Lebensspuren

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Ord

Mitglied
Hallo Frank,

danke, dass Du Dir die Zeit genommen hast, Dich mit meinem Text zu beschäftigen.

Deine Beiträge unter "Theoretisches" auf der Leselupe halfen mir beim Schreiben der Geschichte und beim Entwickeln der Charaktere. Es hat Spaß gemacht, meinen beiden Figuren einen Hintergrund zu geben, dadurch wurden sie "lebendiger".

Danke für die "Krümelzählerei".
Du hast recht. Die neue Duden-Schreibweise lautet "wie viel".
Auch mit dem Zeilenwechsel hast Du recht. Der Protagonist sagt als Kosmetiker und Verkäufer den Satz mechanisch, er gehört einfach dazu.
Ich werde das noch ändern.
Die klare Struktur Deines Kommentars war übrigens ein gutes zusätzliches Hilfsmittel beim Schreiben meiner ersten Textanalyse.

Meiner Meinung nach verliert der Text durch den Wegfall des letzten Satzes. Hier wurde auf eine gewisse Nachhaltigkeit dieser Wandlung hingedeutet, die sich bis über den Dienstschluss hinaus ausdehnt. Ohne diesen Abschluss verliert die Wandlung an Bedeutung.
Mein Gefühl sagt mir ebenfalls, dass der Satz dazugehört.
Jedoch ist meine Unsicherheit als "blutiger Anfänger" noch groß. Wer bin ich, dass ich nicht auf einen Profi hören würde, der schon länger im Geschäft ist?

Andererseits hat eventuell erst der Wegfall des Satzes zu Deiner Überlegung geführt, dass der Protagonist seine Kunden durch das skizzieren der Gesichter nach einem speziellen Design (Vorbild?) gestalten könnte. Ein interessanter Gedanke!

Die Erklärung für das Skizzieren ist viel einfacher.
Durch das Erstellen des Hintergrundes für den Ich-Erzähler (Hobbymaler) hat sich der Satz beim Schreiben ergeben:

Hintergrund des Ich-Erzählers:
Kosmetiker
Den Grundstein für seine Berufswahl legte seine Mutter.
Sie achtete darauf, dass er sauber, gekämmt und ordentlich gekleidet das Haus verließ und dass seine Fingernägel keine Trauerränder hatten.
Während seiner Pubertät ermunterte sie ihn, seine wild wachsenden Augenbrauen mit der Pinzette zu bändigen, sich regelmäßig den aufkommenden Bartwuchs zu rasieren und die Haut mit Hilfe von Tonerde und Gesichtswasser zu reinigen. Pickel hatten so gut wie keine Chance. Er wurde deshalb sogar von Klassenkameraden darauf angesprochen und gab Tipps zur Hautpflege.
Der zweite Auslöser für die Wahl seiner späteren Ausbildung war der Kunstunterricht in der Schule. Nachdem ihm sein erstes Selbstporträt so gut gelungen war, dass es ausgestellt wurde und er einen Preis gewann, begann er, Gesichter zu zeichnen. Erst mit Bleistift oder Kohle, später kamen Aquarelle dazu.
Er entschied sich zu einer einjährigen Lehre zum Kosmetiker an einer Berufsfachschule (geregelte Ausbildung, anerkannter Beruf) und besserte nebenbei sein Taschengeld als Straßen-Porträtzeichner etwas auf.

Seit mehr als vier Jahren betreiben sein Kumpel aus der Berufsfachschule und er ein ein eigenes Kosmetikstudio. Es ist ihr Traumjob, obwohl für Privates wenig Zeit bleibt.
Sein Erfolgsrezept ist, dass er sich auf jede Kundin/jeden Kunden neu einstellt, zuhört und versucht, die Farben dem jeweiligen Typ anzupassen.
Die Beiden haben einen festen Kundenstamm und bewerben sich zusätzlich bei Drogeriemärkten oder Parfümerien der regionalen Einkaufszentren für Aktionswochen, um dort die Besucher vor Ort zu schminken und zu beraten.
Viele Grüße

Ord
 

FrankK

Mitglied
Hallo, Ord
Danke für die Rückmeldung.

Die neue Duden-Schreibweise lautet "wie viel".
Laut meinen Recherchen in den amtlichen Dokumentationen der Rechtschreibreformenen ist "wie viel" seit 1996 getrennt zu schreiben(konform zu "wie oft", "wie weit", "wie hoch" ...). Das hat sich nicht der Duden ausgedacht ... ;)
Von einer "kann"-Regelung ist dort nirgendwo etwas zu finden.

Auch mit dem Zeilenwechsel hast Du recht. Der Protagonist sagt als Kosmetiker und Verkäufer den Satz mechanisch, er gehört einfach dazu.
Ich werde das noch ändern.
Klar gehört der Verkaufssatz zum Kundengespräch - davon lebt er. Der Zeilenwechsel wirkt wie ein Wechsel von "irgendwas". Das passt da einfach nicht hin.
Als Erklärung nehme ich immer gerne das "Kopfkino": Die Kameraeinstellung bleibt gleich, da ändert sich nichts, während er spricht. Sollte die Kamera in der Ansicht (View) wechseln, gehört die wörtliche Rede normalerweise unterbrochen und benannt, weshalb die View wechselt. Beispielsweise um eine Reaktion des Gesprächspartners zu zeigen. Dies ist hier aber nicht nötig.

