KLAPPENTEXT UND EXPOSEE von KLIRR - Ein Kind
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1
Zu Vinzent Sabotniks ersten Erinnerungen gehört die kleine Holzbaracke, in der er mit den Seinigen wohnte. Sie war ein Überbleibsel des gegen Ende des Zweiten Weltkrieges errichteten Porsche Konstruktions- und Versuchsgeländes in Karnerau, etwas außerhalb des mittelalterlichen Städtchens Gmünd in Kärnten.
Ferdinand Porsche verlegte seine Wirkungsstätte dorthin, um dem Bombenhagel auf Deutschland zu entgehen. Sein Sohn verlieh dort, in den Baracken der Karnerau, zum ersten Mal einem von ihm konstruierten Wagen den Familiennamen. Die Porsches gingen wieder nach Deutschland, um dem Bombardement von Unfreundlichkeiten zu entfliehen, die gewisse Österreicher nach dem Krieg auf sie niederregnen ließen und Gmünd versank wieder in seinen Dornröschenschlaf.
Vinz' dreijähriger Geist, als er sich in diesen Baracken seiner selbst bewusst wurde, es war jetzt 1970 und viele der Baracken waren bereits abgerissen worden, war leer und gut. Wie Milliarden Geister vor ihm war er auf einer kleinen blauen Kugel in den unendlichen Weiten des Kosmos gelandet, oder gestrandet, wie mans nimmt, jedenfalls ohne sein Zutun.
Da waren Schemen, Menschen, die unerfindlichen Tätigkeiten nachgingen. Mutter, Großmutter und ein erwachsener Onkel, Heinzi, der Röhrenradios reparierte und auf einem Bein hinkte. Die Mutter war kaum da, Großmutter war nett zu Vinz und der Onkel ließ ihn nicht an seine Radios. Die gänzliche Abwesenheit einer Figur namens Vater fiel Vinz weder auf, noch ging sie ihm ab.
Ein kleines Etwas lag eines Tages im Gitterbett. Es schien völlig in Windeln eingewickelt zu sein, schrie halbe Tage und wenn die Mutter zuhause war, tat sie lieb mit ihm, hob es hoch und verschwand damit in anderen Räumen. Es handelte sich dabei um Vinz' Halbbruder Eddy. Auch dessen Vater blieb unsichtbar ...
Vinz erste eigenmächtige Ausflüge führten ihn zu einem dreckigen Rinnsal, das im Straßengraben zwischen der Baracke und der Maltatalstraße träge dahinfloss. Rostige Dosen lagen da und seltsame, filigrane Tierchen liefen auf dem Wasser – wie Jesus. Man holte ihn mehrmals von diesem Wunder weg, in der nicht unberechtigten Angst, er könnte im Rinnsal ersaufen. Wäre er ersoffen, er hätte, nach einem großen Dichter, »nicht viel verloren«. Nun, er ersoff nicht und hatte die zweifelhafte Ehre in der ihn umgebenden menschlichen Komödie ein Weilchen mitzuwirken. Vorerst in der Kategorie Zwerge und Gnome.
Ein dunkler Holzzaun lief um die Porsche-Baracke und den zugehörigen, kleinen Garten. Er markierte das Ende von Vinz' damaliger Freiheit. Oft lief er an der Innenseite des Zaunes entlang wie ein Tier in seinem Käfig. Das Gatter war immer verschlossen. Nebenan saß halbe Tage ein alter Mann vor seinem Haus. Es war der Großvater einer Bekannten der Mutter, Lisi. Vinz nannte ihn »Lisi-Vater«.
»Lisi-Vater, Lisi-Vater, lass mich hinaus, lass mich hinaus!«, rief er, denn der Garten und das Rinnsal waren längst erforscht. Vinz wollte mehr sehen. Dort draußen wartete die große, weite Welt! Der alte Mann kam an den Zaun und strich ihm über den Kopf.
»Du bist ein quirliger, kleiner Mensch«, sagte er, »doch ich kann dich nicht hinauslassen. Der Schwarze Mann holt dich sonst.«
»Der Schwarze Mann?«
Der Alte nickte mit dem Kopf: »Ja, der Schwarze Mann.«
Einmal, als Großmutter und Lisi-Vater vor der Baracke Kaffee tranken, ballte der Alte heimlich die knotige Faust und streckte sie ihm hin.
»Vinzi, ich habe da etwas.«
Er wollte den Knirps neugierig machen, doch der hatte seine Finte durchschaut. Vinz reckte ihm das Fäustchen hin und sagte: »Ich auch.«
Großmutter und Lisi-Vater lachten.
»Ein witziger Bub, ein witziger Bub«, meinte der Alte und schüttelte den Kopf.
Es gab Lücken zu füllen – damals schon. Wenn die Mutter arbeiten, Großmutter im Garten beschäftigt war und Onkel Heinzi mit Schraubenzieher und Lötkolben über seinen zerlegten Radios brütete, musste sich Vinz mit sich selber unterhalten.
