(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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  • Wir alle werden mit einem Werkzeugkasten geboren und die wichtigste Aufgabe im Leben ist herauszufinden, welche Werkzeuge man hat. Die Leidenschaft ist nichts anderes als das Verstehen, welche Werkzeuge man hat.
  • In den Landschaften, nach denen wir uns sehnen, erkennen wir eine innere Landschaft wieder.
  • Wie sehr leben wir in unseren Büchern? Wie sehr zieht man den Dialog mit toten Dichtern und Denkern der Begegnung mit lebendigen Zeitgenossen vor?
  • Die Schuld macht dich aufmerksam gegenüber dem, was Menschen einander antun.

    von Cornelia Funke
 

zeitistsein

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Es braucht Zeit, bis sich eine bestimmte Wahrnehmung als richtig oder falsch herausstellt.
Tatsache ist: Schon damals gab es Warnzeichen darüber, dass mit dir, R., etwas nicht stimmte. Man munkelte, du seist ein Kinderschänder und warnte meine Eltern, mir den Umgang mit dir zu untersagen. Denn ich war damals ja noch minderjährig und aus deinen Absichten machtest du keinen Hehl. Du wolltest mich rumkriegen, mit mir schlafen, koste es, was es wolle.
Und fast hättest du es geschafft, an jenem Sonntagnachmittag, als du sturmfrei hattest und mich zu dir nach Hause locktest.
Ich war nicht bereit dazu und weil du es nicht dabei bewenden liessest, sondern es immer wieder versuchtest, fasste ich mir nach einigen Wochen ein Herz und schrieb dir einen Abschiedsbrief. Ich wollte dich nicht mehr sehen und erklärte dir auch warum: "Ich freue mich gar nicht, wenn ich dich sehe", schrieb ich in meiner kindlichen Einfalt.
Meine Eltern verfolgten das Ganze aufmerksam, ohne sich gross einzumischen, aber ich spürte auch ihre Sorge. Die erste Liebeserfahrung hatte sich als Liebesenttäuschung entpuppt. Und ich wusste nicht genau, wie mir geschah. Denn alles war so widersprüchlich. Du warst einerseits der ideale Schwiegersohn: fleissig, ein Überflieger, klug, seriös, diskret und auch gutaussehend. Aber andererseits - Mutter gab das immer zu bedenken - hatte dein Grossvater deine Oma aufs Schwerste misshandelt. Sowas vererbt sich, meinte meine Mutter. Fleiss und beruflicher Erfolg sind nicht alles, fügte sie hinzu. Und Papa hatte vielsagend geschwiegen. Er hatte leise nachgefragt, ob du denn meine Hand nähmest, wenn wir spazieren gingen. Ich weiss nicht mehr, was ich zur Antwort gab. Wahrscheinlich sagte ich Ja.
Jedenfalls haben wir beide inzwischen unsere Wege getrennt beschritten. Du bist deinen Weg gegangen, sehr erfolgreich, wie ich vernommen habe. Und ich kann mich auch nicht beklagen, zumindest äusserlich nicht. Innerlich sieht die Sache schon anders aus. Da waren nämlich immer diese Schuldgefühle, die ich nicht so recht zuordnen konnte. Ich habe nach allen möglichen Gründen dafür gesucht, bis mir heute aufging, dass sie mit dir zu tun hatten. Mit deinen Versuchen, mich zu vergewaltigen. Und mit deinem Wutausbruch in deiner Wohnung - du standest noch ganz nackt da, im Schlafzimmer -, weil ich mich aufs Neue verweigerte. Ich hatte Bauchschmerzen und weinte vor Angst. Dieselben Bauchschmerzen habe ich noch heute. Und auch meine Todesangst ist noch recht akut.
