Kleine Versfußlehre für deutschsprachige Lyrik
0. Warnende Vorbemerkung
Man kann die Lehre von Versfüßen knapp halten. Ein paar kurze Aussagesätze und die Sache ist gegessen. Das passiert hier nicht, weil dergleichen Telegrammerklärungen zuhauf im Netz zu finden sind. Ergo gibts im Folgenden eine Langversion...und zwar seeeehr lang... über mehrere Kapitel. Also: Wer nicht gerne viel liest, lasse es an dem Punkt bewenden und bemühe google oder ChatGPT. Lohnt sich definitiv auch.
1. Die metrisch gebundene Sprache
Wenn bei der Analyse eines Gedichts die kunstvolle Abfolge weiblicher und männlicher Kadenzen gelobt oder aber ein Senkungsprall in Zeile X moniert wird, wenn ein(e) Schlaumeier*in eine fehlende Hebung in Zeile Y beanstandet oder den kunstvoll komponierten Amphibrachys reverenziert, dann bewegen wir uns im Thema des Metrums oder Versmaßes eines Gedichts und aufgrund der vielen Fachbegriffe ist das ein Sujet, das den Anfänger etwas einschüchtern kann. Zumal die ganzen Termini Technici je nach Kontext u. U. unterschiedliche Bedeutungen haben können oder sich deren Definition selbst unter Expert*innen teilweise unterscheidet.
Ziel dieses Erklärbärtextes ist es daher, hier nochmal ein paar Begriffe zu erläutern und zu veranschaulichen. Denn: Eigentlich ist das alles gar nicht sooo kompliziert, wie es kingt...
Was ist also mit einem "Metrum" in einem Gedicht gemeint? Und hat jedes (gut "gemachte") Gedicht ein definierbares Metrum? Zur letzten Frage schonmal gleich vorab: Natürlich nicht!
Indem wir von Versmaß oder von Versfüßen (was ist das?) reden, bewegen wir uns im Bereich der sogenannten gebundenen Sprache, womit typischerweise eine besondere Art des Schreibens von Gedichten gemeint ist... aber es gibt das Phänomen gebundener Sprache auch in literarischen Texten außerhalb der Lyrik (z. B. in manchen Dramen oder in Vers-Epen) und sogar außerhalb der Literatur (z. B. bei Merksprüchen, Parolen oder Werbetexten).
Und was meint das jetzt - gebundene Sprache? Einfach gesagt, bezeichnet dieser Begriff jedes Schreiben, bei welchem dem Text eine starke formale Struktur übergestülpt wird. Dabei kann unter "Struktur" alles mögliche verstanden werden, irgendeine närrische Regel jedenfalls, die bei der Abfassung des Textes streng befolgt wird, z. B. eine Dichtung bei der in jedem Satz die Vokale immer in alphabetischer Reihenfolge benutzt werden müssen (sogenannte Magermilchjoghurt-Dichtung). Oder ein literarischer Text, bei dem bestimmte Buchstaben nicht benutzt werden dürfen (das nennt man ein Leipogramm). Oder ein Text, der vorwärts und rückwärts gelesen identisch ist (Palindrom).
Oder eben eine Regel, bei der ein ganz bestimmter Rhythmus durchgehalten werden muss: Das Letztere ist die sogenannte metrisch gebundene Sprache. Und im Vergleich zu den davor genannten, ziemlich vertrackten Beispielen einer (nicht metrisch) gebundenen Sprache hat die metrisch gebundene Sprache zwei Vorteile: Erstens ist sie relativ einfach zu bewerkstelligen (Erfolgserlebnis!) und zweitens erzeugt sie unweigerlich eine gewisse Sanglichkeit, nähert einen Text also der Musik an.
So führt dann jetzt eine Frage zur nächsten, z. B. zu der: Was ist mit Rhythmus bei metrisch gebundener Sprache gemeint?
Tatsächlich unterscheidet sich das von Sprache zu Sprache - aber in der deutschen Sprache geht es hier um die regelmäßige Abfolge von Silben-Betonungen in einem Text. Zur Beschreibung dieser Abfolge von Betonungen geistern dann die Bezeichnungen Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Amphibrachys, Kretikus, Spondeus und wie sie nicht alle heißen durch die Runde, wobei vor allem die ersten fünf genannten von besonderer Bedeutung sind - dazu dann im nächsten Kapitel mehr.