Früh schon reizte ihn das Verbotene. Der Straßengraben war tabu. Doch der war eh nicht mehr interessant. In die Hose machen war neuerdings tabu geworden, denn Vinz zählte bereits drei Lenze. Also frisch, in die Hose gemacht. Vinz versteckte sich hinter der Baracke, zwischen Brennesselstauden unter dem alten Holunderstrauch und machte in seine kurzen Hosen. Das Drücken war ein Hochgenuss! Und wie prächtig das stank! Ein warmes Rinnsal von Lulu rieselte ihm das Kinderbein hinab. Großmutter war sein plötzliches Stillsein verdächtig vorgekommen. Sie kam, sah und roch!
»Schon wieder! So ein großer Bub!«, rief sie. »Wirst du es wohl lassen? A-a und Pipi machst du ins Topferl! Wenn du es noch einmal in die Hose machst, kommt der FLIEGER.«
Vinz erstarrte. Vor einigen Tagen war er zuinnerst erschrocken, als ein Düsenjet, es muss eine Saab-Tonne gewesen sein, im Tiefflug über das Tal gedonnert war. Vinz hatte geglaubt, seine kleine Welt stürze ein. Ihm mit dem Flieger zu drohen war also pädagogisch nicht ungeschickt. Ängstlich sah er in den Sommerhimmel. »Der Pippieger, wo?« Großmutter lachte über die Wortprägung, setzte aber sofort wieder eine amtliche Miene auf und meinte: »Das heißt Flieger. Und das nächste Mal, wenn du in die Hosen machst, kommt er.«
Bald darauf hatte er die Prophezeiung vergessen und stand drückend beim Holunderbusch. Wie prächtig es wieder stank! In der nächsten Sekunde fiel ihm der Flieger ein. Vinz zuckte zusammen und lief schreiend in die Baracke: »Oma, Oma, es kommt der Pippieger, es kommt der Pippieger!«
»Wo? Ich höre nichts«, sagte die Großmutter, im Teigkneten innehaltend, »aber ich rieche was!« Es gab ein Donnerwetter, und er verzichtete für alle Zeiten auf den Genuss in die Hosen zu äpfeln.
In einer dieser großen Lücken, wo es nur ihn und die große herrliche Sommerwelt gab, erforschte er Großmutters Blumenbeete. Es war belegt mit lauter Tabus! Vinz durfte nicht in die Beete steigen, nicht hineinpinkeln, er durfte die Blumen nicht ausreißen und das Gemüse nicht essen, besonders, wenn es noch nicht reif war. Aber wie war es damit, wenn er einfach die Köpfe einiger Blume abriss?! Vinz riss einige ab und steckte sie sich in die Hosentasche. Großmutter erkannte in ihm rasch den Scharfrichter ihrer geköpften Lieblinge und er musste auch auf diesen Spaß verzichten.
Eines dunklen Regentages spielte er im Zimmer, in dem Eddy in seinem Gitterbett lag, Ball. Vinz knallte das Gummiding immerzu gegen die Wand und Eddy gab strampelnd und glucksend das Publikum ab. Eine Vase ging zu Bruch, Großmutter stand in der Tür und er deutete auf Eddy.
»Er wars.«
Eine Unterstellung, die bei Großmutter halb besorgtes, halb erstauntes Kopfschütteln hervorrief.
»Also, dieser Bub.«
Ein zweiter Onkel, August, kam per Wagen zu Besuch. Er preschte angeberisch in die offene Garteneinfahrt und machte Vinz' ganzen Stolz, ein knallrotes Tretauto, das er eben erst bekommen hatte, platt. Das Knirschen des Plastiks war entsetzlich, Vinz am Boden zerstört. Onkel Gustl tat betroffen, versprach ihm ein neues Tretauto und begab sich in die Baracke, um mit Onkel Heinzi ein Bier zu trinken. Danach stieg er wieder in sein Auto und fuhr weg. Vinz sah ihn erst vier Jahre später wieder – natürlich ohne Tretauto im Gepäck. Die Mutter schien ihren Bruder, Onkel Gustl, nicht leiden zu können. Sie schimpfte manchmal über ihn, und bezeichnete ihn als Sandler und Falschen Fünfziger. Vinz verstand diese Ausdrücke nicht, doch wenn er an sein Tretauto dachte, glaubte er ungefähr zu verstehen, was sie meinte.
2
Alles in allem entwickelte sich die Dinge für Vinz gut. Vor allem, da Eddy bereits krabbeln konnte, im Garten auf seinem Hosenboden sitzen und die Babysprache beherrschte. Vinz hatte seinen ersten Spielkameraden!
Um Vinz' dritten Geburtstag saß Eddy in seinem blauen Lodenjäckchen an einen Apfelbaum gelehnt im Garten. Vinz hüpfte vor ihm auf und ab und gab komische Laute von sich, um den Winzling zum Lachen zu bringen. Vinz mochte das kleine Wesen, das ihm zu Beginn ein wenig unheimlich und als Bedrohung vorgekommen war, mehr und mehr.
Manchmal war auch Mutters Freundin Lisi in Großmutters Garten. Sie hatte ihrerseits einen Kleinen und da ging es munter zu auf der abgezirkelten Garten-Fläche, die Vinz einmal als Gefängnis und dann wieder als Paradies empfand. Es wurden in diesem Sommer Badeausflüge an die nahe vorbeifließende Malta gemacht. Die Hitze, das schillernde Grün der Laubbäume, das Rauschen des Wassers, die hellen, abgeschliffenen Ufersteine: das alles beeindruckte Vinz wie ein großes Wesen, das in tausend Zungen zu ihm sprach. Menschen, Bäume, Steine und Wasser waren eins und kein Wölkchen trübte seinen Kinderhimmel. Eine lange, abenteuerliche Entdeckungsreise schien vor Vinz zu liegen.