Ich habe den Text in seiner Ursprünglichen Version gelesen und für einen ausführlichen Kommentar mindestens drei Mal (nebenbei auch die im Laufe der Zeit auflaufenden Bemerkungen). Daher ist mir der Wegfall des Schlusssatzes besonders aufgefallen. Im Bezug auf "Die Wandlung" unterstützte der letzte Satz den Plot.


Die Erklärung für das Skizzieren ist viel einfacher.
Durch das Erstellen des Hintergrundes für den Ich-Erzähler (Hobbymaler) hat sich der Satz beim Schreiben ergeben
Dass er Hobbymaler ist - ist für die Geschichte nicht von Bedeutung.
Bedeutender ist in dem Zusammenhang:
Nun bitte ich sie, ihre Augen zu schließen.
Diesen Anblick lasse ich [blue]immer[/blue] kurz auf mich wirken und fertige [blue]im Kopf eine Skizze an[/blue].
So ergibt sich mit der "Maske" kurz vor Schluss noch eine Interpretationsmöglichkeit.


Jedoch ist meine Unsicherheit als "blutiger Anfänger" noch groß. Wer bin ich, dass ich nicht auf einen Profi hören würde, der schon länger im Geschäft ist?
1. Es ist Deine Geschichte.
2. Niemand darf Änderungen verlangen (es sei denn im Konflikt mit den LupenRegeln).
3. Du alleine entscheidest, welche Vorschläge in Dein Werk Einzug halten.


Herzliche, nächtliche Grüße
Frank
 

FrankK

Mitglied
Nachtrag
Deine Beiträge unter "Theoretisches" auf der Leselupe halfen mir beim Schreiben der Geschichte und beim Entwickeln der Charaktere.
Es freut mich zu erfahren, dass Dir meine Beiträge weitergeholfen haben. Dies spornt mich an, die theoretischen Grundlagen fortzusetzen. Der Motivationsfaktor ging im Moment eher gegen Null.

Ich freue mich schon, weitere Werke von Dir zu lesen.


Nächtliche Grüße
Frank
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo ord,

ich habe Deine Geschichte noch einmal gelesen und füge Anmerkungen in blau ein:


