Kleine Versfußlehre für deutschsprachige Lyrik

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sufnus

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Kleine Versfußlehre für deutschsprachige Lyrik

0. Warnende Vorbemerkung


Man kann die Lehre von Versfüßen knapp halten. Ein paar kurze Aussagesätze und die Sache ist gegessen. Das passiert hier nicht, weil dergleichen Telegrammerklärungen zuhauf im Netz zu finden sind. Ergo gibts im Folgenden eine Langversion...und zwar seeeehr lang... über mehrere Kapitel. Also: Wer nicht gerne viel liest, lasse es an dem Punkt bewenden und bemühe google oder ChatGPT. Lohnt sich definitiv auch. :)

1. Die metrisch gebundene Sprache

Wenn bei der Analyse eines Gedichts die kunstvolle Abfolge weiblicher und männlicher Kadenzen gelobt oder aber ein Senkungsprall in Zeile X moniert wird, wenn ein(e) Schlaumeier*in eine fehlende Hebung in Zeile Y beanstandet oder den kunstvoll komponierten Amphibrachys reverenziert, dann bewegen wir uns im Thema des Metrums oder Versmaßes eines Gedichts und aufgrund der vielen Fachbegriffe ist das ein Sujet, das den Anfänger etwas einschüchtern kann. Zumal die ganzen Termini Technici je nach Kontext u. U. unterschiedliche Bedeutungen haben können oder sich deren Definition selbst unter Expert*innen teilweise unterscheidet.

Ziel dieses Erklärbärtextes ist es daher, hier nochmal ein paar Begriffe zu erläutern und zu veranschaulichen. Denn: Eigentlich ist das alles gar nicht sooo kompliziert, wie es kingt...

Was ist also mit einem "Metrum" in einem Gedicht gemeint? Und hat jedes (gut "gemachte") Gedicht ein definierbares Metrum? Zur letzten Frage schonmal gleich vorab: Natürlich nicht!

Indem wir von Versmaß oder von Versfüßen (was ist das?) reden, bewegen wir uns im Bereich der sogenannten gebundenen Sprache, womit typischerweise eine besondere Art des Schreibens von Gedichten gemeint ist... aber es gibt das Phänomen gebundener Sprache auch in literarischen Texten außerhalb der Lyrik (z. B. in manchen Dramen oder in Vers-Epen) und sogar außerhalb der Literatur (z. B. bei Merksprüchen, Parolen oder Werbetexten).

Und was meint das jetzt - gebundene Sprache? Einfach gesagt, bezeichnet dieser Begriff jedes Schreiben, bei welchem dem Text eine starke formale Struktur übergestülpt wird. Dabei kann unter "Struktur" alles mögliche verstanden werden, irgendeine närrische Regel jedenfalls, die bei der Abfassung des Textes streng befolgt wird, z. B. eine Dichtung bei der in jedem Satz die Vokale immer in alphabetischer Reihenfolge benutzt werden müssen (sogenannte Magermilchjoghurt-Dichtung). Oder ein literarischer Text, bei dem bestimmte Buchstaben nicht benutzt werden dürfen (das nennt man ein Leipogramm). Oder ein Text, der vorwärts und rückwärts gelesen identisch ist (Palindrom).
Oder eben eine Regel, bei der ein ganz bestimmter Rhythmus durchgehalten werden muss: Das Letztere ist die sogenannte metrisch gebundene Sprache. Und im Vergleich zu den davor genannten, ziemlich vertrackten Beispielen einer (nicht metrisch) gebundenen Sprache hat die metrisch gebundene Sprache zwei Vorteile: Erstens ist sie relativ einfach zu bewerkstelligen (Erfolgserlebnis!) und zweitens erzeugt sie unweigerlich eine gewisse Sanglichkeit, nähert einen Text also der Musik an.

So führt dann jetzt eine Frage zur nächsten, z. B. zu der: Was ist mit Rhythmus bei metrisch gebundener Sprache gemeint?

Tatsächlich unterscheidet sich das von Sprache zu Sprache - aber in der deutschen Sprache geht es hier um die regelmäßige Abfolge von Silben-Betonungen in einem Text. Zur Beschreibung dieser Abfolge von Betonungen geistern dann die Bezeichnungen Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Amphibrachys, Kretikus, Spondeus und wie sie nicht alle heißen durch die Runde, wobei vor allem die ersten fünf genannten von besonderer Bedeutung sind - dazu dann im nächsten Kapitel mehr.

Denn bevor wir uns hier hineinstürzen erstmal ein Blick auf die Silben-Betonung in normaler Alltagsrede.

In unserer Alltagssprache betonen wir ja auch einzelne Wörter oder Silben durch eine Vielzahl von "Hilfsmitteln", zum Beispiel, indem wir die Wörter, auf die es uns gerade ankommt, etwas lauter oder gedehnter sprechen oder indem wir sie durch untermalende Gesten und Gesichtsausdrücke der Aufmerksamkeit des Gegenübers anheimstellen. Und je nachdem auf welches Wörtchen in einem Satz es uns gerade ankommt, betonen wir im Deutschen recht flexibel und Kontext-abhängig mal das eine, mal das andere Wort bzw. die eine oder andere Silbe.

Nehmen wir den Satz: "Soso... das sagst Du mir jetzt?!".

Vielleicht wollen wir das "Du" besonders hervorheben, weil der Gegenüber womöglich nicht gerade in der Position ist, uns ungefragt seine Weisheit überzuhelfen (hoffentlich geht es dem Schreiber dieser Zeilen nicht gerade so!) Und vielleicht wollen wir auch noch das "das" unterstreichen, weil die Mitteilung besonders daneben ist:

Soso... DAAAAS sagst DUUUU mir jetzt?!"

Vielleicht wollen wir aber auch das "jetzt" betonen, weil die Mitteilung zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt erfolgt:

Soso... das sagst Du mir JETZT?!"

Die nicht hervorgehobenen Silben werden in diesem Beispiel in normaler Rede wahrscheinlich alle ziemlich ähnlich "stark" betont, zumindest fallen sie gegenüber den besonders stark exponierten Wörtern nicht besonders ins Gewicht. Und offensichtlich folgt die Abfolge der Betonungen hier auch keiner sonderlichen Regelhaftigkeit, sondern ist fast ausschließlich dem kommunizierten Inhalt geschuldet. Wir sind also relativ frei, wie wir hier Silben oder Wörter betonen oder nicht betonen wollen und deshalb redet man hier von "ungebundener Sprache".

Wobei man einschränkend sagen muss: Völlig frei ist man auch in metrisch ungebundener Sprache nicht beim Betonen, denn für jedes mehrsilbige Wort gibt es ja eine Standardaussprache, bei der festgelegt ist, welche Silber stärker und welche schwächer betont werden soll. Beim Wort "Weinflasche" ist es etwa Usus, dass das "Wein-" etwas stärker betont wird als das "-flasch-" und dieses wiederum, wenn man genau hinhört, tönt noch ein bisschen stärker als das abschließende "-e", das so schwach rüberkommt, dass es in manchen Dialekten gleich ganz untern Tisch fällt.

Trotz dieser Betonungsvorgaben, gibt es aber, wie oben ja schon angedeutet, in der nicht gebundenen Sprache Freiheiten. Stellen wir uns vor, wir sind in einer Weinhandlung und suchen ein Präsent für Onkel Herbert. Der Verkäufer hält uns also eine Flasche vor die Nase ("Ein besonders edler Tropfen!") und nach einem Blick auf das Preisschild rufen wir: "OMG! Ich wollte doch nur eine Wein-FLASCHE kaufen und keinen ganzen Wein-BERG!". Wie durch die Großbuchstaben signalisiert, dürfte bei diesem metrisch nicht gebundenen Ausruf das Wort FLASCHE (genauer gesagt dessen erste Silbe -FLASCH- ziemlich vehement entäußert worden sein, so dass seine Betonung mit dem vorangestellten Wein- mindestens auf Augenhöhe unterwegs war. Solche Laxheiten der Betonung sind in metrisch gebundener Sprache erstmal nicht so vorgesehen, was sie zu einer Kunst-Sprache (durchaus auch im Sinne von: künstlich) macht.

Und kommt es beim metrisch gebundenen Schreiben zu Verstößen gegen die "Rhythmus-Regeln", dann sind dann entweder Kunstfehler oder aber... gerade künstlerisch besonders wertvolle Abweichungen, je nachdem, ob der Autor bei dem Verstoß etwas Kluges im Sinn hatte oder nicht.

(Fortsetzung folgt)
 

sufnus

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2. Vers- und Wortfüße

So. Jetzt kommen wir also langsam in den Bereich der Metrik. Der Lehre von der "Komposition" betonter und unbetonter Silben in einem Vers.