Doch jeder Mensch ist ein Adam und wird aus dem Paradies seiner Gefühle vertrieben, heißt es, und Vinz musste eine solche Vertreibung in seinem vierten Lebensjahr erleiden. Es traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, es streckte ihn nieder und vernichtete ihn. Es machte aus einem allmächtigen, glücksbesoffenen Zwerg über Nacht einen hässlichen, wertlosen Gnom – so fühlte sich Vinz jedenfalls, denn er hatte keinen Verstand das zu verstehen, was ihm widerfuhr und seine Seele war zu neu, um zu verkraften, was ihr zugemutet wurde.
Eines regnerischen Herbsttages nämlich betrat die Mutter das Kinderzimmer, in dem er mit Eddy spielte. Vinz sah auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Das bleiche Gesicht unter Mutters schwarz gefärbtem Haarturm sah traurig und bedrückt aus. Allein durch diesen Anblick sank Vinz der Mut, da er ihre Stimmungen wie ein Schwamm aufsog. Sie setzte sich, nahm ihn auf den Schoß, und die mystische Figur der Mutter öffnete die Lippen und aus dem Mund kamen beunruhigende, unglaubliche und zuletzt entsetzliche Worte!
»Vinzi, du musst eine Weile woanders hin.«
»Ja, und du kommst mit«, war die Antwort.
»Nein. Ich muss in die Stadt ziehen. Geld verdienen.«
»Warum?«
»Die Menschen müssen arbeiten.«
»Ich bleibe bei dir.«
»Das geht nicht.«
»Dann bleib ich bei Oma.«
»Nein. Oma zieht mit Onkel Heinzi nach Tirol. Ich ziehe mit Eddy in die Stadt, du kommst zu Tante Sophia.«
»Tante Sophia? Wer ist das? Warum?«
»Schau. Ich muss arbeiten. Eddy nehme ich mit mir, weil er kleiner ist als du. Du bist ja schon ein großer Bub ... «
Der Blitz hatte eingeschlagen. Seine Leben, eben noch in vollster Blüte, war plötzlich ein vom Blitz gestreifter rauchender Baumstumpf. Er sollte getrennt werden. Von Oma, dem Garten, dem Bach, der Mutter und Eddy! Für immer? Sicher! Für immer!
Vor seinen Augen tanzten schwarze Sterne. Die Frau, auf deren Schoß er saß, schien sich verwandelt zu haben, sie schien eine andere zu sein, ein Verhängnis. Zuerst wehrte er sich! Immer wieder fragte er: »Warum ich, warum nicht Eddy?« Es war wie die verzweifelte und sinnlose Frage eines Delinquenten, der bereits mit verbundenen Augen an der Wand steht: »Warum erschießt ihr mich? Warum nicht einen anderen?«
»Eddy ist der Kleinere. Ihn kann ich nicht weggeben!«, antwortete der Mensch auf dessen Schoß er saß. Alle tröstlich gemeinten Worte halfen nichts, in Vinz dröhnte und schwang nur das: du musst weg. Schließlich ließ die Mutter ihn mit Eddy allein. Vinz saß am Boden und kam sich wie ein Verbrecher vor. Und war er nicht einer? Ein kleiner Gnom, der Blumen köpfte, Vasen zerbrach, an einem verbotenen Rinnsal spielte und dafür Eddy die Schuld in die Kinderschuhe schob? Ja, es gab keinen Zweifel: er war ein Schwerverbrecher von vier Jahren! Hemmungslos begann er zu schluchzen. Als sich sein Tränenschleier lichtete, starrte er in das rotbackige Gesicht von Eddy.
Er stand in seinem Gitterbett, hielt sich an den Stäben fest und glotzte ihn an. Vinz fixierte seine runden, leeren Augen. In ihnen spiegelte sich – nichts. Wer zum Teufel war der kleine Kerl eigentlich?
3
Der erste Tag bei Tante Sophia im nahen Puchreit (die als Schwester der Großmutter eigentlich Vinz' Großtante war) schien sich ruhig zu entwickeln. Vinz starrte lange dem Taxi nach, das ihn gebracht hatte und mit der Mutter wieder zurückfuhr. Er hatte vorerst keine Augen für das große Haus, das frei an einem steilen Wiesenhang von schönen Wäldern umgeben dastand. Es wurde Abend in dem malerischen Seitental und Tante Sophia erklärte ihm, ihre beiden beinahe erwachsenen Töchter, Ilse und Erika, seien mit ihrem Vater, Onkel Adolf, fort, er würde die Familie morgen kennen lernen.
Tante Sophia war rund wie ein Fußball und hatte ein fröhliches Mondgesicht, aus dem eine hohe aber nicht unangenehme Stimme drang. Sie lachte viel und gerne. Sie setzte Vinz an den Tisch und sagte gutmütig: »Iss nur, Vinz.« Vinz aber brachte kaum etwas hinunter und sie verstand, warum.
