Wenn die Jungen sie ärgern, faucht sie wie Oma Stribbels Kater Amadeus Nepomuk. Hellwach ist die Kleine und mutig dazu, darum darf sie bei der Bescherung auch den Nikolaus spielen. Kerstins weiße Perücke sieht toll aus und der dunkelrote Umhang passt wunderschön zu den silberfarbenen Stiefeln und den feingewirkten Handschuhen.
Die Geschenke werden eingeladen. Dann klettert das Mädchen auf die letzte Bank und kriecht unter eine Decke, die sie vor neugierigen Kinderaugen verbirgt.
Wenig später parkt Herr Krüger hinter dem Waisenhaus. Die Schüler verlassen den Bus, Kerstin aber bleibt auf ihrem Platz, weil die Gaben erst nach dem Krippenspiel verteilt werden sollen.
Draußen schwindet der Tag, rasch setzt die Dämmerung ein. Der eisige Wind wirbelt erste Schneeflocken über den Hof. Fröstelnd zieht das Mädchen die Decke höher und mustert beklommen die Zweige der Trauerweide, die wie tastende Krakenarme die Scheiben entlang streichen. Plötzlich hört sie leise Schritte näher kommen. Dann geht die Fahrertür auf. Ein Mann steigt in den Bus und setzt sich ans Steuer. Mitten auf seinem Kopf prangt eine Beule, fast so groß wie eine Kinderfaust.
‚Ein Monster‘ haucht das Mädchen entsetzt, ‚ein grausiges Wesen aus der Unterwelt‘. Kerstin will fliehen, erkennt dann, dass die Beule ein Nylonstrumpf ist, den der Mann über das Gesicht gezogen und oben verknotet hat.
‚Kein Monster, aber ein Autodieb. Und der gemeine Kerl will unseren Bus stehlen, mitsamt der Geschenke, die noch im Wagen liegen. Fliehen ist also keine Lösung, denn der Raub muss verhindert werden - aber wie?‘
Fieberhaft sucht die Kleine nach einem Ausweg, zerrt wütend an der Perücke - und hat plötzlich eine Idee. Doch als sie den Plan ausführen will, fährt der Dieb ab. Er wendet den Bus und biegt in die Ausfahrt ein, die weiter vorn in die Landstraße mündet. Dort muss er warten und einen LKW vorbei lassen. Das Mädchen öffnet die Tür, eilt nach draußen, huscht wieselflink hinter den Bus, verweilt dort kurze Zeit und ist Sekunden später schon auf der Flucht. Als sie sich noch einmal umwendet, setzt mit einem dumpfen Blubbern der Motor aus.
Minuten danach kommt Kerstin mit Papa und den Schülern zurück. Der Bus steht noch an der Ausfahrt, der Dieb aber ist längst geflohen. Im Dunkeln ist die Suche nach dem Mann sinnlos, daher drängt Herr Krüger zum Aufbruch. Doch der Motor springt nicht an, will einfach nicht laufen.
"Das liegt am Auspuff", sagt Kerstin und faucht wütend, als die Jungen lachen und den Vogel zeigen.
„Ha, ha, ha, am Auspuff. Was verstehen Mädchen schon von Technik."
Kerstin flüstert Papa etwas ins Ohr. Herr Krüger steigt aus, geht um den Bus, setzt sich kopfschüttelnd zurück ans Steuer und drückt erneut den Anlasser. Diesmal stößt das Fahrzeug eine mächtige Rauchwolke aus und tuckert zum Waisenhaus. Dort ist der Jubel bald schon riesengroß. Mit leuchtenden Augen betrachten die Mädchen und Buben die herrlichen Sachen, die sie geschenkt bekommen haben. Nur der kleine Stefan hat wohl andere Sorgen. Er bohrt nachdenklich in seiner Nase und mustert aufmerksam den Nikolaus. Dann tastet er nach Schwester Elisabeths Hand und flüstert aufgeregt: "Der Heilige Mann ist durch den Schornstein ins Haus gekommen. Ganz sicher! Du brauchst nur seine Handschuhe anzusehen, die sind rabenschwarz. Und schau erst mal auf die Haare. Puh, die stehen ja vor lauter Ruß."
Kerstin - verkleidet als Nikolaus - hört Stefans Worte und nickt vielsagend mit dem Kopf. Sie verrät aber nicht, wo der Ruß wirklich hergekommen ist. Die Kleinen brauchen ja nicht alles wissen. Vor allem nicht, was passiert, wenn man Perücke und Handschuhe in den Auspuff eines Omnibusses stopft. Es reicht, wenn Kerstin diesen Unfug kennt.