Erst aber noch mal eine kleine Vorbemerkung: Oben habe ich ja schon erwähnt, dass wir in unserer normalen Sprache ganz unterschiedliche Mittel einsetzen, um Wörter oder Silben hervorzuheben und um so dem Sprechen ggf. eine Struktur zu verleihen und Wichtiges von weniger Wichtigem zu trennen. In der Metrik engen sich die Mittel zur Hervorhebung von Wörtern oder Silben je nach betrachteter Sprache deutlich ein.

Dabei haben wir Sprachen wie das Lateinische, die eher über die unterschiedliche Silbenlänge eine Struktur in der gebundenen Rede erzeugen (quantitierende Sprachen) und solche Sprachen, die eher über den "Akzent", also die "Verve", mit der eine Silbe gesprochen wird, eine Struktur erzeugen. Letzteres sind die akzentuierenden Sprachen, zu denen auch das Deutsche gehört. Die quantitierende Metrik lassen wir, da das eher ein Thema für den an Latein- und Altgriechisch Interessierten ist, jetzt weitgehend links liegen und kümmern uns um die akzentuierende Metrik.

Da gibt es nun ein paar klassische "Rhythmen", die hierbei zur Anwendung kommen. Diese werden durch kleine Grundbausteine definiert, die man als das Metrum einer Zeile bezeichnet. Ein sogenanntes Metrum setzt sich wiederum aus einem oder zwei Versfüßen zusammen. Der Versfuß ist also die kleinste Baueinheit einer Gedichtzeile und umfasst wiederum zwei bis drei Silben (siehe unten).

Je nachdem wie sich betonte und unbetonte Silben in einem Versfuß nach einem festen Schema abwechseln, bekommt dann die Angelegenheit einen klangvollen Namen. Dabei sind im Deutschen vor allem fünf Versfüße wichtig, nämlich der Jambus (das ist im Deutschen der allerwichtigste Vertreter), der Trochäus, der Daktylus, der Anapäst und der Amphibrachys.
Weniger wichtig ist der Kretikus und ein ziemlicher Exot im Deutschen ist der Spondeus.
Es gibt durchaus noch ein paar mehr Versfüße, aber mit den 5 plus 2 soll es mal genügen.

Diese fünf Hauptvertreter sind in ihrer metrischen Grundeinheit (dem Versfuß) entweder zwei (Jambus oder Trochäus) oder drei Silben lang. Zwei bis drei Silben sind in einer Sprache wie dem Deutschen ziemlich kurz - gemessen an der maximal möglichen Länge eines Wortes. Mit ihrer Wortzusammensetzungsneigung ;) erlaubt die deutsche Sprache nämlich die Konstruktion von ziemlich langen Wörtern und somit kann es sein, dass ein Versfuß (z. B. ein zweisilbiger Jambus) mehrfach in ein langes Wort "hineinpasst". Ein sechssilbiges Wort könnte etwa drei "Jambusse" (korrekt: Jamben) lang sein. Umgekehrt kann man einen Jambus auch aus zwei einsilbigen Wörtern bauen usw. Lange Rede kurzer Sinn: Versfüße müssen sich nicht an Wortgrenzen halten.

Wir haben gegen Ende des Kapitels 1 schon etwas zur Standardaussprache von Wörtern gesagt (das war das Beispiel mit der Weinflasche). Und somit kommen wir zu Definition des Begriffs Wortfuß, das ist nämlich die Abfolge von betonten und unbetonten Silben in einem Wort. Im Gegensatz zum Versfuß hält sich der Wortfuß (per definitionem) also an Wortgrenzen (sonst wär er ja kein Wortfuß). Diese Unterscheidung von Vers- und Wortfuß wird uns im nächsten Kapitel noch etwas weiter beschäftigen.

Jetzt aber erstmal zu den sieben oben genannten Versfüßen (den fünf wichtigen und den zwei weniger relevanten). Folgendermaßen sehen die aus, wobei in Klammern zur Veranschaulichung Wörter genannt sind, die dem jeweiligen Schema folgen (in der Hoffnung, dass das jetzt nicht noch einmal zur Verwirrung bei der Unterscheidung von Versfuß und Wortfuß führt).

Jambus: unbetont - betont (wie in: Aspekt, Gewalt, umsonst)
Trochäus: betont - unbetont (wie in: Klingel, Wunde, Rabe)
Daktylus: betont - unbetont - unbetont (Daktylus, Mehlschwitze, Grabungen)
Anapäst: unbetont - unbetont - betont (Anapäst, Ratatouille, Akribie)
Amphibrachys: unbetont - betont - unbetont (Radieschen, Krawalle, Versammlung)
Kretikus: betont - unbetont - betont (Rhapsodie, Sakrament)
Spondeus: betont - betont (Pechschwarz, halbschwer, todwund)

Wem das beim Lesen nicht so gleich einleuchtet, der kann ja einfach mal versuchen, eines der aufgeführten Wörter "falsch" zu betonen, dann merkt man, finde ich, am besten, wie es "richtig" klingen muss.

Also versucht mal, das Wort "Gewalt" als Trochäus zu betonen, d. h. auf der ersten Silbe. Klingt irgendwie schräg. Oder das Wort "Klingel" auf der zweiten Silbe betonen - das hört sich nach einem Franzosen an, der seine ersten Gehschritte im Deutschen absolviert. Oder versucht mal Radieschen als Kretikus zu lesen, dann klingt es plötzlich irgendwie schwer nach slawischem Akzent usw. Im Großen und Ganzen bekommt man das mit ein bisschen Üben ganz gut ins Ohr; nur der Anapäst ist da ein wenig sperrig, weil dem Deutschen ein Wortanfang mit zwei unbetonten Silben sehr fremd ist. Deshalb kann man die anapästischen Wortfußbeispiele alternativ durchaus auch als Kretikus aussprechen, ohne dass es sehr falsch klingt. Nicht verdrießen lassen - der Anapäst ist halt ein Fall fürs fortgeschrittene Dichten.

Zu alldem sollte man nochmal erwähnen, dass diese genannten Versfüße eigentlich von den alten Griechen und Römern "erfunden" wurden (die Namen deuten es an), die ein ganz anderes metrisches Prinzip (nämliche die quantitierende Sprache, siehe 1. Beitrag) realisierten. Die Übertragung dieser Versfüße auf die akzentuierende deutsche Sprache ist durchaus nicht ganz unproblematisch.

Und manches funktioniert im Deutschen einfach nicht gescheit - namentlich der Kretikus und ganz besonders der Spondeus.
Das liegt daran, dass im Deutschen zwei direkt aufeinander folgende betonte Silben eigentlich nicht vorgesehen sind. In meinen Beispielen für einen Spondeus könnt ihr sehen, dass zwar die beiden Silben schon irgendwie beide recht stark betont sind, aber eine hat, je nachdem wie man es nun ausspricht, jeweils den Hut als Hauptbetonung auf.

Wenn im Deutschen zwei Silben exakt gleich stark betont werden, muss man eigentlich eine Sprechpause zwischen diesen Silben einlegen und man redet hier von einem Hebungsprall. Diese erzwungene Sprechpause ist natürlich für einen gleichmäßigen rhythmischen Fluss der Super-GAU und deshalb spielt der Spondeus praktisch keine Rolle. Und beim Kretikus stößt man auf das gleiche Problem, sobald man mehrere "Kretikusse" hinter einander abspult, kommt es ja unweigerlich zum Hebungsprall: betont - unbetont - betont - betont - unbetont - betont. Da ists schon passiert, zwischen dritter Silbe (letzte Silbe vom ersten Kretikus) und vierter Silbe (erste Silbe vom zweiten Kretikus) kommt es zur Zungenverknotung durch schweren Fall von Hebungsprall.
Natürlich kann man aus diesen Schwierigkeiten auch einen Sport machen und gradzumtrotz versuchen, spondeische oder kretikussische Gedichte zu schreiben. Viel Spaß dabei!

Neben dem schrecklichen Hebungsprall ist übrigens auch der (weit weniger schreckliche) Senkungsprall zu erwähnen. Das meint, wenn zwei unbetonte Silben auf einander folgen. Beim Anapäst und beim Daktylus ist das ja schon im Versfuß vorgesehen. Und wenn sich zwei "Amphibrachysse" hinter einander gesellen, gibt es ebenfalls zwei unbetonte Silben nach einander. Ist im Prinzip nicht schlimm, führt aber dazu, dass die deutsche Zunge sich danach umsomehr nach einer gescheiten betonten Silbe sehnt. Zwei unbetonte Silben nach einander erzeugen also eine gehörige rhythmische Spannung und setzen den Sprecher ganz schön unter Zugzwang. Was im Deutschen nämlich gar nicht so gut kommt, sind drei unbetonte Silben in Folge. Bei Griechen und Römern wäre das kein Problem und nennt sich Tribrachys (ein weiterer Versfuß - ich schrieb ja schon mit den sieben Genannten erschöpft sich das nicht), aber im schönen Germanien ist das rhythmisch eine gewagte Geschichte. Auch hier gilt: Wer sich herausgefordert fühlt, der versuche sein Glück!