Sie begleitete ihn in sein Zimmer. Es war das Gästezimmer im 1. Stock: groß, mit schweren Vorhängen und einem mächtigen Doppelbett. Da fiel Vinz wieder seine Vertreibung ein, sein unwürdiges Verbrechertum und sein Unwert. Verzweiflung würgte ihn und die Tränen purzelten. Die Tante setzte sich zu ihm ans Bett und tat alles, um ihn zu trösten. Lange und ruhig redete sie mit ihrer hohe Stimme auf ihn ein – ohne ungeduldig zu werden. Es klang wie das helle Glucksen eines Bächleins. Dann wischten Müdigkeit und Erschöpfung seinen Kummer fort und er fiel in einen todesähnlichen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde er zum Frühstück gerufen. Onkel Adolfs Gesicht kam kurz hinter der Morgenzeitung hervor. Es war wettergegerbt und voller Bartstoppeln. Bernsteinfarbene Augen musterten Vinz. Er grinste kurz und ein eiserner Eckzahn blitzte auf. Er roch nach Wald. Und da saßen die Zwillinge, die sich kein bisschen glichen. Sie waren etwa 15 Jahre alt. Der eine hatte ein rötliches Gesicht, war aschblond und blätterte heftig in einer Zeitung. Anstelle Vinz zu begrüßen, stieß sie eine Reihe von Lauten hervor, die er nicht verstand. Der andere war schwarzhaarig, hatte fröhliche Augen und einen breiten Mund mit vollen Lippen. Das waren Erika und Ilse. Diese holte ihn sofort auf ihren Schoß. Sie sagte ihm viele liebe Worte und kniff ihm in die Wange. Erika sprach nicht, gab aber stoßweise Laute von sich während sie in ihren Zeitschriften blätterte. Sie hatte einen ganzen Stapel davon. Manchmal starrte sie eine Seite minutenlang an. War sie wütend, blätterte sie heftiger und ihre Laute waren voller Unmut, ohne allerdings böse zu klingen.
»Sie hat das Reden nie gelernt«, sagte Ilse zu Vinz.
Nach dem Frühstück ging Ilse in die Schule und der Onkel in den Wald zur Arbeit. Draußen war es regnerisch. Tante Sophia machte sich am Holzherd zu schaffen und Vinz blieb mit Erika allein am Tisch. Er starrte auf den Stapel von Zeitschriften, den sie neben sich aufgebaut hatte und wollte sich eine nehmen, doch Erika wehrte unwillig ab.
»Spielt doch ein Runde Mensch ärgere dich nicht«, schlug die Tante vor. »Du kannst doch schon zählen?« Vinz nickte. Die Augen der Würfel und was sie bedeuteten, das war ihm vertraut.
»Erika spricht nicht, aber zählen kann sie«, bemerkte die Tante, als sie das Brettspiel auf den Tisch legte.
Das Spiel wurde ihm bald fad und als Erika bemerkte, dass Vinz nicht bei der Sache war und obendrein schwindelte, schimpfte sie laut in ihrer Sprache und ordnete die Figuren so, wie sie richtig zu stehen hatten.
Sehnsüchtig blickte Vinz durch das große Küchenfenster. Der Regen färbte die Steinplatten der Terrasse dunkel, das grün gestrichene Eisengeländer tropfte. Die steile Wiese im Hintergrund verschwand in Dunst und Nebel.
»Darf ich hinaus?«
»Wenn dir der Regen nichts ausmacht. Bleib aber in der Nähe des Hauses. Und steig nicht über den Zaun und geh mir nicht in die Wiese. Du kannst in den Stall, die Hasen füttern, wenn du willst. Aber lass mir die Sau in Ruhe. Die beißt!«
Vinz fuhr in die Klamotten und ging auf die Terrasse. Die tiefhängenden Regenwolken ließen ihn nur die nächste Umgebung sehen: unterhalb der Terrasse den Gemüsegarten, ein Stück der Zufahrtsstraße, rechts einen Wiesenstreifen und links das Haus selber, aus dessen Regenröhren es plätscherte. Er fühlte sich wie in einer Glocke aus Dunst. Aber wo war der Stall? Er ging nach rückwärts an einem steinernen Brunnentrog vorbei und fand ihn. Es war ein kleiner, ans Haus gebauter Privatstall. Einige Hennen protestierten, als er ihn betrat und ihm der Stallgeruch nicht unangenehm in die Nase stieg. Die Hasen schlugen in ihren Verschlägen halbe Saltos und hinter ihrem Gatter sah ihn die Sau feindselig an. Sie war riesig. Vinz ging zu den Hasen und steckte kleine Gräser durch den Maschendraht. Die Hasen schnupperten daran – und rupften sie heftig aus seiner Hand. Etwas später erschien die Tante.
»Das sind Flecki und Orli«, meinte sie und machte sich daran, die Sau zu füttern.
»Flecki, ist das der mit den ... «, begann Vinz.
»Flecken, ja«, lachte die Tante.
»Hat die Sau auch einen Namen?«
»Nein.«
Am Nachmittag wurde der Regen dichter und er spielte mit Erika am Küchentisch. Abends kamen Adolf und Ilse, die ihn auf den Schoß nahm und überhaupt tat, als sei Vinz ihr Kleiner. Vinz gefiel das. Er saß gerne auf ihrem Schoß. Etwas Sanftes strömte von ihr aus, so wie er es nur von der Großmutter kannte. Diesen Abend schlief er ohne Flennen ein.