Denn bevor wir uns hier hineinstürzen erstmal ein Blick auf die Silben-Betonung in normaler Alltagsrede.
In unserer Alltagssprache betonen wir ja auch einzelne Wörter oder Silben durch eine Vielzahl von "Hilfsmitteln", zum Beispiel, indem wir die Wörter, auf die es uns gerade ankommt, etwas lauter oder gedehnter sprechen oder indem wir sie durch untermalende Gesten und Gesichtsausdrücke der Aufmerksamkeit des Gegenübers anheimstellen. Und je nachdem auf welches Wörtchen in einem Satz es uns gerade ankommt, betonen wir im Deutschen recht flexibel und Kontext-abhängig mal das eine, mal das andere Wort bzw. die eine oder andere Silbe.
Nehmen wir den Satz: "Soso... das sagst Du mir jetzt?!".
Vielleicht wollen wir das "Du" besonders hervorheben, weil der Gegenüber womöglich nicht gerade in der Position ist, uns ungefragt seine Weisheit überzuhelfen (hoffentlich geht es dem Schreiber dieser Zeilen nicht gerade so!) Und vielleicht wollen wir auch noch das "das" unterstreichen, weil die Mitteilung besonders daneben ist:
Soso... DAAAAS sagst DUUUU mir jetzt?!"
Vielleicht wollen wir aber auch das "jetzt" betonen, weil die Mitteilung zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt erfolgt:
Soso... das sagst Du mir JETZT?!"
Die nicht hervorgehobenen Silben werden in diesem Beispiel in normaler Rede wahrscheinlich alle ziemlich ähnlich "stark" betont, zumindest fallen sie gegenüber den besonders stark exponierten Wörtern nicht besonders ins Gewicht. Und offensichtlich folgt die Abfolge der Betonungen hier auch keiner sonderlichen Regelhaftigkeit, sondern ist fast ausschließlich dem kommunizierten Inhalt geschuldet. Wir sind also relativ frei, wie wir hier Silben oder Wörter betonen oder nicht betonen wollen und deshalb redet man hier von "ungebundener Sprache".
Wobei man einschränkend sagen muss: Völlig frei ist man auch in metrisch ungebundener Sprache nicht beim Betonen, denn für jedes mehrsilbige Wort gibt es ja eine Standardaussprache, bei der festgelegt ist, welche Silber stärker und welche schwächer betont werden soll. Beim Wort "Weinflasche" ist es etwa Usus, dass das "Wein-" etwas stärker betont wird als das "-flasch-" und dieses wiederum, wenn man genau hinhört, tönt noch ein bisschen stärker als das abschließende "-e", das so schwach rüberkommt, dass es in manchen Dialekten gleich ganz untern Tisch fällt.
Trotz dieser Betonungsvorgaben, gibt es aber, wie oben ja schon angedeutet, in der nicht gebundenen Sprache Freiheiten. Stellen wir uns vor, wir sind in einer Weinhandlung und suchen ein Präsent für Onkel Herbert. Der Verkäufer hält uns also eine Flasche vor die Nase ("Ein besonders edler Tropfen!") und nach einem Blick auf das Preisschild rufen wir: "OMG! Ich wollte doch nur eine Wein-FLASCHE kaufen und keinen ganzen Wein-BERG!". Wie durch die Großbuchstaben signalisiert, dürfte bei diesem metrisch nicht gebundenen Ausruf das Wort FLASCHE (genauer gesagt dessen erste Silbe -FLASCH- ziemlich vehement entäußert worden sein, so dass seine Betonung mit dem vorangestellten Wein- mindestens auf Augenhöhe unterwegs war. Solche Laxheiten der Betonung sind in metrisch gebundener Sprache erstmal nicht so vorgesehen, was sie zu einer Kunst-Sprache (durchaus auch im Sinne von: künstlich) macht.
Und kommt es beim metrisch gebundenen Schreiben zu Verstößen gegen die "Rhythmus-Regeln", dann sind dann entweder Kunstfehler oder aber... gerade künstlerisch besonders wertvolle Abweichungen, je nachdem, ob der Autor bei dem Verstoß etwas Kluges im Sinn hatte oder nicht.