(Fortsetzung folgt)
 
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sufnus

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3. Bilden Sie mal einen Satz mit...

Jetzt ist das soweit schonmal schön und gut. Aber wie bildet man nun ganze Sätze in einem definierten Versfuß und wie finden im System von zwei- oder dreisilbigen Versfüßen solche Wörter ein Zuhause, die nur aus einer Silbe bestehen oder die aus mehr als drei Silben zusammengesetzt sind (das betrifft nochmal die Unterscheidung von Wort- und Versfuß)?

Am besten erklärt sich das anhand vieler Beispiele.

Hier mal ein Satz mit einem sechssilbigen, einem einsilbigen und einem zweisilbigen Wort:

(1) Versammlungsverbote sind ätzend.

Diesen Satz kann man rhythmisch als drei Amphibrachien auffassen, wobei das erste Wort (sechsilbig) aus zwei Amphibrachien besteht und der dritte Amphibrachys sich dann auf zwei Wörter aufteilt. Hier fallen also Wort- und Versfüße nicht zusammen.

Und hier nochmal ein Beispielsatz aus drei Amphibrachien, diesmal fallen aber die Vers- und Wortfüße zusammen. Jedes Wort ist dreisilbig und besteht genau aus einem Amphibrachys:

(2) Poeten verachten Verbote.

Der zweite Beispielsatz klingt, vor allem wenn er sehr betont gelesen wird, ziemlich gravitätisch und rhythmisch sehr fest gefügt, vielleicht sogar ein bisschen steif. Der erste Beispielsatz hingegen liest sich beinahe wie ein normales, ungebundenes Sprechen, er wirkt dadurch nicht ganz so eindringlich, aber recht beweglich und natürlich.

Grundsätzlich wird empfohlen, beim Schreiben in gebundener Sprache darauf zu achten, dass die Versfüße nicht allzu eng mit den Wortfüßen zusammenfallen. Wenn man so etwas wie den Beispielsatz (2) nicht nur in einer Zeile fabriziert, sondern eine ganze Strophe oder gar ein ganzes Gedicht lang die Wort- und Versfüße zusammenfallen lässt, klingt es sehr schnell total mechanisch und wirkt dadurch im doppelten Wortsinn komisch. Man spricht bei zu großer Übereinstimmung von Wort- und Versfüßen von "klappernden Versfüßen".
Weil das Deutsche meist auf der ersten Silbe betont, ist diese Gefahr des "Klapperns" besonders groß, wenn man als Versfuß einen Trochäus verwendet und hauptsächlich mit zweisilbigen Wörtern operiert. Das sollte man wirklich nur tun, wenn man absichtlich etwas Lustiges schreiben will, keinesfalls wäre so ein "Geklapper" empfehlenswert, wenn man etwas Ernsthaftes zum Besten geben möchte.

Und jetzt wäre zunächst mal ein guter Zeitpunkt, um etwas zur Notation von Betonungen einzustreuen.

Eine tastaturmäßig einfache Möglichkeit der Notation ist das X-en, das hier im Forum auch üblicherweise praktiziert wird:
Eine betonte Silbe wird dabei durch ein großes X, eine unbetonte durch ein kleines x dargestellt.

Also:
Jambus = xX
Trochäus = Xx
Daktylus = Xxx
Anapäst = xxX
usw.

Für lateinische oder griechische Gedichte würde ich diese Notation übrigens nicht so empfehlen, weil hier ja eher die Silbenlänge Kriterium der Betonung ist und weniger die "Vehemenz" (vereinfacht: Lautstärke) der Aussprache wie im Deutschen. Wobei man an dem Punkt darauf hinweisen muss, dass es im Griechischen und Lateinischen auch nicht nur auf die per Stoppuhr kontrollierbare Länge der Silbe ankommt, sondern auch der Klang und die Konsonantenstruktur in einer Silbe relevant sind, um zu entscheiden, ob die Silbe "betont" ist oder nicht. Aber das nur nebenbei.

Hier mal eine mehr oder weniger sinnlose Zeile in Jamben, die lustig über die Wortgrenzen hinwegziehen - die betonten Silben habe ich mal fett gedruckt und dann die X-e einmal so verteilt, wie sie in einem Wort zusammengehören (Wortfuß) und einmal so, dass man den Jambus (Versfuß) erkennen kann.

(3) Verehrte Majestät! Gestattet, gnädiglich, Euch lobend zu besingen!
Wortfüße: xXx XxX! xXx XxX, x Xx X xXx.
Versfuß: xX xX xX xX xX xX xX xX xX x

Man sieht auch, dass am Schluss noch eine unbetonte Silbe "übrig bleibt", die sich dem Schema entzieht. Das ist das letzte kleine x in der Versfuß-X-ung.

Ich hoffe, an dem Beispielsatz (3) erkennt man außerdem nochmal, dass es einen Unterschied gibt zwischen Wortfuß (z. B. "Verehrte" = xXx) und Versfuß, d.h. im Beispiel dem über alle Silben hinwegziehdenden Jambus. Und übrigens kann man in dem Beispiel auch ganz gut erkennen, wie sehr die metrisch gebundene Sprache eine Kunstsprache ist, die sich vom normalen Alltagssprechen unterscheidet. Denn eine normale Aussprache des Wortes "gnädiglich" (mal abgesehen davon, dass dieses Wort schon exotisch ist ;) ) wäre eher gnä-dig-lich bzw. Xxx, d. h. das "-dig-" und das "-lich" sprechen sich beide schwächer als das "gnä-", wobei auch im normalen sprechen das "-lich" eine schwache Tendenz zu einem Minihauch mehr Eindringlichkeit hat als das "-dig-". Das nur mal wieder als kleiner Seitenblick auf den ungebundenen Normalosprech.

Zurück zur gebundenen Sprache und obigem Jambusbeispiel (3). Da könnte man jetzt evtl. einwenden, dass die Deutung des Versfußes als durchgängiger Jambus (xX) gar nicht zwingend ist.

Stattdessen könnte man ja - Vorschlag 2 - auch sagen, die Zeile besteht aus einer zweimaligen Abfolge von je einem Amphibrachys (xXx) und einem Kretikus (XxX) und dann kommt eine unklare Silbe (x), dann ein Trochäus (Xx), dann wieder eine unklare Silbe (X) und dann wieder ein Amphibrachys (xXx). Mit so einer Lesart würde ich sozusagen den Wortfüßen treu bleiben. Allerdings muss wohl jeder zugeben, dass eine - die Wortgrenzen sprengende - Deutung als durchgängiger Jambus eine deutlich einfachere Beschreibung liefert als die Zusammenstückelung aus drei verschiedenen Versfüßen (Amphibrachys, Kretikus und Trochäus) plus Kapitulation vor den zwei einsilbigen Wörtchen.

Ein Kompromiss - Vorschlag 3 - wäre es, wenn man sagt: In der Zeile wechseln sich Amphibrachys und Kretikus durchgängig ab. Auch hier bleibt dann am Schluss eine unbetonte Silbe übrig. Dann würde ich bei den ersten vier Wörtern dem Wortfuß treu bleiben ("Verehrte Majestät! Gestattet gnädiglich," = xXx XxX xXx XxX) und erst ab dem einsilbigen Wörtchen "Euch" muss man dann bei den Amphibrachien und Kretiki anfangen zu stückeln ("Euch lobend" = Amphibrachys = xXx; "zu besing" = Kretikus; "en" unbetonte Silbe = bleibt übrig).

Diese alternative Deutung Nr. 3 ist schon besser als das wilde Stückwerk von Vorschlag 2, aber immer noch nicht so elegant wie die Jambus-Deutung, weil ich zwei verschiedene Versfüße bemühen muss, um den Rhythmus zu beschreiben.

Summasummarum bleibt hier also am Ende wohl als sinnigste Deutung der Jambus übrig.

ABER: Wir halten schon mal fest, dass es durchaus nicht immer ganz so trivial ist, zu bestimmen, welcher Versfuß in einer Zeile verwendet wird.
Wir kommen im Verlauf noch zu vertrackteren Beispielen...

Außerdem ist noch auf diese vermaledeite "übrig bleibende" Silbe näher einzugehen, die sich sowohl bei der Deutung als Jambus als auch beim gemischten Amphibrachys-Kretikus (Vorschlag 3) manifestiert hat.

(Fortsetzung folgt)
 

sufnus

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4. Oje - jetzt wirds katalektisch (oder auch nicht)

Am Ende des letzten Kapitels sind wir auf das Problem von "überzähligen" Silben am Ende eines Verses gestoßen und darum (und um ähnliche Probleme) geht es jetzt gleich en detail.