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1
Zu Vinzent Sabotniks ersten Erinnerungen gehört die kleine Holzbaracke, in der er mit den Seinigen wohnte. Sie war ein Überbleibsel des gegen Ende des Zweiten Weltkrieges errichteten Porsche Konstruktions- und Versuchsgeländes in Karnerau, etwas außerhalb des mittelalterlichen Städtchens Gmünd in Kärnten.
Ferdinand Porsche verlegte seine Wirkungsstätte dorthin, um dem Bombenhagel auf Deutschland zu entgehen. Sein Sohn verlieh dort, in den Baracken der Karnerau, zum ersten Mal einem von ihm konstruierten Wagen den Familiennamen. Die Porsches gingen wieder nach Deutschland, um dem Bombardement von Unfreundlichkeiten zu entfliehen, die gewisse Österreicher nach dem Krieg auf sie niederregnen ließen und Gmünd versank wieder in seinen Dornröschenschlaf.
Vinz' dreijähriger Geist, als er sich in diesen Baracken seiner selbst bewusst wurde, es war jetzt 1970 und viele der Baracken waren bereits abgerissen worden, war leer und gut. Wie Milliarden Geister vor ihm war er auf einer kleinen blauen Kugel in den unendlichen Weiten des Kosmos gelandet, oder gestrandet, wie mans nimmt, jedenfalls ohne sein Zutun.
Da waren Schemen, Menschen, die unerfindlichen Tätigkeiten nachgingen. Mutter, Großmutter und ein erwachsener Onkel, Heinzi, der Röhrenradios reparierte und auf einem Bein hinkte. Die Mutter war kaum da, Großmutter war nett zu Vinz und der Onkel ließ ihn nicht an seine Radios. Die gänzliche Abwesenheit einer Figur namens Vater fiel Vinz weder auf, noch ging sie ihm ab.
Ein kleines Etwas lag eines Tages im Gitterbett. Es schien völlig in Windeln eingewickelt zu sein, schrie halbe Tage und wenn die Mutter zuhause war, tat sie lieb mit ihm, hob es hoch und verschwand damit in anderen Räumen. Es handelte sich dabei um Vinz' Halbbruder Eddy. Auch dessen Vater blieb unsichtbar ...
Vinz erste eigenmächtige Ausflüge führten ihn zu einem dreckigen Rinnsal, das im Straßengraben zwischen der Baracke und der Maltatalstraße träge dahinfloss. Rostige Dosen lagen da und seltsame, filigrane Tierchen liefen auf dem Wasser – wie Jesus. Man holte ihn mehrmals von diesem Wunder weg, in der nicht unberechtigten Angst, er könnte im Rinnsal ersaufen. Wäre er ersoffen, er hätte, nach einem großen Dichter, »nicht viel verloren«. Nun, er ersoff nicht und hatte die zweifelhafte Ehre in der ihn umgebenden menschlichen Komödie ein Weilchen mitzuwirken. Vorerst in der Kategorie Zwerge und Gnome.
Ein dunkler Holzzaun lief um die Porsche-Baracke und den zugehörigen, kleinen Garten. Er markierte das Ende von Vinz' damaliger Freiheit. Oft lief er an der Innenseite des Zaunes entlang wie ein Tier in seinem Käfig. Das Gatter war immer verschlossen. Nebenan saß halbe Tage ein alter Mann vor seinem Haus. Es war der Großvater einer Bekannten der Mutter, Lisi. Vinz nannte ihn »Lisi-Vater«.
»Lisi-Vater, Lisi-Vater, lass mich hinaus, lass mich hinaus!«, rief er, denn der Garten und das Rinnsal waren längst erforscht. Vinz wollte mehr sehen. Dort draußen wartete die große, weite Welt! Der alte Mann kam an den Zaun und strich ihm über den Kopf.
»Du bist ein quirliger, kleiner Mensch«, sagte er, »doch ich kann dich nicht hinauslassen. Der Schwarze Mann holt dich sonst.«
»Der Schwarze Mann?«
Der Alte nickte mit dem Kopf: »Ja, der Schwarze Mann.«
Einmal, als Großmutter und Lisi-Vater vor der Baracke Kaffee tranken, ballte der Alte heimlich die knotige Faust und streckte sie ihm hin.
»Vinzi, ich habe da etwas.«
Er wollte den Knirps neugierig machen, doch der hatte seine Finte durchschaut. Vinz reckte ihm das Fäustchen hin und sagte: »Ich auch.«
Großmutter und Lisi-Vater lachten.
»Ein witziger Bub, ein witziger Bub«, meinte der Alte und schüttelte den Kopf.
Es gab Lücken zu füllen – damals schon. Wenn die Mutter arbeiten, Großmutter im Garten beschäftigt war und Onkel Heinzi mit Schraubenzieher und Lötkolben über seinen zerlegten Radios brütete, musste sich Vinz mit sich selber unterhalten.
Früh schon reizte ihn das Verbotene. Der Straßengraben war tabu. Doch der war eh nicht mehr interessant. In die Hose machen war neuerdings tabu geworden, denn Vinz zählte bereits drei Lenze. Also frisch, in die Hose gemacht. Vinz versteckte sich hinter der Baracke, zwischen Brennesselstauden unter dem alten Holunderstrauch und machte in seine kurzen Hosen. Das Drücken war ein Hochgenuss! Und wie prächtig das stank! Ein warmes Rinnsal von Lulu rieselte ihm das Kinderbein hinab. Großmutter war sein plötzliches Stillsein verdächtig vorgekommen. Sie kam, sah und roch!