Dass Opfer sich für ihr Opfersein auch noch schuldig fühlen, ist unheimlich und eigentlich irrational. Aber so ist das nunmal. Man fühlt sich schuldig, dass man nicht gerne, sondern widerwillig die Beine gespreizt hat. Man hätte es doch gerne machen müssen. Der Widerwille war Majestätsbeleidigung und ist daher mit Schuldgefühlen besetzt, bewusst oder unbewusst: Das Schuldgefühl entfaltet seine Wirkung, wie ein Gift, das sich nach und nach der Seele bemächtigt.
Ob du das weisst? Ob auch du noch an mich denkst? Ich frage mich, WIE du an mich denkst. Einmal schriebst du mir, du erinnertest dich gut an mich. Wie das wohl gemeint war?
Eigentlich würde ich dich gerne mal sprechen, aber eigentlich auch wieder nicht, weil mich die ganze Geschichte so anwidert. Und heute eben in der Lokalzeitung sah ich dich wieder. Stark gealtert bist du. Übergewichtig, bärtig, wie einer, den das Leben überrollt hat. Man hat dir fristlos gekündigt, habe ich der Zeitungsmeldung entnommen, wobei dies natürlich nicht explizit, sondern zwischen den Zeilen stand. Ausdrücklich stand da, dass du mit sofortiger Wirkung die Kündigung eingereicht hättest und jemand anders alle deine Ämter übernehmen würde. Eine äusserst knappe Meldung. Keine Würdigung deiner Leistungen, obwohl du doch immerhin fast zehn Jahre dort gewesen warst.
Wer eins und eins zusammenzählen kann, wird den Zusammenhang deiner Kündigung mit einer etwas früheren Meldung mühelos herstellen, in der von einem nicht namentlich genannten Arzt die Rede ist, der am selben Ort versucht hatte, eine Patientin zu vergewaltigen. Es stehe Aussage gegen Aussage, heisst es weiter. Handfeste Beweise gebe es keine und man - d.h. dein Anwalt - habe das Opfer mit einer Schadenersatzzahlung abzuspeisen versucht.
Kurz darauf dann deine fristlose Kündigung.
Du bist glimpflich davongekommen und darfst jetzt immerhin noch deine Privatpraxis führen, die sehr schlecht bewertet wird. Lauter Ein-Sterne-Rezensionen sind da zu sehen. Keine schöne Geschichte.
Was mich betrifft: Das Gift hat sich meiner bemächtigt und zwar so stark, dass ich gut 20 Jahre nach jenen Vorfällen unbedingt die Vergangenheit rückgängig machen wollte. Ich fühlte mich immer noch so schuldig, dass ich DANN mit dir schlafen wollte. Ich war der Meinung, dir dein Recht vorenthalten zu haben und suchte verzweifelt nach Möglichkeiten der Wiedergutmachung. Ich könnte ja mit einem anderen Mann schlafen, dachte ich, und mir einbilden, du seist es - die damalige Situation also gewissermassen nachstellen und somit auch nachholen, auf dass eine Art kosmischer Ausgleich entstünde. Ich hatte eine Bringschuld, der ich jetzt mit allen Mitteln nachkommen musste.
Ja, so geht Irrationalität. So funktioniert eine kaputte Psyche, wenngleich der gesunde Teil in mir - derjenige, der unter allen Umständen unerschütterlich ist und wahrscheinlich noch nach dem Tod fortbesteht - darauf pochte, dass ich jetzt völlig übergeschnappt sei. Dass es richtig von mir gewesen war, jenen Abschiedsbrief zu schreiben und mich so quasi in einer Nacht- und Nebelaktion vor dir in Sicherheit zu bringen.
Die heutige Zeitungsmeldung, über 30 Jahre später, bestätigt mir die Richtigkeit meiner Wahrnehmung und dass die ganzen Schuldgefühle im Grunde unnötig gewesen sind.
Ich frage mich natürlich, was in dir vorgeht. Und was in deiner Frau und in deinen Kindern, in deinen Eltern, falls sie noch leben und in deinem Bruder.
Auf dem Zeitungsfoto siehst du verwahrlost aus. Ob auch dich Schuldgefühle ereilt haben?
Mein Leben wurde dadurch zerstört. Ich bin froh, dass das jetzt endlich raus ist.
 