Zunächst aber noch was anderes:

Wenn wir zum Beispiel einen Jambus als Versfuß verwenden (xX), dann ergibt sich aus einer Reihe von hintereinander geschalteten Jamben (xXxXxXxX usw.) das Metrum einer Gedichtzeile.
Die Anzahl der Jamben (oder aller anderen Versfüße) wird dabei demjenigen, den's interessiert, mitgeteilt, indem man angibt, wie viele betonte Silben in der Zeile stehen. Man bezeichnet diese betonten Silben auch als "Hebungen".

Beispiel (4):

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.

Wenn wir über diese beiden Zeilen aus van Hoddis' expressionistischem Gedicht „Weltende“ einen Jambus (xX) als Versfuß legen sieht das so aus:

1. Nach Wortgrenzen aufgeteilt:
x Xx X x Xx X x X
x Xx Xx X x X xX

2. Durchgängig geschrieben:
xXxXxXxXxX
xXxXxXxXxX

3. Nach Versfüßen aufgeteilt:
xX xX xX xX xX
xX xX xX xX xX

Und wenn wir jetzt mitteilen wollen, wie viele Jamben in jeder Zeile verwendet wurden (es waren, wie man nachzählen kann jeweils fünf Stück), dann sagen wir:

van Hoddis hat in diesem Gedicht einen fünfhebigen Jambus verwendet.

Auch hier könnte man natürlich (ähnlich wie bei der letzten Lektion weiter oben) auch versuchen, andere Versfüße über die Zeilen zu legen.
Man könnte z. B. sagen:
Van Hoddis hat einen Amphibrachys, gefolgt von einem Kretikus, gefolgt von einem Amphibrachy, gefolgt von einer "übrig bleibenden" betonten Silbe verwendet:

xXx XxX xXx X

Das ist formal irgendwie nicht ganz falsch, aber eine furchtbar umständliche Beschreibung und deshalb gäb es vom verwirrten Deutschlehrer hierfür ein dickes rotes F für: föllig Ferkehrt.

So weit so gut.

Aber was machen wir jetzt, wenn eine Zeile im großen und ganzen als Jambus daherkommt, aber aus einer ungeraden Anzahl an Silben besteht?

Nächstes Beispiel - ein Klassiker (5):

Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen,

Beide Zeilen bestehen aus 7 Silben.
Wenn wir - nach Wörtern aufgeteilt - unsere X und x setzen, sieht das so aus:

x X x XxXx
x Xx Xx Xx

Daraus können wir uns einen Jambus basteln, aber dabei bleibt am Schluss eine Silbe übrig:

xX xX xX x
xX xX xX x

Dieses Problem, dass wir eine Silbe nicht "unterbekommen", ist total häufig, weil die im Deutschen hauptsächlich verwendeten Versfüße wie oben schon ausgeführt entweder ein Vielfaches von zwei Silben "sauber" abdecken, nämlich der Jambus (xX) und der Trochäus (Xx) oder ein Vielfaches von drei Silben, nämlich der Daktylus (Xxx), der Anapäst (xxX) und der Amphibrachys (xXx). Eine Zeile mit 5, 7 oder 11 Silben (usw.) wird sich also nicht komplett mit einem Versfuß beschreiben lassen.
Kann (und muss) man nicht ändern und ist auch im Prinzip kein Problem. Aber man will dem Kind natürlich einen Namen geben und der ist so wunderbar kompliziert, dass wir ihn uns auf der Zunge zergehen lassen wollen!

Wenn man eine "überzählige" Silbe am Schluss hat, spricht man von einer Hyperkatalexe, was ich ziemlich beeindruckend finde. Das zugehörige Adjektiv ist hyperkatalektisch.
Bei obigen zwei Zeilen von Claudius' schönem Mondgedicht handelt es sich also (vorsicht, anschnallen!) um:

Dreihebige, hyperkatalektische Jamben.

Nochmal ein anderes Beispiel zur Vertiefung (6):

Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang.
Es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.

xXxXxXx
xXxXxX
xXxXxXx
xXxXxX

Hier haben wir es mit durchgängig dreihebigen Jamben zu tun, die abwechselnd hyperkatalektisch (Zeile 1 und 3) und akatalektisch sind.

Damit haben wir ein neues Klugschei-ups-Wort gelernt, akatalektisch, das einfach bedeutet, dass keine Silbe "übrig bleibt", wir also einen vollständig ans Ende durchlaufenden Versfuß haben. Das muss man bei einer Beschreibung eigentlich nicht extra dazu sagen, aber es klingt natürlich ganz schön beeindruckend.
So viel zu den Fällen, in denen wir für unseren Versfuß eine Silbe zu viel haben und damit eine Hyperkatalexie auftritt.

Es gibt natürlich auch den gegenteiligen Fall, nämlich, dass wir am Versende Silben zu wenig „übrig haben“.
Ganz besonders leicht tritt das bei den Versfüßen auf, die aus drei Silben gebildet werden (z. B. Daktylus, Anapäst und Amphibrachys), wenn wir eine Zeile mit 5, 8 oder 11 Silben haben und deshalb eine Silbe für eine durch drei teilbare Zahl fehlt.

Ein ad hoc „gedichtetes“ Beispiel ohne literarischen Anspruch (7):

Schlagsahne füllt mir den Magen,
füllt mich mit großem Behagen.

Nochmal nach Wortfüßen ge-ixt:

Xxx X x x Xx
X x x Xx xXx

Und als Dakylus notiert:

Xxx Xxx Xx
Xxx Xxx Xx

Hier fehlt jeweils am Ende eine Silbe, um einen vollständigen Daktylus zu ergeben. Man könnte die letzten zwei Silben also als Trochäus auffassen, aber dann hätte man wieder so ein umständliches Versfußmischmasch. Einfacher wäre es zu sagen: „Drei Daktylen, aber bei einem fehlt eine Silbe“ und auf schlau heißt das dann:

Dreihebige katalektische Daktylen.

Wir haben also gelernt:

- Katalexe, katalektisch: Am Ende des Verses fehlt eine (oder mehr!) Silben.
- Akatalexe, akatalektisch: Hier fehlt nix und es gibt auch keinen Überschuss… alles gut… gehen Sie bitte weiter!
- Hyperkatalexe, hyperkatalektisch: Am Ende des Verses gibt es eine Silbe zu viel.

Das nächste Mal lassen wir den metrischen Blick vom Vers-Ende an den Vers-Anfang schweifen und beschäftigen uns u. a. mit dem Auftakt, einem etwas peinlichen Kapitel der Metrik, weil es uns unser schönes Versfußgebäude gehörig in Unordnung bringen wird…

(Fortsetzung folgt)
 
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sufnus

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5. Der Auftakt: Metrische Startschwierigkeiten beim Zeilenbeginn

Ich habe schon im vorangegangenen Kapitel darauf hingewiesen, dass jetzt ein Thema kommt, das anarachisches Sprengpotential besitzt und schlimmstenfalls das komplette, bisher vorgestellte System der Versfüße zum Einsturz bringen kann. Das soll uns aber nicht abschrecken, sondern augenglitzernde Neugier wecken. Ein bisschen Randale ist doch ab und an ganz unterhaltsam und wenn die sich in der Elfenbeinsphäre der Literatur abspielt, ist das doch allemal sozialverträglicher, als wenn die Lust an der Dekonstruktion sich in Form brennender Mülltonnen oder Pflastersteingeschossen äußert (aber nicht, dass jetzt ein Philister auf die Idee kommt, Literatur sei staatserhaltend - dafür regt sie allzusehr die Phantasie und das eigene Denken an, aber das nur als kleine Nebenbemerkung).

So. Wie nähern wir uns jetzt dem gemeingefährlichen Thema Auftakt?

Vielleicht mit folgender Frage:

Was ist denn eigentlich der Unterschied zwischen einem Jambus und einem Trochäus?
Dumme Frage, wird man da zunächst womöglich antworten, der Jambus fängt halt mit einer unbetonten Silbe an und der Trochäus mit einer betonten Silbe. Ist doch easy.

Tja... so einfach das klingt, ein paar Literaturtheoretikern bereitet dieser "kleine Unterschied" zwischen Jambus und Trochäus Bauchschmerzen.

Schauen wir uns mal ein bekanntes Kinderlied an, bei dem ich einfachheitshalber die Wiederholung der zweite Zeile weglasse und es in einen Vierzeiler verwandle (8a):

Alle meine Entchen
schwimmen auf dem See:
Köpfchen in das Wasser,
Schwänzchen in die Höh'!