»Schon wieder! So ein großer Bub!«, rief sie. »Wirst du es wohl lassen? A-a und Pipi machst du ins Topferl! Wenn du es noch einmal in die Hose machst, kommt der FLIEGER.«
Vinz erstarrte. Vor einigen Tagen war er zuinnerst erschrocken, als ein Düsenjet, es muss eine Saab-Tonne gewesen sein, im Tiefflug über das Tal gedonnert war. Vinz hatte geglaubt, seine kleine Welt stürze ein. Ihm mit dem Flieger zu drohen war also pädagogisch nicht ungeschickt. Ängstlich sah er in den Sommerhimmel. »Der Pippieger, wo?« Großmutter lachte über die Wortprägung, setzte aber sofort wieder eine amtliche Miene auf und meinte: »Das heißt Flieger. Und das nächste Mal, wenn du in die Hosen machst, kommt er.«
Bald darauf hatte er die Prophezeiung vergessen und stand drückend beim Holunderbusch. Wie prächtig es wieder stank! In der nächsten Sekunde fiel ihm der Flieger ein. Vinz zuckte zusammen und lief schreiend in die Baracke: »Oma, Oma, es kommt der Pippieger, es kommt der Pippieger!«
»Wo? Ich höre nichts«, sagte die Großmutter, im Teigkneten innehaltend, »aber ich rieche was!« Es gab ein Donnerwetter, und er verzichtete für alle Zeiten auf den Genuss in die Hosen zu äpfeln.
In einer dieser großen Lücken, wo es nur ihn und die große herrliche Sommerwelt gab, erforschte er Großmutters Blumenbeete. Es war belegt mit lauter Tabus! Vinz durfte nicht in die Beete steigen, nicht hineinpinkeln, er durfte die Blumen nicht ausreißen und das Gemüse nicht essen, besonders, wenn es noch nicht reif war. Aber wie war es damit, wenn er einfach die Köpfe einiger Blume abriss?! Vinz riss einige ab und steckte sie sich in die Hosentasche. Großmutter erkannte in ihm rasch den Scharfrichter ihrer geköpften Lieblinge und er musste auch auf diesen Spaß verzichten.
Eines dunklen Regentages spielte er im Zimmer, in dem Eddy in seinem Gitterbett lag, Ball. Vinz knallte das Gummiding immerzu gegen die Wand und Eddy gab strampelnd und glucksend das Publikum ab. Eine Vase ging zu Bruch, Großmutter stand in der Tür und er deutete auf Eddy.
»Er wars.«
Eine Unterstellung, die bei Großmutter halb besorgtes, halb erstauntes Kopfschütteln hervorrief.
»Also, dieser Bub.«
Ein zweiter Onkel, August, kam per Wagen zu Besuch. Er preschte angeberisch in die offene Garteneinfahrt und machte Vinz' ganzen Stolz, ein knallrotes Tretauto, das er eben erst bekommen hatte, platt. Das Knirschen des Plastiks war entsetzlich, Vinz am Boden zerstört. Onkel Gustl tat betroffen, versprach ihm ein neues Tretauto und begab sich in die Baracke, um mit Onkel Heinzi ein Bier zu trinken. Danach stieg er wieder in sein Auto und fuhr weg. Vinz sah ihn erst vier Jahre später wieder – natürlich ohne Tretauto im Gepäck. Die Mutter schien ihren Bruder, Onkel Gustl, nicht leiden zu können. Sie schimpfte manchmal über ihn, und bezeichnete ihn als Sandler und Falschen Fünfziger. Vinz verstand diese Ausdrücke nicht, doch wenn er an sein Tretauto dachte, glaubte er ungefähr zu verstehen, was sie meinte.
2
Alles in allem entwickelte sich die Dinge für Vinz gut. Vor allem, da Eddy bereits krabbeln konnte, im Garten auf seinem Hosenboden sitzen und die Babysprache beherrschte. Vinz hatte seinen ersten Spielkameraden!
Um Vinz' dritten Geburtstag saß Eddy in seinem blauen Lodenjäckchen an einen Apfelbaum gelehnt im Garten. Vinz hüpfte vor ihm auf und ab und gab komische Laute von sich, um den Winzling zum Lachen zu bringen. Vinz mochte das kleine Wesen, das ihm zu Beginn ein wenig unheimlich und als Bedrohung vorgekommen war, mehr und mehr.
Manchmal war auch Mutters Freundin Lisi in Großmutters Garten. Sie hatte ihrerseits einen Kleinen und da ging es munter zu auf der abgezirkelten Garten-Fläche, die Vinz einmal als Gefängnis und dann wieder als Paradies empfand. Es wurden in diesem Sommer Badeausflüge an die nahe vorbeifließende Malta gemacht. Die Hitze, das schillernde Grün der Laubbäume, das Rauschen des Wassers, die hellen, abgeschliffenen Ufersteine: das alles beeindruckte Vinz wie ein großes Wesen, das in tausend Zungen zu ihm sprach. Menschen, Bäume, Steine und Wasser waren eins und kein Wölkchen trübte seinen Kinderhimmel. Eine lange, abenteuerliche Entdeckungsreise schien vor Vinz zu liegen.