Es ist Samstag, kurz nach zehn. Träge erwacht das Leben im Einkaufszentrum.
Ich stehe vor der Parfümerie und rücke meine Krawatte zurecht. Über mir bietet das Werbeplakat eine kostenlose Schmink-Sitzung an und ich bin neugierig, wer sich wohl heute meinen Händen anvertrauen wird.
Eine junge Frau schlendert anscheinend [blue]Oder meinst du das Wort 'scheinbar'? Das würde bedeuten, dass sie sehr wohl ein Ziel hat. So lese ich es heraus [/blue]ziellos den Gang entlang. Sie ist sportlich angezogen, ihre Turnschuhe tragen sie fast lautlos in meine Richtung, die hellbraunen Haare sind streng nach hinten gebunden.
Sie fällt mir auf, aber ich kann nicht sagen, warum. Also beobachte ich sie weiter. Nur ein halber Meter trennt sie vom [blue]von einem[/blue] Schaufenster, hinter dem Ketten und Ringe verlockend ausgelegt sind, doch sie geht vorbei, ohne den Schmuck eines Blickes zu würdigen.
Und sie hat keine Handtasche dabei. Ungewöhnlich. [blue]Nein, ist es nicht! Manche Frauen verstauen Wichtiges in der Hosentasche.[/blue]
Sie schaut mich kurz an, dann fällt ihr Blick auf das Werbeplakat.
Ihr Gesicht wirkt nachdenklich und ich glaube, auch ein wenig Misstrauen darin zu entdecken. Sie taxiert mich. Ich gebe ihr Zeit, einen ersten Eindruck zu gewinnen.
Dann spreche ich sie an und frage in einem freundlichen, ruhigen Tonfall, ob ich ihr ein kostenloses Make-up anbieten dürfe.
Ihr Blick wandert den fast menschenleeren Gang entlang, dann liest sie das Namensschild auf meiner Brust und meint nach kurzem Zögern: "Ich kann's ja mal versuchen."
Ich bitte Sie [blue]sie[/blue], sich zu setzen und ihre Brille abzunehmen.
Die Frau ist nicht so jung, wie ich sie auf den ersten Blick geschätzt habe, erste feine Fältchen zeigen sich unter ihren Augen.
Ich nehme Kosmetiktücher mit einer milden Reinigungslotion zur Hand und erkläre ihr Schritt für Schritt, was ich mache. Zuerst wische ich ihr Gesicht ab, dann ihren Hals. Dabei merke ich, wie sie sich verkrampft. Etwas in ihren Augen warnt mich, besonders vorsichtig im Umgang mit ihr zu sein.
Normalerweise fangen meine Kundinnen von sich aus ein Gespräch an. Diese nicht.
Schweigsam lässt sie das Auftragen der Grundierung über sich ergehen. Um das Eis zu brechen, frage ich, wie viel Zeit sie denn hätte. Sie antwortet, dass sie halb elf eine Hose aus der Näherei abholen möchte.
Mit dem Pinsel trage ich Puder auf und versuche weiter, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
"Welches Make-up benutzen Sie normalerweise?"
"Keins."
"Und welche Creme?"
"Keine."
Für mich als Kosmetiker sind diese Antworten unbegreiflich.
"Ich empfehle Ihnen eine spezielle Creme, damit die ersten Fältchen unter Ihren Augen geglättet werden."
"Wissen Sie," antwortet sie, "[strike]unsere[/strike] Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren und das macht Gesichter meiner Meinung nach erst richtig interessant."
Ich bin verblüfft.
So etwas hat bisher noch niemand zu mir gesagt. Ich denke an William Somerset Maugham, der so treffend bemerkte, dass die Zeit ein schlechter Kosmetiker sei.
Ich reiße mich zusammen und versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Um die richtige Farbe für den Lidschatten auszuwählen, betrachte ich ihre Iris: graubraun. Auf der linken entdecke ich einen faszinierenden blauen Punkt.
Nun bitte ich sie, ihre Augen zu schließen.
Diesen Anblick lasse ich immer kurz auf mich wirken und fertige im Kopf eine Skizze an.
Ihre Gesichtszüge sind angespannt.
Mit einem leichten Schwung lege ich einen dezenten Goldton auf die Lider. Danach öffnet sie die Augen und ich bürste dunkelblaue, glitzernde Mascara auf ihre Wimpern. Ein angenehmer, unaufdringlicher Parfüm-Geruch umhüllt sie.
Ich trete zurück, um meine Arbeit zu beurteilen und sie strahlt mich an. Die Wirkung ist viel intensiver, als ich sie mit meinen Farben hätte erreichen können und mir entweicht ein überraschtes "Wow!" [blue]Aber er hat die Wirkung doch mit seinem goldfarbenen Lidschatten und der blauen Mascara erreicht![/blue]
Was ist denn nur in mich gefahren! 'Konzentriere Dich!', ermahne ich mich streng.
Ich verwende Lipgloss in der selben Farbe wie ihre Lippen.
Dann schaue ich auf ihre Hände. Sie sehen breiter aus, als ich erwartet hatte. Ihre Nägel sind sauber und kurz geschnitten. Kein Ring.
Ich frage, ob sie auch den passenden Nagellack für ihre Fingernägel wünscht, doch sie lehnt ab, weil der Lack nicht lange halten würde in ihrem Job[strike]b[/strike]. Sie setzt ihre Brille wieder auf.
Jetzt bin ich wirklich neugierig geworden: "In welchem Beruf arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin Fluggeräteelektronikerin."
Ich hebe die Augenbrauen.
Sie fügt hinzu: "Wir verlegen Kabel in Flugzeugen, montieren elektronische Geräte, schließen sie an und testen sie."
Den Spiegel in meiner Hand habe ich völlig vergessen.
Sie tippt ihn an und erinnert mich daran. Ich reiche ihn ihr. Prüfend betrachtet sie mein Werk.
"Schön," urteilt sie und lächelt, "es gefällt mir. Es ist ungewohnt. Dankeschön!"
"Gerne. Ich gebe Ihnen eine Probepackung einer Tagescreme mit, extra entwickelt für zarte Haut.
Möchten Sie einige der Produkte erwerben, die ich bei Ihnen verwendet habe?"
"Nein, danke."
Sie steht auf und mir wird klar, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehe, wenn sie jetzt geht.
Ich gebe ihr meine Visitenkarte.
Dann nehme ich meinen Mut zusammen und frage sie, ob ich sie heute Nachmittag auf eine Tasse Kaffee einladen dürfe.
Überraschung macht sich auf ihrem Gesicht breit: "Danke, das ist nett. Aber ich bin verheiratet." [blue]"Vielleicht. Ich melde mich." Damit sollte die Geschichte enden. Das wäre ein viel offeneres Ende![/blue]
Ich sehe ihr in Gedanken versunken hinterher.
Sie dreht sich noch einmal um, winkt zum Abschied und ist verschwunden.
Zusammen mit der Maske, die ich ihr aufs Gesicht gelegt habe.



Ich hoffe, Du kommst mit den Anmerkungen klar.

VG,
DS
 

steyrer

Mitglied
Hallo Ord!

Der folgende Satz ist missverständlich:

Die Wirkung ist viel intensiver, als ich sie mit meinen Farben hätte erreichen können und mir entweicht ein überraschtes "Wow!"
Ich wollte eigentlich vorschlagen, ein „nur“ einzufügen, also: „ … als ich sie [blue]nur [/blue]mit meinen Farben hätte erreichen können …“ Das würde allerdings die Bedeutung verschieben. In der jetzigen Fassung hat sie seine Schminke gar nicht nötig und das macht sie für ihn begehrenswert. Wenn meine Annahme stimmt, könnte der Satz vielleicht umformuliert werden. Grober Entwurf: „Sie ist attraktiver als ich sie jemals hätte schminken können.“

Das Vertauschen der alten Geschlechterrollen bringt zwar etwas Schwung in die Geschichte, aber das funktioniert nur, weil sie als umgekehrte Klischees erkennbar bleiben.