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zeitistsein

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Neulich habe ich das spanische Wort "ningunear" gelernt. Das bedeutet so viel wie "ignorieren", "übergehen", "ausser Acht lassen." Ein tolles Wort, fand ich, nachdem ich es im Wörterbuch nachgeschlagen hatte.
Anscheinend heisst "ninguno" "keiner", sodass das Verb im Grunde genommen auch "zunichte machen" bedeuten könnte. Man kann jemanden durch Worte oder Gesten zunichte machen, zerstören, ihn wie eine Seifenblase zerplatzen lassen. Mit wenigen Worten, wenn die destruktive Energie gross genug ist.
Ein tolles Wort also, weil es so gut in unsere Zeit passt.
 

zeitistsein

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Wenn man etwas mitzuteilen hat und niemand da ist, macht man sich ein halböffentliches Forum wie dieses zu Nutze und versucht es hier so gut es geht zu artikulieren. Das birgt freilich Gefahren. Denn einen Satz rauszupicken, während man das Ganze des Geschriebenen ignoriert - das können manche Forenuser offenbar sehr gut. Das ist nochmal eine Verletzung. Ein Abhaken des Geschriebenen als unwichtig und irrelevant, nach dem Motto: Jetzt hast du's rausgelassen, dann ist ja alles gut.
Na ja. So ist das Internet eben. Man darf nicht die hohe Empathie erwarten; es geht in erster Linie um Selbstdarstellung und Selbstbehauptung. Zumindest scheint es so.
Aber zurück zum Thema.
Wie weiter, jetzt, da die Sache mit R. raus ist und er hochoffiziell angeklagt wurde?
Die MeToo-Debatte hat einiges ins Rollen gebracht bezüglich Thematisierung sexueller Gewalt, aber inzwischen ist das Ganze doch wieder etwas abgeflacht. Vielen Frauen, die sich als Opfer geoutet haben, wurde Wehleidigkeit und Opportunismus nachgesagt, weil die angeklagten Männer ja schwerreich und mächtig waren. Auch von einem Rachefeldzug infolge frustrierter Liebesgefühle war zuweilen die Rede.
In meinem Fall handelt es sich nicht um einen mächtigen Mann, obwohl er als Arzt ja auch keinen unerheblichen Posten innehatte. Rachegefühle hege ich keine, aber doch eine gewisse Wut gegenüber meinen Eltern, dass sie damals nicht mit mir zur Polizei gegangen sind. Sie wollten keinen Stress und ihr Gesicht nicht verlieren. Das ist schon eine tiefe Verletzung, die sich durch nichts rückgängig machen lässt.
Ich glaube an einen übergeordneten Sinn und so wird auch diese Enthüllung früher oder später ihre Früchte tragen. Ich glaube aber auch, dass ich durch eine Anzeige, damals vor über 30 Jahren, vielen Frauen Leid erspart hätte. Wer weiss, was da hinter verschlossenen Türen sonst noch abgegangen ist? Das macht mich wütend. Durchaus.
Wo ich das deponieren kann oder soll? Vorläufig hier.
 

petrasmiles

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Denn einen Satz rauszupicken, während man das Ganze des Geschriebenen ignoriert - das können manche Forenuser offenbar sehr gut. Das ist nochmal eine Verletzung. Ein Abhaken des Geschriebenen als unwichtig und irrelevant, nach dem Motto: Jetzt hast du's rausgelassen, dann ist ja alles gut.
Ich hoffe, damit meintest Du jetzt nicht mich!
Das war nicht zu wenig an Zartgefühl, sondern eher zu viel.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach so einem Bekenntnis in diesem Rahmen diskutieren möchte, aber ich mochte auch nicht achtlos vorübergehen.
Sollte das zu dem Eindruck geführt haben, dass damit das Vorangegangene damit abqualifiziert wurde, tut mir das leid. Ich werde das zukünftig unterlassen.

Liebe Grüße
Petra
 

zeitistsein

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Ich hoffe, damit meintest Du jetzt nicht mich!
Das war nicht zu wenig an Zartgefühl, sondern eher zu viel.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man nach so einem Bekenntnis in diesem Rahmen diskutieren möchte, aber ich mochte auch nicht achtlos vorübergehen.
Sollte das zu dem Eindruck geführt haben, dass damit das Vorangegangene damit abqualifiziert wurde, tut mir das leid. Ich werde das zukünftig unterlassen.

Liebe Grüße
Petra

Liebe Petra
Nein, ich meinte nicht dich im Speziellen. Das selektive Lesen ist im Internet ein verbreitetes Phänomen.
Vielen Dank fürs Kommentieren.
Viele Grüsse
Z
 