Doch jeder Mensch ist ein Adam und wird aus dem Paradies seiner Gefühle vertrieben, heißt es, und Vinz musste eine solche Vertreibung in seinem vierten Lebensjahr erleiden. Es traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, es streckte ihn nieder und vernichtete ihn. Es machte aus einem allmächtigen, glücksbesoffenen Zwerg über Nacht einen hässlichen, wertlosen Gnom – so fühlte sich Vinz jedenfalls, denn er hatte keinen Verstand das zu verstehen, was ihm widerfuhr und seine Seele war zu neu, um zu verkraften, was ihr zugemutet wurde.
Eines regnerischen Herbsttages nämlich betrat die Mutter das Kinderzimmer, in dem er mit Eddy spielte. Vinz sah auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Das bleiche Gesicht unter Mutters schwarz gefärbtem Haarturm sah traurig und bedrückt aus. Allein durch diesen Anblick sank Vinz der Mut, da er ihre Stimmungen wie ein Schwamm aufsog. Sie setzte sich, nahm ihn auf den Schoß, und die mystische Figur der Mutter öffnete die Lippen und aus dem Mund kamen beunruhigende, unglaubliche und zuletzt entsetzliche Worte!
»Vinzi, du musst eine Weile woanders hin.«
»Ja, und du kommst mit«, war die Antwort.
»Nein. Ich muss in die Stadt ziehen. Geld verdienen.«
»Warum?«
»Die Menschen müssen arbeiten.«
»Ich bleibe bei dir.«
»Das geht nicht.«
»Dann bleib ich bei Oma.«
»Nein. Oma zieht mit Onkel Heinzi nach Tirol. Ich ziehe mit Eddy in die Stadt, du kommst zu Tante Sophia.«
»Tante Sophia? Wer ist das? Warum?«
»Schau. Ich muss arbeiten. Eddy nehme ich mit mir, weil er kleiner ist als du. Du bist ja schon ein großer Bub ... «
Der Blitz hatte eingeschlagen. Seine Leben, eben noch in vollster Blüte, war plötzlich ein vom Blitz gestreifter rauchender Baumstumpf. Er sollte getrennt werden. Von Oma, dem Garten, dem Bach, der Mutter und Eddy! Für immer? Sicher! Für immer!
Vor seinen Augen tanzten schwarze Sterne. Die Frau, auf deren Schoß er saß, schien sich verwandelt zu haben, sie schien eine andere zu sein, ein Verhängnis. Zuerst wehrte er sich! Immer wieder fragte er: »Warum ich, warum nicht Eddy?« Es war wie die verzweifelte und sinnlose Frage eines Delinquenten, der bereits mit verbundenen Augen an der Wand steht: »Warum erschießt ihr mich? Warum nicht einen anderen?«
»Eddy ist der Kleinere. Ihn kann ich nicht weggeben!«, antwortete der Mensch auf dessen Schoß er saß. Alle tröstlich gemeinten Worte halfen nichts, in Vinz dröhnte und schwang nur das: du musst weg. Schließlich ließ die Mutter ihn mit Eddy allein. Vinz saß am Boden und kam sich wie ein Verbrecher vor. Und war er nicht einer? Ein kleiner Gnom, der Blumen köpfte, Vasen zerbrach, an einem verbotenen Rinnsal spielte und dafür Eddy die Schuld in die Kinderschuhe schob? Ja, es gab keinen Zweifel: er war ein Schwerverbrecher von vier Jahren! Hemmungslos begann er zu schluchzen. Als sich sein Tränenschleier lichtete, starrte er in das rotbackige Gesicht von Eddy.
Er stand in seinem Gitterbett, hielt sich an den Stäben fest und glotzte ihn an. Vinz fixierte seine runden, leeren Augen. In ihnen spiegelte sich – nichts. Wer zum Teufel war der kleine Kerl eigentlich?
3
Der erste Tag bei Tante Sophia im nahen Puchreit (die als Schwester der Großmutter eigentlich Vinz' Großtante war) schien sich ruhig zu entwickeln. Vinz starrte lange dem Taxi nach, das ihn gebracht hatte und mit der Mutter wieder zurückfuhr. Er hatte vorerst keine Augen für das große Haus, das frei an einem steilen Wiesenhang von schönen Wäldern umgeben dastand. Es wurde Abend in dem malerischen Seitental und Tante Sophia erklärte ihm, ihre beiden beinahe erwachsenen Töchter, Ilse und Erika, seien mit ihrem Vater, Onkel Adolf, fort, er würde die Familie morgen kennen lernen.
Tante Sophia war rund wie ein Fußball und hatte ein fröhliches Mondgesicht, aus dem eine hohe aber nicht unangenehme Stimme drang. Sie lachte viel und gerne. Sie setzte Vinz an den Tisch und sagte gutmütig: »Iss nur, Vinz.« Vinz aber brachte kaum etwas hinunter und sie verstand, warum.