Wenn wir da die bewährte X bzw. x Schreibweise zur Bestimmung von betonten und unbetonten Silben anwenden, kommt das Folgende dabei raus (ich hab mal direkt die Aufteilung nach Wortfüßen weggelassen und nach Versfüßen eingeteilt):

Xx Xx Xx
Xx Xx X
Xx Xx Xx
Xx Xx X

Wir haben also einen klassischen, dreihebigen Trochäus, der abwechselnd katalektisch (Zeile 2 und Zeile 4) bzw. akatalektisch (Zeile 1 und Zeile 3) ist.
Außerdem fällt auf, dass sich die Versfüße ziemlich eng an die Wortfüße halten, vor allem in der ersten Zeile sind tatsächlich alle Wörter zweisilbig und der Trochäus folgt genau den Wortgrenzen, will heißen: Es klappert gewaltig, was bei Gedankenlyrik oder einem romantischen Liebesgedicht usw. voll nicht ok wäre, aber bei einem lustigen Kinderlied gar nicht stört oder im Gegenteil sogar der Eingängigkeit dienlich ist (das hatte ich ja weiter oben schon angemerkt: Klappernde Versfüße bei lustigen Gedichten kein Problem, bei "ernsthafteren" Gedichten ein schwerer Handwerksfehler).
So weit, so gut.

Jetzt erlaub ich mir mal, metrisch ein bisschen Hand an den Kinderklassiker anzulegen (8b):

Ja, alle meine Entchen,
die schwimmen auf dem See:
Das Köpfchen geht ins Wasser,
das Schwänzchen in die Höh'!

Das stellt sich versfußmäßig jetzt so dar:

xX xX xX x
xX xX xX
xX xX xX x
xX xX xX

Durch die jeder Zeile vorangestellte unbetonte Silbe haben wir jetzt also formal den Versfuß von einem Trochäus (Xx) in einen Jambus (xX) umgewandelt. Hier würde man also von einem dreihebigen Jambus reden können - anstelle des dreihebigen Trochäus aus dem Original-Entchenlied. Und das alles nur, weil jeder Zeile eine völlig unwichtige "Füllsilbe" vorangestellt wurde, die, weil sie unbetont ist, auch beim Vortrag ziemlich unauffällig daherkommt.
Damit haben nun manche Versfußexegeten ein Problem. Wie kann es sein, dass eine total irrelevante Silbenzutat am Anfang einer Zeile darüber entscheidet, welcher Versfuß hier vorliegen soll?

Und aus solchen Überlegungen heraus hat sich wohl teilweise die Idee des Auftakts in die Betrachtung neuhochdeutscher Lyrik eingeschlichen (diese Kategorie ist dabei aber, genau wegen seiner Systemsprengkraft, etwas umstritten). Der Ausdruck Auftakt bezeichnet nämlich eine (bzw. selten auch zwei) unbetonte Silbe am Versanfang. Diese Auftaktsilben darf man dann bei der Bestimmung des Versfußes sozusagen ignorieren.

(Und hier noch eine kleine Zwischenanmerkung: Vollständigkeitshalber sei erwähnt, dass es den Terminus Auftakt auch in mittelhochdeutscher Lyrik gibt, die metrisch teilweise ganz analog, teilweise aber auch abweichend zur traditionellen neuhochdeutschen Lyrik strukturiert wird - ich würde empfehlen, das bei den Betrachtungen zur deutschsprachigen Lyrik der Neuzeit aus- respektive einzuklammern, sprich: zu ignorieren.)

Aber wo liegt jetzt die Sprengkraft des Prinzips vom Auftakt für die Versfußlehre?

Einige ahnen es vielleicht schon: Wenn man den Auftakt, so wie er obig definiert wurde, als grundsätzliches Element in die Theorie vom Versfuß einführt, dann schafft man damit den Amphibrachys und den Anapäst und sogar den Jambus, als den zentralen Versfuß in der metrisch gebundenen deutschsprachigen Lyrik, einfach komplett ab und es bleiben nur solche Versfüße übrig, die bereits mit einer betonten Silbe anfangen: Trochäus, Daktylus, Kretikus und Spondeus (wobei die zwei letztgenannten wegen der Hebungsprallproblematik, die gegen Ende von Kap. 2 erläutert wurde, ja im Deutschen nicht so wirklich "funktionieren").

Um es also nochmal klar aufzudröseln: Die ganz radikalen Verfechter*innen des Prinzips eines Auftaktes würden es so darstellen: Es gibt (von den Exoten wie Kretikus & Spondeus abgesehen) bloß zwei Versfüße im Deutschen, nämlich den Trochäus (Xx) und den Daktylus (Xxx) und was in der "Auftakt-losen" Versfußtheorie als Jambus bezeichnet wird ist einfach nur ein Trochäus mit einem Auftakt. Entsprechend würde aus dem klassischen Amphibrachys ein Daktylus mit einem Auftakt und aus dem Anapäst ein Daktylus mit zwei Auftakten.

Letztlich hat sich das nicht wirklich allgemein durchgesetzt und es gibt stattdessen auch noch eine Softie-Variante, die alle Versfußbezeichnungen inkl. Jambus & Co. so gelten lässt, wie sie sind, und den Begriff Auftakt nur als beschreibende Qualität eines Jambus, Amphibrachys oder Anapäst gebraucht, um auszudrücken, dass diese Versfüße nicht mit einer Betonung loslegen, sondern erstmal ganz entspannt mit einer oder zwei unbetonten Silbe um die Ecke gebogen kommen, dass es sich also um "auftaktische Versfüße" handelt.

Und dann gibts natürlich die Fraktion, die von dem ganzen Auftakt-Gedöns gar nichts wissen will und die Meinung vertritt, dass die klassischen Versfüße den Job eigentlich voll erfüllen, ggf. ergänzt um die Zusatzinformation hyperkatalektisch oder katalektisch oder akatalektisch. Die Folge: Der Auftakt wandert in den Papierkorb und dieses ganze Kapitel wäre dann ziemlich unnötig. Oha.

Ehrlich gesagt, bin ich ein bisschen versucht, mich in dieser Angelegenheit zwischen alle Stühle zu setzen und den Auftakt in ein paar Spezialfällen schon gelten zu lassen, ihn aber als Prinzip nicht regelhaft anzuwenden. Da mir dieses Kapitel jetzt aber eigentlich erstmal informationsgesättigt erscheint, würd ich dafür das nächste Kapitel beanspruchen, in dem ich u. a. nochmal auf die Entchen-Beispiele 8a und 8b zurückkomme.

(Fortsetzung folgt)
 

sufnus

Mitglied
6. Rettet den Auftakt (aber nur ein bisschen)!

Das 5. Kapitel hat womöglich ein gewisses Frustmomentum hinterlassen, weil mit der Vorstellung des Auftakts erst eine Antäuschbewegung verbunden war, die das Versfußgebäude hätte zum Einsturz bringen können und dann wurde dieses Konzept - von ein paar Radikalinksis abgesehen, die daran festhalten- doch wieder so ziemlich einkassiert. Also viel Lärm um nichts?

Ich denke, es lohnt sich schon, noch einmal einen genaueren zweiten Blick auf das Auftaktproblem zu werfen. Zur Vertiefung zunächst nochmal ganz kurz - quasi als Wiederholung - die Rationale, wie man auf diese Vorstellung vom Auftakt kommen kann (dies im unmittelbar folgenden Abschnitt) und dann eine Begründung, warum eine Abschaffung aller Versfüße, die mit einer unbetonten Silbe beginnen, vieleicht wirklich ein wenig zu weit geht (das dann ab dem übernächsten Abschnitt bis zum Kapitelende).

Die im 5. Kapitel erläuterte Idee des Auftakts wurde letztlich ja dadurch in den Raum gestellt, dass einige Theoretiker*innen die (erstmal durchaus nachvollziehbare) Ansicht vertraten, dass in der metrisch gebundenen, deutschsprachigen Lyrik die betonten Silben die eigentlichen Strukturbildner darstellen. Die unbetonten Silben sind bei dieser Betrachtungsweise eher eine Art "Füllmaterial", das zwar die Distanz zwischen zwei Betonungen reguliert, aber sozusagen keine "aktive" Rolle als Taktgeber spielt. Da die unbetonten Silben auf diese Weise gedanklich in die zweite Reihe verwiesen wurden, erschien es unangebracht, einer einzelnen unbetonten Silbe am Zeilenanfang die "Entscheidung" über das Versmaß, insbesondere im Hinblick auf Jambus versus Trochäus, zu überlassen. Folglich wurde die unbetonte Silbe am Zeilenanfang, die z. B. einen Jambus oder Amphibrachys definiert (bzw. die zwei unbetonten Silben im Fall des Anpäst) zum Auftakt umdeklariert und der "Rhythmus" beginnt dann sozusagen offiziell erst mit der ersten betonten Silbe. Dieser Begründung, nämlich dass die erste unbetonte Silbe einfach zu unbedeutend ist, um den Charakter eines kompletten Versfußes daran zu knüpfen, könnte man nun ein bisschen polemisch damit begegnen, dass doch häufig kleine Ursachen große Wirkungen entfalten können. Man hinterlasse nur mal im Hochsommer einen kleinen, glimmenden Zigarettenstummel in einer ausgetrockneten Fichtenmonokultur und studiere dann in den folgenden Tagen die Newsticker zum Waldbrandgeschehen (das ist ein Gedankenexperiment, liebe Kinder, nicht in die Tat umsetzen!). Im direkt folgenden Abschnitt will ich aber versuchen, etwas inhaltsbezogener zu argumentieren und darzustellen, warum die kleine Ursache der initialen, unbetonten Silbe (häufig) so eine große Wirkung entfaltet und sich tatsächlich ein Jambus (wiederum: häufig) deutlich von einem Trochäus unterscheidet.