Ein Rechtschreibfehler:

Ich frage, ob sie auch den passenden Nagellack für ihre Fingernägel wünscht, doch sie lehnt ab, weil der Lack nicht lange halten würde in ihrem Job[red]b[/red].
Anmerkung: Sie arbeitet nicht, sondern jobbt nur? Das klingt ein wenig zu sehr nach Praktikum.

Schöne Grüße
steyrer
 

Ord

Mitglied
Es ist Samstag, kurz nach zehn. Träge erwacht das Leben im Einkaufszentrum.
Ich stehe vor der Parfümerie und rücke meine Krawatte zurecht. Über mir bietet das Werbeplakat eine kostenlose Schmink-Sitzung an und ich bin neugierig, wer sich wohl heute meinen Händen anvertrauen wird.
Eine junge Frau schlendert anscheinend ziellos den Gang entlang. Sie ist sportlich angezogen, ihre Turnschuhe tragen sie fast lautlos in meine Richtung, die hellbraunen Haare sind streng nach hinten gebunden.
Sie fällt mir auf, aber ich kann nicht sagen, warum. Also beobachte ich sie weiter. Nur ein halber Meter trennt sie von einem Schaufenster, hinter dem Ketten und Ringe verlockend ausgelegt sind, doch sie geht vorbei, ohne den Schmuck eines Blickes zu würdigen.
Und sie hat keine Handtasche dabei. Ungewöhnlich.
Sie schaut mich kurz an, dann fällt ihr Blick auf das Werbeplakat.
Ihr Gesicht wirkt nachdenklich und ich glaube, auch ein wenig Misstrauen darin zu entdecken. Sie taxiert mich. Ich gebe ihr Zeit, einen ersten Eindruck zu gewinnen.
Dann spreche ich sie an und frage in einem freundlichen, ruhigen Tonfall, ob ich ihr ein kostenloses Make-up anbieten dürfe.
Ihr Blick wandert den fast menschenleeren Gang entlang, dann liest sie das Namensschild auf meiner Brust und meint nach kurzem Zögern: "Ich kann's ja mal versuchen."
Ich bitte sie, sich zu setzen und ihre Brille abzunehmen.
Die Frau ist nicht so jung, wie ich sie auf den ersten Blick geschätzt habe, erste feine Fältchen zeigen sich unter ihren Augen.
Ich nehme Kosmetiktücher mit einer milden Reinigungslotion zur Hand und erkläre ihr Schritt für Schritt, was ich mache. Zuerst wische ich ihr Gesicht ab, dann ihren Hals. Dabei merke ich, wie sie sich verkrampft. Etwas in ihren Augen warnt mich, besonders vorsichtig im Umgang mit ihr zu sein.
Im Allgemeinen fangen meine Kundinnen von sich aus ein Gespräch an. Diese nicht.
Schweigsam lässt sie das Auftragen der Grundierung über sich ergehen. Um das Eis zu brechen, frage ich, wie viel Zeit sie denn hätte. Sie antwortet, dass sie halb elf eine Hose aus der Näherei abholen möchte.
Mit dem Pinsel trage ich Puder auf und versuche weiter, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
"Welches Make-up benutzen Sie normalerweise?"
"Keins."
"Und welche Creme?"
"Keine."
Für mich als Kosmetiker sind diese Antworten unbegreiflich.
"Ich empfehle Ihnen eine spezielle Creme, damit die ersten Fältchen unter Ihren Augen geglättet werden."
"Wissen Sie," antwortet sie, "unsere Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren und das macht Gesichter meiner Meinung nach erst richtig interessant."
Ich bin verblüfft.
So etwas hat bisher noch niemand zu mir gesagt. Ich denke an William Somerset Maugham, der so treffend bemerkte, dass die Zeit ein schlechter Kosmetiker sei.
Ich reiße mich zusammen und versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Um die richtige Farbe für den Lidschatten auszuwählen, betrachte ich ihre Iris: graubraun. Auf der linken entdecke ich einen faszinierenden blauen Punkt.
Nun bitte ich sie, ihre Augen zu schließen.
Diesen Anblick lasse ich immer kurz auf mich wirken und fertige im Kopf eine Skizze an.
Ihre Gesichtszüge sind angespannt.
Mit einem leichten Schwung lege ich einen dezenten Goldton auf die Lider. Danach öffnet sie die Augen und ich bürste dunkelblaue, glitzernde Mascara auf ihre Wimpern. Ein angenehmer, unaufdringlicher Parfüm-Geruch umhüllt sie.
Ich trete zurück, um meine Arbeit zu beurteilen. Die Kundin scheint sich gelöst zu haben und strahlt mich an. Die Wirkung ist dadurch viel intensiver, als ich sie nur mit meinen Farben hätte erreichen können und mir entweicht ein überraschtes "Wow!"
Was ist denn nur in mich gefahren! 'Konzentriere Dich!', ermahne ich mich streng.
Ich verwende Lipgloss in der selben Farbe wie die Lippen.
Dann schaue ich auf ihre Hände. Sie sehen breiter aus, als ich erwartet hatte. Die Nägel sind sauber und kurz geschnitten. Kein Ring.
Ich frage, ob sie auch den passenden Nagellack für ihre Fingernägel wünscht, doch sie lehnt ab und erklärt: "Der Lack würde während meiner Arbeit zu schnell zerkratzt werden." Sie setzt die Brille wieder auf.
Jetzt bin ich wirklich neugierig geworden: "In welchem Beruf arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin Fluggeräteelektronikerin."
Ich hebe die Augenbrauen.
Sie fügt hinzu: "Wir verlegen Kabel in Flugzeugen, montieren elektronische Geräte, schließen sie an und testen sie."
Den Spiegel in meiner Hand habe ich völlig vergessen.
Sie tippt ihn an und erinnert mich daran. Ich reiche ihn ihr. Prüfend betrachtet sie mein Werk.
"Schön," urteilt sie und lächelt, "es gefällt mir. Es ist ungewohnt. Dankeschön!"
"Gerne. Ich gebe Ihnen eine Probepackung einer Tagescreme mit, extra entwickelt für zarte Haut. Möchten Sie einige der Produkte erwerben, die ich bei Ihnen verwendet habe?"
"Nein, danke."
Sie steht auf und mir wird klar, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehe, wenn sie jetzt geht.
Ich gebe ihr meine Visitenkarte.
Dann nehme ich meinen Mut zusammen und frage sie, ob ich sie heute Nachmittag auf eine Tasse Kaffee einladen dürfe.
Überraschung macht sich auf ihrem Gesicht breit: "Danke, das ist nett. Aber ich bin verheiratet."
Ich sehe ihr in Gedanken versunken hinterher.
Sie dreht sich noch einmal um, winkt zum Abschied und ist verschwunden.
Zusammen mit der Maske, die ich ihr aufs Gesicht gelegt habe.