Sie begleitete ihn in sein Zimmer. Es war das Gästezimmer im 1. Stock: groß, mit schweren Vorhängen und einem mächtigen Doppelbett. Da fiel Vinz wieder seine Vertreibung ein, sein unwürdiges Verbrechertum und sein Unwert. Verzweiflung würgte ihn und die Tränen purzelten. Die Tante setzte sich zu ihm ans Bett und tat alles, um ihn zu trösten. Lange und ruhig redete sie mit ihrer hohe Stimme auf ihn ein – ohne ungeduldig zu werden. Es klang wie das helle Glucksen eines Bächleins. Dann wischten Müdigkeit und Erschöpfung seinen Kummer fort und er fiel in einen todesähnlichen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde er zum Frühstück gerufen. Onkel Adolfs Gesicht kam kurz hinter der Morgenzeitung hervor. Es war wettergegerbt und voller Bartstoppeln. Bernsteinfarbene Augen musterten Vinz. Er grinste kurz und ein eiserner Eckzahn blitzte auf. Er roch nach Wald. Und da saßen die Zwillinge, die sich kein bisschen glichen. Sie waren etwa 15 Jahre alt. Der eine hatte ein rötliches Gesicht, war aschblond und blätterte heftig in einer Zeitung. Anstelle Vinz zu begrüßen, stieß sie eine Reihe von Lauten hervor, die er nicht verstand. Der andere war schwarzhaarig, hatte fröhliche Augen und einen breiten Mund mit vollen Lippen. Das waren Erika und Ilse. Diese holte ihn sofort auf ihren Schoß. Sie sagte ihm viele liebe Worte und kniff ihm in die Wange. Erika sprach nicht, gab aber stoßweise Laute von sich während sie in ihren Zeitschriften blätterte. Sie hatte einen ganzen Stapel davon. Manchmal starrte sie eine Seite minutenlang an. War sie wütend, blätterte sie heftiger und ihre Laute waren voller Unmut, ohne allerdings böse zu klingen.
»Sie hat das Reden nie gelernt«, sagte Ilse zu Vinz.
Nach dem Frühstück ging Ilse in die Schule und der Onkel in den Wald zur Arbeit. Draußen war es regnerisch. Tante Sophia machte sich am Holzherd zu schaffen und Vinz blieb mit Erika allein am Tisch. Er starrte auf den Stapel von Zeitschriften, den sie neben sich aufgebaut hatte und wollte sich eine nehmen, doch Erika wehrte unwillig ab.
»Spielt doch ein Runde Mensch ärgere dich nicht«, schlug die Tante vor. »Du kannst doch schon zählen?« Vinz nickte. Die Augen der Würfel und was sie bedeuteten, das war ihm vertraut.
»Erika spricht nicht, aber zählen kann sie«, bemerkte die Tante, als sie das Brettspiel auf den Tisch legte.
Das Spiel wurde ihm bald fad und als Erika bemerkte, dass Vinz nicht bei der Sache war und obendrein schwindelte, schimpfte sie laut in ihrer Sprache und ordnete die Figuren so, wie sie richtig zu stehen hatten.
Sehnsüchtig blickte Vinz durch das große Küchenfenster. Der Regen färbte die Steinplatten der Terrasse dunkel, das grün gestrichene Eisengeländer tropfte. Die steile Wiese im Hintergrund verschwand in Dunst und Nebel.
»Darf ich hinaus?«
»Wenn dir der Regen nichts ausmacht. Bleib aber in der Nähe des Hauses. Und steig nicht über den Zaun und geh mir nicht in die Wiese. Du kannst in den Stall, die Hasen füttern, wenn du willst. Aber lass mir die Sau in Ruhe. Die beißt!«
Vinz fuhr in die Klamotten und ging auf die Terrasse. Die tiefhängenden Regenwolken ließen ihn nur die nächste Umgebung sehen: unterhalb der Terrasse den Gemüsegarten, ein Stück der Zufahrtsstraße, rechts einen Wiesenstreifen und links das Haus selber, aus dessen Regenröhren es plätscherte. Er fühlte sich wie in einer Glocke aus Dunst. Aber wo war der Stall? Er ging nach rückwärts an einem steinernen Brunnentrog vorbei und fand ihn. Es war ein kleiner, ans Haus gebauter Privatstall. Einige Hennen protestierten, als er ihn betrat und ihm der Stallgeruch nicht unangenehm in die Nase stieg. Die Hasen schlugen in ihren Verschlägen halbe Saltos und hinter ihrem Gatter sah ihn die Sau feindselig an. Sie war riesig. Vinz ging zu den Hasen und steckte kleine Gräser durch den Maschendraht. Die Hasen schnupperten daran – und rupften sie heftig aus seiner Hand. Etwas später erschien die Tante.
»Das sind Flecki und Orli«, meinte sie und machte sich daran, die Sau zu füttern.
»Flecki, ist das der mit den ... «, begann Vinz.
»Flecken, ja«, lachte die Tante.
»Hat die Sau auch einen Namen?«
»Nein.«
Am Nachmittag wurde der Regen dichter und er spielte mit Erika am Küchentisch. Abends kamen Adolf und Ilse, die ihn auf den Schoß nahm und überhaupt tat, als sei Vinz ihr Kleiner. Vinz gefiel das. Er saß gerne auf ihrem Schoß. Etwas Sanftes strömte von ihr aus, so wie er es nur von der Großmutter kannte. Diesen Abend schlief er ohne Flennen ein.