Wir betrachten am besten mal einen typischen Trochäus und einen typischen Jambus. Erstmal der Trochäus (9):

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elisium,
wir betreten feuertrunken,
Himmlische, Dein Heilgtum.
Deine Zauber binden wieder,
was die Mode streng geteilt.
Alle Menschen werden Brüder,
wo Dein sanfter Flügel weilt.

Diese überschwängliche Vergöttlichung der Freude durch den Herrn Schiller, klingt, selbst ohne die beinahe unvermeidlich mitanklingende Vertonung von diesem Komponisten aus Bonn, sehr festlich, eindringlich, voller Pathos und bei allem Begeisterungsimpetus auch recht wuchtig. Kein Wunder, dass man damit im Fernsehen so gerne das alte Jahr beschließt bzw. das neue ausruft. Ein echtes klangliches, vielzeiliges Ausrufezeichen.

Und jetzt mal ein Jambus (10):

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen
entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Das klingt weniger "heftig", fast ein bisschen murmelig, dabei wirkt es aber auch beweglicher und ist im Vergleich zum Schillergedicht irgendwie leichter gewirkt. Anders gesagt: Die Ode an die Freude könnte man theoretisch laut schreiend vortragen (auch wenn das dem schönen Text natürlich nicht gerecht würde), bei Trakls Gedicht "Verfall" müsste man sich für einen herausgebrüllten Vortragsstil schon ganz schön anstrengen und auf eine seltsame Weise gegen den Textrhythmus anlesen. Diese Unterschiede liegen nun nicht nur am unterschiedlichen Versfuß sondern auch am Inhalt, an der Klangfarbe der Wörter, an der unterschiedlichen Anzahl der Hebungen uws. aber der Versfuß, sprich Trochäus versus Jambus trägt doch zu dem Unterschied mit bei... und jetzt ist nur die Frage... wie macht der das?

Hierzu würde ich die beiden Texte einmal mit x und X durchtakten und dabei einmal die Zeichen nicht anhand des Versfußes, sondern anhand der Wortgrenzen anordnen. Die zusammengehörigen x und X, die jeweils einen Versfuß bilden kennzeichne ich zusätzlich nochmal durch abwechselnd blaue oder rote Schriftfarbe.

Zunächst Text (9):

Xx Xx XxXx
Xx X xXxX
X xXx XxXx
XxX x XxX
Xx Xx Xx Xx
X x Xx X xX
Xx Xx Xx Xx
X x Xx Xx X

Und dann Text (10):

x Xx X x Xx Xx Xx
x X x Xx XxXx Xx
x X xX x Xx XxXx
xXx X x Xx Xx Xx

Das ist jetzt übrigens ein Punkt, bei dem der X-Anfänger womöglich noch etwas ratlos ist, wie die Zuordnung zu betonten und unbetonten Silben genau vonstatten geht - insbesondere, wie bei den einsilbigen Wörtern entschieden wird, wann ein x und wann ein X spendiert wird. Hier bitte ich einfach um etwas Geduld, wir werden uns mit der Analysen von Hebungen und Senkungen noch einige Kapitel lang beschäftigen - bis jetzt geht es um das Grundverständnis der ganze Begriffe und ein erstes Reinschnuppern ins Metrikgeschäft... also... kommt Zeit, kommt Rat!

Wenn Ihr jetzt die x und X mal so akzeptiert, wie ich sie gesetzt habe (Flüchtigkeitsfehler nicht ausgeschlossen - erbitte Hinweise im separaten Diskussionsthread!), dann fällt auf, dass beim Beispiel (9) die Xx bzw. die Farbgrenzen sehr häufig gut übereinstimmen, während im Beispiel (10) häufig die blaue oder rote Farbe eine Lücke zwischen x und X überbrücken muss. Mit anderen Worten: Beim Schiller, also Text (9) folgt der Versfuß (rot bzw. blau markierte X bzw. x) sehr häufig den Wortgrenzen, während dies in Beispiel (10) von Herrn Trakl durchaus nicht der Fall ist.

Man könnte also fast in den Raum stellen, ob beim Schiller womöglich ein gewisses Klappern des Versfußes zu konstatieren ist (vgl. Kap. 3). Besonders manifest ist das in Zeile 1, Zeile 5 und Zeile 8, wo die Vers- und Wortfüße exakt zusammenfallen (zumindest wenn man Götterfunken als zwei getrennte, zweisilbige Wörter mit Bindestrich liest: Götter-Funken). Und bevor nun Schillerfans (ich bin selber einer) die Stirn wegen Genielästerung runzeln: Insgesamt klappert es nicht, denn die etwas nahe am Klappern gebauten Zeilen werden kongenial durch solche ausgeglichen, bei denen der Schiller ein paar Spezialtricks am Start hat. In einer Zeile hat der Kollege (Scherz!) sogar eine Tonbeugung eingebaut, ein wirksames Gegenmittel gegen klappernde Versfüße, aber nicht ganz easy in der Anwendung. Wer findet die Zeile? (Notabene: Auf das Element der Tonbeugung gehen wir natürlich nochmal gesondert ausführlich ein).

Dieser Unterschied zwischen Text (9) und (10) ergibt sich nun zu einem Gutteil aus der unbetonten Anfangssilbe. Da im Deutschen die meisten Wörter auf der ersten Silbe betont werden (sozusagen "trochäisch") führt ein jambisches Versmaß mit der unbetonten Silbe am Zeilenanfang dazu, dass Versfuß und Wortfuß relativ häufig um eine Silbe gegeneinander verschoben werden, so dass das jambische Versmaß viel stärker dazu tendiert, über Wortgrenzen hinweg zu laufen. Im Prinzip laufen hier zwei Strukturgeber, nämlich die Wortgrenzen und der Versfuß asynchron durch die Zeile, während beim Trochäus eher die Tendenz besteht, dass beides synchronisiert ist. Dies bedingt einen grundsätzlich anderen Rhythmuscharakter zwischen den beiden Versfüßen und zeigt, dass wirklich eine harmlose unbetonte Silbe am Zeilenanfang ganz schön heftige Effekte nach sich ziehen kann.

Nur hat diese "jambische Desynchronisation" (das ist kein Terminus technicus, sondern ein von mir erfundener, scherzhafter Begriff) m. E. ihre natürlichen Grenzen. Wenn wir nochmal in das vorangegangene Kapitel zum Alle-meine-Entchen-Text (8a) und seiner Variante mit unbetonter Anfangssilbe (8b) zurückspringen, dann stellt es sich ja so dar, dass im Original (8a) der trochäische Versfuß sich sehr eng an die Wortgrenzen hält, während in der Variante (8b) jedes zweisilbige Wort bei Maßgabe eines jambischen Versfußes auseinandergerissen wird. Und zumindest für mein Gehör führt das dann dazu, dass nach ein paar Wörtern der Versfuß quasi die Gleise wechselt und sich wieder an die Wortgrenzen angleicht, wodurch es dann eben doch trochäisch und nicht jambisch klingt. Man kann das vielleicht am besten so nachvollziehen, wenn man der Variante (8b) mal die Original-Kinderliedmelodie unterlegt. Das funktioniert erstaunlich easy, obwohl ja eine Silbe dazugekommen ist - versuchts mal!

Insofern würde ich jetzt langsam den Bogen zur Kapitelüberschrift schließen wollen: Eine Deutung grundsätzlich jeder unbetonten Silbe am Zeilenanfang als einen am Versfuß nicht beteiligten Auftakt und (hiermit verbunden) eine Abschaffung aller "auftaktischen" Versfüße scheint mir die Tatsache zu missachten, dass die initiale unbetonte Silbe sich in der Regel durchaus auf den Rest einer Zeile spürbar auswirkt, weshalb mir diese harte Definition von Auftakt eine Spur zu weit ginge. In Fällen bei denen der Wortfuß aber sehr stark ein anderes Metrum "fordert" als das, welches eine klassische Versfußanalyse ergäbe (vgl.nochmal Bsp. 8b) würde ich das Prinzip des Auftakts für sinnig halten.

Vielleicht ist es an der Stelle aber am besten, wir verlassen mal diese noch recht theoretische Diskussion und wenden uns in den folgenden Kapiteln einfach vielen Textbeispielen zu, die wir metrisch analysieren. Bei ein paar wenigen Exempeln begegnet uns dann vielleicht auch nochmal ein Auftakt und die Sache wird noch etwas klarer.