Am Abend suche ich im Internet nach Fotos älterer, ungeschminkter Menschen und entdecke ihre Schönheit.
 

Ord

Mitglied
Hallo DocSchneider,

ich freue mich, dass Du Dir die Zeit genommen hast, Dich nochmals mit meinem Text zu beschäftigen.

Eine junge Frau schlendert anscheinend Oder meinst du das Wort 'scheinbar'? Das würde bedeuten, dass sie sehr wohl ein Ziel hat. So lese ich es heraus ziellos den Gang entlang.
Der Kosmetiker hat einen geschulten Blick für potenzielle Kunden. Er spricht eher jemanden an, der anscheinend Zeit hat (sie schlendert den Gang entlang), als jemanden, der gestresst wirkt. Deshalb achtet er darauf.
Würde ich 'scheinbar' einsetzen, hätte sie ein Ziel.
Doch der Ich-Erzähler kann aus seiner Perspektive nicht wissen, ob sie ein bestimmtes Ziel hat.

Und sie hat keine Handtasche dabei. Ungewöhnlich. Nein, ist es nicht! Manche Frauen verstauen Wichtiges in der Hosentasche.
Ja, es stimmt, dass manche Frauen keine Handtasche dabei haben. Die meisten aber schon. Deshalb fällt es dem Protagonisten auf.

Ich trete zurück, um meine Arbeit zu beurteilen und sie strahlt mich an. Die Wirkung ist viel intensiver, als ich sie mit meinen Farben hätte erreichen können und mir entweicht ein überraschtes "Wow!" Aber er hat die Wirkung doch mit seinem goldfarbenen Lidschatten und der blauen Mascara erreicht!
Ja, das muss ich im Text näher erläutern.
Die "Behandlung" ist fast abgeschlossen und die Protagonistin entspannt sich. Das wirkt sich auf ihre Ausstrahlung aus. Ich baue das mit ein und ändere auch die Rechtschreibfehler.


Hallo steyrer,

Du bist sehr aufmerksam, vielen Dank für Deine Hinweise!


Hallo Frank,

1. Es ist Deine Geschichte.
2. Niemand darf Änderungen verlangen (es sei denn im Konflikt mit den LupenRegeln).
3. Du alleine entscheidest, welche Vorschläge in Dein Werk Einzug halten.
Das hast Du gut ausgedrückt.
Ich werde den letzten Satz wieder einfügen, weil mir der Text damit besser gefällt.

Ich danke Euch für Eure netten, hilfreichen Kommentare und aufmunternden Worte!

Viele Grüße

Ord
 

steyrer

Mitglied
Raschelnder Schlusssatz

Die Message des Textes kommt jetzt wesentlich deutlicher rüber. Das ist sehr gut. Allerdings hast du den zwischenzeitlich gestrichenen Schlusssatz wieder eingefügt:

Am Abend suche ich im Internet nach Fotos älterer, ungeschminkter Menschen und entdecke ihre Schönheit.
Dieser Satz raschelt gewaltig. Nur ein Beispiel: „… entdecke ihre Schönheit“ ist reines Papierdeutsch.