(Fortsetzung folgt)
0. Warnende Vorbemerkung
Man kann die Lehre von Versfüßen knapp halten. Ein paar kurze Aussagesätze und die Sache ist gegessen. Das passiert hier nicht, weil dergleichen Telegrammerklärungen zuhauf im Netz zu finden sind. Ergo gibts im Folgenden eine Langversion...und zwar seeeehr lang... über mehrere Kapitel. Also: Wer nicht gerne viel liest, lasse es an dem Punkt bewenden und bemühe google oder ChatGPT. Lohnt sich definitiv auch.
1. Die metrisch gebundene Sprache
Wenn bei der Analyse eines Gedichts die kunstvolle Abfolge weiblicher und männlicher Kadenzen gelobt oder aber ein Senkungsprall in Zeile X moniert wird, wenn ein(e) Schlaumeier*in eine fehlende Hebung in Zeile Y beanstandet oder den kunstvoll komponierten Amphibrachys reverenziert, dann bewegen wir uns im Thema des Metrums oder Versmaßes eines Gedichts und aufgrund der vielen Fachbegriffe ist das ein Sujet, das den Anfänger etwas einschüchtern kann. Zumal die ganzen Termini Technici je nach Kontext u. U. unterschiedliche Bedeutungen haben können oder sich deren Definition selbst unter Expert*innen teilweise unterscheidet.
Ziel dieses Erklärbärtextes ist es daher, hier nochmal ein paar Begriffe zu erläutern und zu veranschaulichen. Denn: Eigentlich ist das alles gar nicht sooo kompliziert, wie es kingt...
Was ist also mit einem "Metrum" in einem Gedicht gemeint? Und hat jedes (gut "gemachte") Gedicht ein definierbares Metrum? Zur letzten Frage schonmal gleich vorab: Natürlich nicht!
Indem wir von Versmaß oder von Versfüßen (was ist das?) reden, bewegen wir uns im Bereich der sogenannten gebundenen Sprache, womit typischerweise eine besondere Art des Schreibens von Gedichten gemeint ist... aber es gibt das Phänomen gebundener Sprache auch in literarischen Texten außerhalb der Lyrik (z. B. in manchen Dramen oder in Vers-Epen) und sogar außerhalb der Literatur (z. B. bei Merksprüchen, Parolen oder Werbetexten).
Und was meint das jetzt - gebundene Sprache? Einfach gesagt, bezeichnet dieser Begriff jedes Schreiben, bei welchem dem Text eine starke formale Struktur übergestülpt wird. Dabei kann unter "Struktur" alles mögliche verstanden werden, irgendeine närrische Regel jedenfalls, die bei der Abfassung des Textes streng befolgt wird, z. B. eine Dichtung bei der in jedem Satz die Vokale immer in alphabetischer Reihenfolge benutzt werden müssen (sogenannte Magermilchjoghurt-Dichtung). Oder ein literarischer Text, bei dem bestimmte Buchstaben nicht benutzt werden dürfen (das nennt man ein Leipogramm). Oder ein Text, der vorwärts und rückwärts gelesen identisch ist (Palindrom).
Oder eben eine Regel, bei der ein ganz bestimmter Rhythmus durchgehalten werden muss: Das Letztere ist die sogenannte metrisch gebundene Sprache. Und im Vergleich zu den davor genannten, ziemlich vertrackten Beispielen einer (nicht metrisch) gebundenen Sprache hat die metrisch gebundene Sprache zwei Vorteile: Erstens ist sie relativ einfach zu bewerkstelligen (Erfolgserlebnis!) und zweitens erzeugt sie unweigerlich eine gewisse Sanglichkeit, nähert einen Text also der Musik an.
So führt dann jetzt eine Frage zur nächsten, z. B. zu der: Was ist mit Rhythmus bei metrisch gebundener Sprache gemeint?
Tatsächlich unterscheidet sich das von Sprache zu Sprache - aber in der deutschen Sprache geht es hier um die regelmäßige Abfolge von Silben-Betonungen in einem Text. Zur Beschreibung dieser Abfolge von Betonungen geistern dann die Bezeichnungen Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Amphibrachys, Kretikus, Spondeus und wie sie nicht alle heißen durch die Runde, wobei vor allem die ersten fünf genannten von besonderer Bedeutung sind - dazu dann im nächsten Kapitel mehr.