Also: Dranbleiben! :)

(Fortsetzung folgt)
 

sufnus

Mitglied
7. Praktische Beispiele zur Versfuß-Analyse: Der Trochäus

Also... wie im letzten Kapitel angekündigt, geht es jetzt mal nochmal in praktische Beispiele zwecks Vertiefung des bisher Gesagten.

Die Hauptfragen in diesem und in den folgenden Kapiteln werden sein:

1) Wie kommt man durch die Analyse der Wortfüße mehrsilbiger Wörter in einer Gedichtzeile zur Bestimmung des Versfußes?
2) Welche Rolle spielen einsilbige Wörter in Versfüßen?
3) Was sind konkrete Beispiele für klappernde Versfüße und wie sehen Beispiele ohne "Geklapper" aus?
4) Wie wirken sich die letzten Silben einer Gedichtzeile und der Endreim (falls vorhanden) in Tateinheit mit dem Versfuß auf den Lesefluss eines Gedichts aus?
5) Darf es auch einmal eine Diskrepanz zwischen einem Versfuß und der "natürlichen" Betonung eines Wortes geben oder ist das grundsätzlich als "technischer" Fehler zu werten?

Also nehmen wir uns erst mal ein paar trochäische Verse vor und schauen nach, woran man erkennt, dass es sich um ebensolche handelt.

Ich würde dazu zunächst mal mit einem ad hoc erfundenen Text (ohne literarischen Anspruch) anfangen, der in metrisch nicht gebundener Sprache verfasst ist (11). Diesen werde ich dann zunächst in einen ungereimten, metrisch gebundenen Text "übersetzen" (12) und anschießend in einen metrisch gebundenen Text, der noch dazu gereimt ist (13).

(11)
Küchenhilfenetüde 1

Dringend gesucht: Küchengehilfe.
Die Bezahlung ist allerdings gruselig niedrig
und dafür ist dann die Arbeitsbelastung
erschreckend hoch.


(12)
Küchenhilfenetüde 2

Eine Küchenhilfe wäre
eine wirklich große Hilfe,
aber kluge Menschen scheuen
Arbeitsmüh'n bei Niedriglöhnen.


(13)
Küchenhilfenetüde 3

Eine Küchenhilfe würde
unsre Stimmung wirklich krönen,
bloß ist das Salär 'ne Bürde
und die Dienstzeit echt zum Stöhnen.

Achtet einmal darauf, wie sich der "rhythmische" Charakter dieser drei Beispiele unterscheidet. Welches Beispiel klingt für Euch am "musikalischsten" (oder meinethalben: am wenigsten unmusikalisch)? Welcher Text wirkt am lebendigsten für Euch, welcher am eingängisten? Hier gibt es natürlich keine "Richtigantwort", weil das Geschmackssache ist (und die Texte als Übungsbeispiele eh ein bisschen albern sind). Es geht darum, das Gehör für Unterschiede zu schulen.

In jedem Fall ist es so, dass (wie oben bereits geschrieben) Textbeispiel (11) keinem festen Versfuß folgt, es ist also metrisch nicht gebunden, sondern hüpft in freier Rede vor sich hin. Versucht mal, Text (11) mit irgendeiner Art definierter Melodie zu singen... wird eher schwierig (was nicht heißt, dass man nicht auch an einem solchen Text seine "musikalische" Freude haben kann, z. B. wenn man den Jazz von Sunny Murray mag).

In Text (12) haben wir dann zwar keinen Reim, aber doch einen definierten Versfuß, nämlich einen vierhebigen Trochäus.
Wie kommt man darauf?

Als Anfänger schaut man sich zunächst am einfachsten die Wortfüße der mehrsilbigen Wörter an.
Wie es der Zufall ;) will, sind in den Zeilen 1-3 alle Wörter zweisilbig, was im Fall der zweizähligen Versfüße Jambus (xX) und Trochäus (Xx) die Versfußbestimmung beträchtlich erleichtert.
In Zeile 1 haben wir dabei die Wörter "Eine", "Küchenhilfe" und "wäre".
Betonungstechnisch lässt sich das Wort "Eine" am besten so beschreiben: Xx. Die erste Silbe wird also stärker betont als die zweite Silbe. Mein Tipp ist hier im Fall von Unsicherheiten, einfach verschiedene stark übertriebene Betonungen auszuprobieren. Also versucht mal "Eine" ganz doll auf der zweiten Silbe zu betonen, das wird eher seltsam klingen. Bei "Küchenhilfe" sieht es so aus: XxXx. Auch hier wieder: Versucht mal "Küchen-" statt auf dem "Kü-" fälschlicherweise auf der zweiten Silbe, dem "-chen-" zu betonen oder "-hilfe" auf dem "-fe" anstelle vom "hil-". Entsprechend funktioniert das dann auch für das letzte Wort "wäre" = Xx.
Zusammengesetzt ergibt sich also für die erste Zeile (nach Wortgrenzen aufgeteilt): Xx XxXx Xx.
Nach Versfüßen aufgeteilt sieht es dann so aus: Xx Xx Xx Xx = viermal Trochäus.

Vielleicht wäre hier sicherheitshalber nochmal ein Einschub gut, um nochmal klarzumachen, was eigentlich mit "Betonung" gemeint ist. In Kapitel 1 habe ich mich ja über die Möglichkeiten ausgelassen, wie man in nicht-gebundener Sprache (also der "natürlichen" Rede) einzelne Silben oder Wörter hervorheben kann und dabei angedeutet, dass es hierfür eine Fülle sprachlicher (Tonhöhe, Silbenlänge, Lautstärke) und nicht-sprachlicher (Gesichtsausdruck, Kopfgewackel, Armegefuchtel) Methoden gibt, um die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu lenken.
Bei metrisch gebundener Sprache im Deutschen engt sich das auf die Betonung ein und damit ist vereinfacht (!) die Lautstärke gemeint, mit der eine Silbe gesprochen wird. Die Betonung muss dabei nicht in jedem Fall der Tonhöhe (heller versus dunkler Vokal) oder Silbenlänge folgen (sie macht es aber manchmal schon).
Also z. B.: "Verlangen" "Verliebtheit", "Verloren" und "Verluste" werden alle auf der zweiten Silbe betont, obwohl die Vokale ganz unterschiedlich sind (helles i, dunkles o usw.) und die betonte zweite Silbe teilweise recht langgezogen ist (Ver-lo-ren), teilweise eher kurz daherkommt (Ver-lus-te). Immer ist die zweite Silbe die "am lautesten" gesprochene. Versucht es mal anders, also z. B. Betonung auf dem "Ver-" gefolgt von einer schwächeren zweiten Silbe und ihr werdet nach und nach merken, was "normaler" klingt: Verliebtheit als xXx oder XxX oder Xxx oder xxX usw.
Wichtiger Tipp hierbei: Sprecht die Silbentrennzeichen auf keinen Fall als kleine Pause mit, also nicht wie so eine Art Roboterstimme "Ver-liebt-heit" mit Pause zwischen jeder Silbe, dann ergibt sich nämlich automatisch eine ganz unnatürliche Gleichbetonung aller Silben, eine Art XXX. Wenn ihr es aber flüssig, ohne Pause zwischen den Silben sprecht (so wie in einem ganz normalen Satz), dann merkt ihr eher, wo der natürliche Betonungsschwerpunt liegt.