Wennschon, dennschon: Diese Passage sollte (wenn sie schon drin bleibt) etwas tiefer und ausführlicher gestaltet werden, da sie schließlich einen grundlegenden Wandel ankündigt.

Schöne Grüße
steyrer
 

Ord

Mitglied
Hallo steyrer,

nach mehreren ergebnislosen Experimenten mit dem letzten Satz habe ich beschlossen, den Wandel durch "Ich sehe ihr in Gedanken versunken hinterher." nur anzudeuten und das Ende anders und offener zu gestalten.

Viele Grüße

Ord
 

Ord

Mitglied
Es ist Samstag, kurz nach zehn. Träge erwacht das Leben im Einkaufszentrum.
Ich stehe vor der Parfümerie und rücke meine Krawatte zurecht. Über mir bietet das Werbeplakat eine kostenlose Schmink-Sitzung an und ich bin neugierig, wer sich wohl heute meinen Händen anvertrauen wird.
Eine junge Frau schlendert anscheinend ziellos den Gang entlang. Sie ist sportlich angezogen, ihre Turnschuhe tragen sie fast lautlos in meine Richtung, die hellbraunen Haare sind streng nach hinten gebunden.
Sie fällt mir auf, aber ich kann nicht sagen, warum. Also beobachte ich sie weiter. Nur ein halber Meter trennt sie von einem Schaufenster, hinter dem Ketten und Ringe verlockend ausgelegt sind, doch sie geht vorbei, ohne den Schmuck eines Blickes zu würdigen.
Und sie hat keine Handtasche dabei. Ungewöhnlich.
Sie schaut mich kurz an, dann betrachtet sie das Werbeplakat.
Ihr Gesicht wirkt nachdenklich und ich glaube, auch ein wenig Misstrauen darin zu entdecken. Sie taxiert mich. Ich gebe ihr Zeit, einen ersten Eindruck zu gewinnen.
Dann spreche ich sie an und frage in einem freundlichen, ruhigen Tonfall, ob ich ihr ein kostenloses Make-up anbieten dürfe.
Ihr Blick wandert den fast menschenleeren Gang entlang und bleibt am Namensschild auf meiner Brust hängen. Nach kurzem Zögern meint sie: "Ich kann's ja mal versuchen."
Ich bitte sie, sich zu setzen und ihre Brille abzunehmen.
Die Frau ist nicht so jung, wie ich sie anfangs eingeschätzt habe, erste feine Fältchen zeigen sich unter ihren Augen.
Ich nehme Kosmetiktücher mit einer milden Reinigungslotion zur Hand und erkläre ihr Schritt für Schritt, was ich mache. Zuerst wische ich ihr Gesicht ab, dann ihren Hals. Dabei merke ich, wie sie sich verkrampft. Etwas in ihren Augen warnt mich, besonders vorsichtig im Umgang mit ihr zu sein.
Im Allgemeinen fangen meine Kundinnen von sich aus ein Gespräch an. Diese nicht.
Schweigsam lässt sie das Auftragen der Grundierung über sich ergehen. Um das Eis zu brechen, frage ich, wie viel Zeit sie denn hätte. Sie antwortet, dass sie halb elf eine Hose aus der Näherei abholen möchte.
Ich mattiere den Teint mit einer Puderquaste und versuche weiter, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
"Welches Make-up benutzen Sie normalerweise?"
"Keins."
"Und welche Creme?"
"Keine."
Für mich als Kosmetiker sind diese Antworten unbegreiflich.
"Ich empfehle Ihnen eine spezielle Creme, damit die ersten Fältchen unter Ihren Augen geglättet werden."
"Wissen Sie," antwortet sie, "unsere Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren und das macht Gesichter meiner Meinung nach erst richtig interessant."
Ich bin verblüfft.
So etwas hat bisher noch niemand zu mir gesagt. Ich denke an William Somerset Maugham, der so treffend bemerkte, dass die Zeit ein schlechter Kosmetiker sei.
Ich reiße mich zusammen und versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Um die richtige Farbe für den Lidschatten auszuwählen, betrachte ich ihre Iris: graubraun. Auf der linken entdecke ich einen faszinierenden blauen Punkt.
Nun bitte ich sie, ihre Augen zu schließen.
Diesen Anblick lasse ich immer kurz auf mich wirken und fertige im Kopf eine Skizze an.
Ihre Gesichtszüge sind angespannt.
Mit einem leichten Schwung lege ich einen dezenten Goldton auf die Lider. Danach öffnet sie die Augen und ich bürste dunkelblaue, glitzernde Mascara auf ihre Wimpern. Ein angenehmer, unaufdringlicher Parfüm-Geruch umhüllt sie.
Ich trete zurück, um meine Arbeit zu beurteilen. Die Kundin scheint sich gelöst zu haben und strahlt mich an. Die Wirkung ist dadurch viel intensiver, als ich sie nur mit meinen Farben hätte erreichen können und mir entweicht ein überraschtes "Wow!"
Was ist denn nur in mich gefahren! 'Konzentriere Dich!', ermahne ich mich streng.
Durch Lipgloss verleihe ich ihren Lippen einen frischen Glanz.
Dann schaue ich auf ihre Hände. Sie sehen breiter aus, als ich erwartet hatte. Die Nägel sind sauber und kurz geschnitten. Kein Ring.
Ich erkundige mich, ob sie auch den passenden Nagellack für ihre Fingernägel wünscht, doch sie lehnt ab und erklärt: "Der Lack würde während meiner Arbeit zu schnell zerkratzt werden." Sie setzt die Brille wieder auf.
Jetzt bin ich wirklich neugierig geworden: "In welchem Beruf arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin Fluggeräteelektronikerin."
Ich hebe die Augenbrauen.
Sie fügt hinzu: "Wir verlegen Kabel in Flugzeugen, montieren elektronische Geräte, schließen sie an und testen sie."
Den Spiegel in meiner Hand habe ich völlig vergessen.
Sie tippt ihn an und erinnert mich daran. Ich reiche ihn ihr. Prüfend betrachtet sie mein Werk.
"Schön," urteilt sie und lächelt, "es gefällt mir. Es ist ungewohnt. Dankeschön!"
"Gerne. Ich gebe Ihnen eine Probepackung einer Tagescreme mit, extra entwickelt für zarte Haut. Möchten Sie einige der Produkte erwerben, die ich bei Ihnen verwendet habe?"
"Nein, danke."
Sie steht auf und mir wird klar, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehe, wenn sie jetzt geht.
Ich gebe ihr meine Visitenkarte.
Dann nehme ich meinen Mut zusammen und frage sie, ob ich sie heute Nachmittag auf eine Tasse Kaffee einladen dürfe.
Überraschung macht sich auf ihrem Gesicht breit: "Danke, das ist nett. Aber ich bin verheiratet."
Ich sehe ihr in Gedanken versunken hinterher.
Sie dreht sich noch einmal um, winkt zum Abschied und ist verschwunden.
Zusammen mit der Maske, die ich ihr aufs Gesicht gelegt habe.