Denn bevor wir uns hier hineinstürzen erstmal ein Blick auf die Silben-Betonung in normaler Alltagsrede.
In unserer Alltagssprache betonen wir ja auch einzelne Wörter oder Silben durch eine Vielzahl von "Hilfsmitteln", zum Beispiel, indem wir die Wörter, auf die es uns gerade ankommt, etwas lauter oder gedehnter sprechen oder indem wir sie durch untermalende Gesten und Gesichtsausdrücke der Aufmerksamkeit des Gegenübers anheimstellen. Und je nachdem auf welches Wörtchen in einem Satz es uns gerade ankommt, betonen wir im Deutschen recht flexibel und Kontext-abhängig mal das eine, mal das andere Wort bzw. die eine oder andere Silbe.
Nehmen wir den Satz: "Soso... das sagst Du mir jetzt?!".
Vielleicht wollen wir das "Du" besonders hervorheben, weil der Gegenüber womöglich nicht gerade in der Position ist, uns ungefragt seine Weisheit überzuhelfen (hoffentlich geht es dem Schreiber dieser Zeilen nicht gerade so!) Und vielleicht wollen wir auch noch das "das" unterstreichen, weil die Mitteilung besonders daneben ist:
Soso... DAAAAS sagst DUUUU mir jetzt?!"
Vielleicht wollen wir aber auch das "jetzt" betonen, weil die Mitteilung zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt erfolgt:
Soso... das sagst Du mir JETZT?!"
Die nicht hervorgehobenen Silben werden in diesem Beispiel in normaler Rede wahrscheinlich alle ziemlich ähnlich "stark" betont, zumindest fallen sie gegenüber den besonders stark exponierten Wörtern nicht besonders ins Gewicht. Und offensichtlich folgt die Abfolge der Betonungen hier auch keiner sonderlichen Regelhaftigkeit, sondern ist fast ausschließlich dem kommunizierten Inhalt geschuldet. Wir sind also relativ frei, wie wir hier Silben oder Wörter betonen oder nicht betonen wollen und deshalb redet man hier von "ungebundener Sprache".
Wobei man einschränkend sagen muss: Völlig frei ist man auch in metrisch ungebundener Sprache nicht beim Betonen, denn für jedes mehrsilbige Wort gibt es ja eine Standardaussprache, bei der festgelegt ist, welche Silber stärker und welche schwächer betont werden soll. Beim Wort "Weinflasche" ist es etwa Usus, dass das "Wein-" etwas stärker betont wird als das "-flasch-" und dieses wiederum, wenn man genau hinhört, tönt noch ein bisschen stärker als das abschließende "-e", das so schwach rüberkommt, dass es in manchen Dialekten gleich ganz untern Tisch fällt.
Trotz dieser Betonungsvorgaben, gibt es aber, wie oben ja schon angedeutet, in der nicht gebundenen Sprache Freiheiten. Stellen wir uns vor, wir sind in einer Weinhandlung und suchen ein Präsent für Onkel Herbert. Der Verkäufer hält uns also eine Flasche vor die Nase ("Ein besonders edler Tropfen!") und nach einem Blick auf das Preisschild rufen wir: "OMG! Ich wollte doch nur eine Wein-FLASCHE kaufen und keinen ganzen Wein-BERG!". Wie durch die Großbuchstaben signalisiert, dürfte bei diesem metrisch nicht gebundenen Ausruf das Wort FLASCHE (genauer gesagt dessen erste Silbe -FLASCH- ziemlich vehement entäußert worden sein, so dass seine Betonung mit dem vorangestellten Wein- mindestens auf Augenhöhe unterwegs war. Solche Laxheiten der Betonung sind in metrisch gebundener Sprache erstmal nicht so vorgesehen, was sie zu einer Kunst-Sprache (durchaus auch im Sinne von: künstlich) macht.
Und kommt es beim metrisch gebundenen Schreiben zu Verstößen gegen die "Rhythmus-Regeln", dann sind dann entweder Kunstfehler oder aber... gerade künstlerisch besonders wertvolle Abweichungen, je nachdem, ob der Autor bei dem Verstoß etwas Kluges im Sinn hatte oder nicht.
(Fortsetzung folgt)