Für Zeile 2 & 3 in Beispiel (12) kann man genauso vorgehen. Es liegen in diesen beiden Zeilen lauter zweisilbige Wörter (jeweils vier pro Zeile) vor und jedes einzelne Wort wird natürlicherweise Xx betont. Damit kommen wir auch hier zwanglos zu einem vierhebigen Trochäus (vier mal Xx) und haben die ersten drei Zeilen von Beispiel (12) erfolgreich absolviert.
In Zeile 4 gibt es jetzt eine kleine Programmänderung: Hier haben wir ein dreisilbiges Wort, nämlich Arbeitsmüh'n (beachte hierbei: das Wort Arbeitsmühen wäre sogar viersilbig, aber der "Dichter" hat hier durch die Streichung eines Vokals, d. h. -müh'n statt -mühen, eine Silbe eingespart). Dann folgt ein einsilbiges Wort, nämlich "bei", und dann ein viersilbiges Wort, die "Niedriglöhnen".
Nachdem nun Zeile 1-3 so strikt vierhebig trochäisch rübergekommen sind und die Silbenzahl pro Zeile sogar bei den Zeilen 1-4 immer genau 8 beträgt, drängt sich schon der Verdacht auf, dass Zeile 4 ebenfalls den Trochäus bemüht. Nur bekommen wir hier einen Zweizähligen Versfuß (Xx) nicht derartig auf alle Silben der Zeile 4 verteilt, dass auch die Wortgrenzen eingehalten werden. Das ist aber gar kein Problem bzw. sogar wünschenswert, um einen klappernden Versfuß zu vermeiden. In Kapitel 3 war das bereits erläutert worden und mit Textbeispiel (1) und (3) finden wir in jenem Kapitel auch jambische Exempel, bei denen der Versfuß lustig über Wortgrenzen hinwegzieht.
In unserem aktuellen Beispiel der Zeile 4 von Text (12) sieht die natürliche Betonung des ersten Wortes so aus: XxX. Man könnte aber das Wort auch ziemlich "flach" ausklingen lassen und dann fast so betonen Xxx, wobei aber doch die dritte Silbe einen Tick "lauter" klingt als die ziemlich vernuschelbare zweite Silbe. Ein Mensch mit silbensparsamer Undeutlichaussprache könnte das Wort fast so hervorbringen Arbtzmühn und dabei die zweite Silbe weitgehend wegrationalisieren. Das ist ein Argument für XxX als natürlichen Wortfuß, aber letztlich ist es tatsächlich so, dass nicht jedes Wort für sich alleine nur eine einzige gültige Betonungsweise besitzt.
Bei manchen Wörtern, zumal bei Zweisilbigen gibt es wirklich fast nur eine Möglichkeit, die zu betonen, wenn es nicht seltsam rüberkommen soll. "Abwasch" kann man z. B nur schwerlich auf der zweiten Silbe betonen und "Gefahr" nur völlig gegen den Strich gesprochen auf der ersten. Bei anderen Wörtern, insbesondere bei etlichen einsilbigen und manchen mehr-als-zwei-silbigen, kommt es aber auf den klanglichen Kontext des ganzen Satzes an.
Bleiben wir mal bei "Arbeitsmüh'n" und vergleichen die Zeile 4 aus dem Beispiel (12)

"Arbeitsmüh'n bei Niedriglöhnen"

mit einem anders strukturierten Satz (14):

"Arbeitsmüh'n lehren den Faulpelz das Fürchten"

Bei diesem Satz bietet sich durchaus eine (daktylische) Aussprache von Arbeitsmüh'n nach dem Muster Xxx an, weil sich dann das "lehren" sehr schön mit starker erster Silbe betonen lässt (Xx), woraufhin das "den" eine schwach betonte Brücke zum stark anlautenden Faulpelz (Xx) bildet. In ähnlicher Weise leitet dann ein schwach betontes "das" wieder zum stark betonten "Fürch-" über. Die fertige Versfußisierung von Beispiel (14) lautete dann nach Wortgrenzen aufgeteilt Xxx Xx x Xx x Xx und nach Versfußgrenzen aufgeteilt Xxx Xxx Xxx Xx. Wir haben hier also einen katalektischen Daktylus und der kommt erst im übernächsten Kapitel richtig dran. ;)

Was wir aber festhalten können, ist, dass nicht jedes Wort in jedem Kontext gleich betont wird und das vor allem Wörter mit weniger oder mehr als zwei Silben diesbezüglich (manchmal) flexibel sein können. Anders gesagt: Als Anfänger, der versucht, den Versfuß eines Textes zu bestimmen, hält man sich am besten zunächst an die zweisilbigen Wörter und passt dann die anderen Wörter entsprechend in den Kontext ein (aber ohne dabei die anderen Wörter zu quälen - es könnte ja auch sein, dass gar kein regelmäßiger Versfuß vorliegt, also nicht auf Teufel komm raus alles "passend" hinbiegen).

Übung macht hier den Meister.

Und damit zur gereimten Küchenhilfenetüde 3 (13):

Hier haben wir in Zeile 1 und 2 wieder nur zweisilbige Wörter mit relativ festgelegter Betonung. Alle diese Wörter werden nämlich auf der ersten Silbe betont (Xx) womit sich für diese beiden Zeilen jeweils ein sehr eindeutiges trochäisches Schema (mit kräftig klapperndem Versfuß) ergibt: Xx Xx Xx Xx.

Interessanter ist die dritte Zeile: "bloß ist das Salär 'ne Bürde", denn hier haben wir vier einsilbige Wörter, die nach meinen obigen Ausführungen ja (häufig) weniger festgelegt in ihrer Betonung sind. Also kümmern wir uns erst mal um die zwei zweisilbigen Wörter "Salär" und "Bürde". Die werden tatsächlich unterschiedlich betont, nämlich "Salär" (zumindest im Standardhochdeutschen) auf der zweiten Silbe (wie das französische "salaire") und "Bürde" auf der ersten Silbe.
Wenn wir die einsilbigen Wörter jetzt mal noch offen lassen (ich deute das mal mit einem "o" an) haben wir jetzt (nach Wortgrenzen aufgeteilt):

o o o xX o Xx

Interessant ist jetzt hier das vierte "o" zwischen dem xX und dem Xx. Ich habe in Kapitel 2 schonmal darauf hingewiesen, dass es im Deutschen sehr schwierig ist, zwei betonte Silben hinter einander zu sprechen (Spondeus). Noch viel schwieriger, eigentlich (fast) ein Ding der Unmöglichkeit ist es, drei betonte Silben hinter einander zu sprechen. Wenn das vierte "o" betont wäre, hätten wir aber genau so eine Konstellation mit drei Betonungen am Stück. Es wär also im Sinne einer flüssigen Aussprache arg schön, wenn sich das "'ne" unbetont sprechen ließe und wenn Ihr Euch das mal vorsprecht, kuschelt sich dieses Wörtchen (wenn man bei diesem kleinen Lautfitzel überhaupt von einem Wort sprechen möchte) echt unauffällig zwischen das "Salär" und die "Bürde". Wir haben jetzt also schon:

o o o xX x Xx

Und als nächstes hilft eine weitere Eselsbrücke weiter: Einsilbige Wörter, die sehr eindeutig mit gaaanz langem Vokal gesprochen werden, sind meist betont zu lesen. Versucht z. B. mal "Klee", "Boot", "Ruhm" oder "Saat" so in eine Gedichtzeile zu packen, dass die Wörter unbetont sind... wird nicht so recht hinhauen.
Entsprechend können wir für das "bloß" mit dem schönen langen o-Laut mal ausprobieren, ob sich das nicht schön betont sprechen lässt, was dann (zur Vermeidung eines Spondeus) wiederum zu einem unbetonten "ist" führen würde:

X x 0 xX x Xx

Vergleichsweise könnt Ihr ja die Zeile auch mal mit spondeischem Einstieg sprechen, also mit einem betonten "bloß" plus nachfolgend betontem "ist". Völlig unmöglich ist das nicht, aber es hätte eine Bedeutungsimplikation: Wenn das "ist" betont wird "bloß ist (!) das Salär 'ne Bürde" deutet das an, dass womöglich jemand etwas anderes behauptet hat, also in der Art: "Du behauptest ja, der niedrige Lohn spielte gar keine Rolle, ich sage aber: das Salär ist (!) eine Bürde". Von einer derartigen Implikation ist aber in dem Vierzeiler nicht die Rede und insofern ergibt ein betontes "ist" hier wirklich keinen rechten Sinn.

Jetzt bleibt nur noch das "das" vor "Salär" übrig. Ähnlich wie das "ist" besitzt auch "das" eine gewisse Joker-Funktion. Man kann sich Beispielsätze ausdenken, in denen das "das" betont zu sprechen ist und solche, in denen es sich ganz unbetont unterordnet. Ein unbetontes "das" würde aber, wenn wir uns jetzt schon entschieden haben, das "ist" nicht zu betonen, dazu führen, dass wir drei unbetonte Silben hinter einander hätten: X x x xX x Xx. Ähnlich wie zwei betonte Silben hinter einander im Deutschen schwierig sind, so stellen auch drei unbetonte Silben hinter einander die deutsche Zunge vor Probleme. Eine Silbe, die von zwei unbetonten Silben eingerahmt wird, ist also (bis zum Beweis des Gegenteils) betont zu sprechen.

Und damit haben wirs geschafft:

X x X xX x Xx (nach Wörtern aufgeteilt) bzw.

Xx Xx Xx Xx (nach Versfüßen aufgeteilt).

Demzufolge haben wir auch in dieser Zeile einen Trochäus und dieser ist jetzt alles andere als klappernd, im Gegenteil, der hält sich so recht an keine Wortgrenze, sondern hüpft geradezu über die Wörter hinweg.

Und weil dieses Kapitel jetzt schon Überlänge hat, überlasse ich die letzte Zeile von Text (13) besonders eifrigen Leser*innen als Hausaufgabe.
Alle anderen, die jetzt erst mal genug haben, schnaufen einfach durch und freuen sich auf den Jambus im nächsten Kapitel. ;) Da werde ich insbesondere nochmal auf die Eselsbrücke eingehen, dass einsilbige Wörter mit langem Vokal die Tendenz haben, betont gesprochen zu werden. Leider, leider, gibt es da gewisse Ausnahmen... naja.. wir werden sehen...

(Fortsetzung folgt)
 



 
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