Es wird ein langer, arbeitsreicher Tag.
Am späten Nachmittag gehe ich müde über den Parkplatz zu meinem Auto.
Ein lautes Brummen überlagert die Geräusche der Stadt. Ich hebe den Blick, beobachte ein davonziehendes Flugzeug und muss plötzlich an Dich denken.
Wenn Du dies liest und Dich doch noch dazu entschließt, mich zu treffen: Meine Einladung zu einem Kaffee steht.
 

steyrer

Mitglied
Neuer Schluss

Also … Das „davonziehende Flugzeug“ erinnert an der Beruf der Frau und unterstreicht die melancholische Stimmung des Icherzählers. Das ist gut. Die letzten Sätze gehen dann allerdings in eine Ansprache an die Unbekannte über. So etwas könnte als Anbiederung missverstanden werden.

Kleinigkeit:
Soll der Kaffee im letzten Satz wirklich noch einmal erwähnt werden? Es ist ja schon beim ersten Mal eine Floskel.

Schöne Grüße
steyrer
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Steyrer hat recht. Der Schluss ist jetzt besser, doch lasse den Text hinter "an dich denken" enden. In meinen Augen wäre das der perfekte Schluss, der alles weitere offen ließe.

VG, DS
 

Ord

Mitglied
Es ist Samstag, kurz nach zehn. Träge erwacht das Leben im Einkaufszentrum.
Ich stehe vor der Parfümerie und rücke meine Krawatte zurecht. Über mir bietet das Werbeplakat eine kostenlose Schmink-Sitzung an und ich bin neugierig, wer sich wohl heute meinen Händen anvertrauen wird.
Eine junge Frau schlendert anscheinend ziellos den Gang entlang. Sie ist sportlich angezogen, ihre Turnschuhe tragen sie fast lautlos in meine Richtung, die hellbraunen Haare sind streng nach hinten gebunden.
Sie fällt mir auf, aber ich kann nicht sagen, warum. Also beobachte ich sie weiter. Nur ein halber Meter trennt sie von einem Schaufenster, hinter dem Ketten und Ringe verlockend ausgelegt sind, doch sie geht vorbei, ohne den Schmuck eines Blickes zu würdigen.
Und sie hat keine Handtasche dabei. Ungewöhnlich.
Sie schaut mich kurz an, dann betrachtet sie das Werbeplakat.
Ihr Gesicht wirkt nachdenklich und ich glaube, auch ein wenig Misstrauen darin zu entdecken. Sie taxiert mich. Ich gebe ihr Zeit, einen ersten Eindruck zu gewinnen.
Dann spreche ich sie an und frage in einem freundlichen, ruhigen Tonfall, ob ich ihr ein kostenloses Make-up anbieten dürfe.
Ihr Blick wandert den fast menschenleeren Gang entlang und bleibt am Namensschild auf meiner Brust hängen. Nach kurzem Zögern meint sie: "Ich kann's ja mal versuchen."
Ich bitte sie, sich zu setzen und ihre Brille abzunehmen.
Die Frau ist nicht so jung, wie ich sie anfangs eingeschätzt habe, erste feine Fältchen zeigen sich unter ihren Augen.
Ich nehme Kosmetiktücher mit einer milden Reinigungslotion zur Hand und erkläre ihr Schritt für Schritt, was ich mache. Zuerst wische ich ihr Gesicht ab, dann ihren Hals. Dabei merke ich, wie sie sich verkrampft. Etwas in ihren Augen warnt mich, besonders vorsichtig im Umgang mit ihr zu sein.
Im Allgemeinen fangen meine Kundinnen von sich aus ein Gespräch an. Diese nicht.
Schweigsam lässt sie das Auftragen der Grundierung über sich ergehen. Um das Eis zu brechen, frage ich, wie viel Zeit sie denn hätte. Sie antwortet, dass sie halb elf eine Hose aus der Näherei abholen möchte.
Ich mattiere den Teint mit einer Puderquaste und versuche weiter, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.
"Welches Make-up benutzen Sie normalerweise?"
"Keins."
"Und welche Creme?"
"Keine."
Für mich als Kosmetiker sind diese Antworten unbegreiflich.
"Ich empfehle Ihnen eine spezielle Creme, damit die ersten Fältchen unter Ihren Augen geglättet werden."
"Wissen Sie," antwortet sie, "unsere Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren und das macht Gesichter meiner Meinung nach erst richtig interessant."
Ich bin verblüfft.
So etwas hat bisher noch niemand zu mir gesagt. Ich denke an William Somerset Maugham, der so treffend bemerkte, dass die Zeit ein schlechter Kosmetiker sei.
Ich reiße mich zusammen und versuche, mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Um die richtige Farbe für den Lidschatten auszuwählen, betrachte ich ihre Iris: graubraun. Auf der linken entdecke ich einen faszinierenden blauen Punkt.
Nun bitte ich sie, ihre Augen zu schließen.
Diesen Anblick lasse ich immer kurz auf mich wirken und fertige im Kopf eine Skizze an.
Ihre Gesichtszüge sind angespannt.
Mit einem leichten Schwung lege ich einen dezenten Goldton auf die Lider. Danach öffnet sie die Augen und ich bürste dunkelblaue, glitzernde Mascara auf ihre Wimpern. Ein angenehmer, unaufdringlicher Parfüm-Geruch umhüllt sie.
Ich trete zurück, um meine Arbeit zu beurteilen. Die Kundin scheint sich gelöst zu haben und strahlt mich an. Die Wirkung ist dadurch viel intensiver, als ich sie nur mit meinen Farben hätte erreichen können und mir entweicht ein überraschtes "Wow!"
Was ist denn nur in mich gefahren! 'Konzentriere Dich!', ermahne ich mich streng.
Durch Lipgloss verleihe ich ihren Lippen einen frischen Glanz.
Dann schaue ich auf ihre Hände. Sie sehen breiter aus, als ich erwartet hatte. Die Nägel sind sauber und kurz geschnitten. Kein Ring.
Ich erkundige mich, ob sie auch den passenden Nagellack für ihre Fingernägel wünscht, doch sie lehnt ab und erklärt: "Der Lack würde während meiner Arbeit zu schnell zerkratzt werden." Sie setzt die Brille wieder auf.
Jetzt bin ich wirklich neugierig geworden: "In welchem Beruf arbeiten Sie, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin Fluggeräteelektronikerin."
Ich hebe die Augenbrauen.
Sie fügt hinzu: "Wir verlegen Kabel in Flugzeugen, montieren elektronische Geräte, schließen sie an und testen sie."
Den Spiegel in meiner Hand habe ich völlig vergessen.
Sie tippt ihn an und erinnert mich daran. Ich reiche ihn ihr. Prüfend betrachtet sie mein Werk.
"Schön," urteilt sie und lächelt, "es gefällt mir. Es ist ungewohnt. Dankeschön!"
"Gerne. Ich gebe Ihnen eine Probepackung einer Tagescreme mit, extra entwickelt für zarte Haut. Möchten Sie einige der Produkte erwerben, die ich bei Ihnen verwendet habe?"
"Nein, danke."
Sie steht auf und mir wird klar, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder sehe, wenn sie jetzt geht.
Ich gebe ihr meine Visitenkarte.
Dann nehme ich meinen Mut zusammen und frage sie, ob ich sie heute Nachmittag auf eine Tasse Kaffee einladen dürfe.
Überraschung macht sich auf ihrem Gesicht breit: "Danke, das ist nett. Aber ich bin verheiratet."
Ich sehe ihr in Gedanken versunken hinterher.
Sie dreht sich noch einmal um, winkt zum Abschied und ist verschwunden.
Zusammen mit der Maske, die ich ihr aufs Gesicht gelegt habe.

Es wird ein langer, arbeitsreicher Tag.
Am späten Nachmittag gehe ich müde über den Parkplatz zu meinem Auto.
Ein lautes Brummen überlagert die Geräusche der Stadt. Ich hebe den Blick, beobachte ein davonziehendes Flugzeug und muss plötzlich an Dich denken.
 



 
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