zeitistsein

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Wie zu erwarten war, hat Mutter Wind von der Sache mit R. bekommen und wir sprechen täglich intensiv darüber. Wie es so weit kommen konnte, beschäftigt uns beide. Darauf machen wir uns keinen Reim.
Mutter zweifelt kaum an R.s Schuld. Für sie steht fest: Da war was und es ist jetzt gut, dass er endlich aus dem Verkehr gezogen wurde.
Ich selber sah zunächst auch viele Parallelen zu meiner eigenen Geschichte. Inzwischen ist meine Überzeugung aber doch ins Wanken geraten.
Es klingt alles nach Komplott und Verzerrung von Einzeltatsachen. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, mich bei ihm zu entschuldigen, was Mutter aus allen Wolken hat fallen lassen.
Ob ich noch bei Trost sei, fragte sie mich. Mit "solchen Leuten", meinte sie weiter, meide man am besten jeden Kontakt. Man wisse ja nicht, was hinter seinen Stirnlappen vorgehe. Ich solle nicht immer ans Gute im Menschen glauben, denn der Mensch sei nichts als ein Raubtier; einzig auf seinen Eigenvorteil bedacht, erst recht "dieser Typ".
Mir tut einfach die Frau leid, die sich ein Herz gefasst hat, R. anzuklagen und jetzt in der Presse als Geisteskranke hingestellt wird. Als eine, die sich alles nur eingebildet hat.
Das stört mich.
Ich stelle mir vor, dass sie sich in R. verliebt hatte und ihn daher immer wieder aufsuchte. Er liess sich vielleicht sogar auf sie ein, halb spielerisch, halb aus Unwissen, wie er sie denn sanft und schonend abweisen sollte.
Dann kam die Stunde der Wahrheit. Er eröffnet ihr, dass er Familienvater sei und "das alles" jetzt aufhören müsse. Er wolle nichts von ihr.
Sie ist daraufhin gekränkt und trägt das Ganze jahrelang mit sich herum, versucht, ihn in der Kleinstadt, in der beide leben, aufzuspüren, ihn vielleicht doch noch rumzukriegen. Aber er speist sie kühl ab, als sie sich eines Tages beim Einkaufen über den Weg laufen.
Sie beginnt Rachepläne zu schmieden, bis es zur Anzeige kommt. Jahrzehnte nach seinen vermeintlichen Übergriffen, die niemand bezeugen kann, sodass es Aussage gegen Aussage steht.
Die Untersuchung dauert fast nochmal so lange, sodass auch die verschmähte Frau sich nicht mehr so genau an damals erinnert. Wie genau soll er sie verführt haben? Zu welcher Tageszeit? Wer war sonst noch im Gebäude? Warum hatten sie sich gerade an jenem Tag getroffen? Wer hat was genau gesagt? Vor Gericht liegt der Teufel im Detail, aber genau dieses entgleitet im Lauf der Zeit. Das Vergehen wird immer schwerer greifbar. Es kommt sogar zu Widersprüchen bei der Befragung.
So muss die Wahrheit letztlich offenbleiben. Gab es einen Übergriff oder nicht? Hat es sich gelohnt, dem Steuerzahler mit diesem langwierigen Gerichtsprozess auf der Tasche zu liegen? Wegen einer verschmähten Liebe, gegen die kein Gericht ein Urteil sprechen kann? Qui bono?
Ich glaube, eigentlich würde ich mich lieber mit der Frau unterhalten und ihr sagen, dass die Liebe doch etwas Schönes ist, selbst wenn sie unerwidert bleibt.
Man darf zu ihr stehen, schliesslich ist es die eigene Liebe. Kein Grund, sich selbst den anderen für vorhandene oder nicht abrufbare Liebesgefühle anzuklagen.
Je mehr ich über diese Sache nachdenke, desto mehr fühle ich mit dieser Unbekannten mit.
Ob ich in ihr wohl einen Teil von mir wiedererkenne?
 
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zeitistsein

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Eine Frau beschwert sich nach dem Gottesdienst beim Priester über die Kirchgänger. Ihrer Meinung nach sind das alles Heuchler, die während der Messe nicht bei der Sache sind, sondern Zeitung lesen oder sich mit dem Nachbarn unterhalten. Das findet sie unmöglich.
Anstatt in ihre Menschheitsklage einzustimmen, empfiehlt der Priester ihr daraufhin eine Übung: Nehmen Sie ein volles Glas Wasser, sagt er, und spazieren Sie damit im Kirchenschiff herum, ohne dass das Wasser ausläuft. Dann kommen Sie wieder in mein Zimmer.
Die Frau tut, wie ihr befohlen und stellt das Glas tatsächlich genauso randvoll wieder auf dem Priesterpult ab, wie sie es von dort genommen hatte.
Und?, fragt sie der Priester. Wie viele abgelenkte Messbesucher haben Sie diesmal gesehen?
Keine, antwortet die Frau. Ich war so damit beschäftigt, das Glas nicht auszuleeren, dass ich die übrigen Leute gar nicht wahrgenommen habe.
Da haben Sie's, meinte der Priester. Lernen Sie daraus für Ihr Leben. Kümmern Sie sich nicht um die Belange anderer, sondern nur um Ihre eigenen. Konzentrieren Sie sich auf das, was in Ihren Händen liegt und lassen Sie das der anderen deren Sorge sein.
 

zeitistsein

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Von 6 Uhr früh bis spätabends um 22h zu arbeiten ist zu viel, aber nunmal gang und gäbe bei Freiberuflern. Ich sollte mich weniger darüber beschweren, als mich vielmehr mit denjenigen verbunden fühlen, denen es ähnlich geht. Aber der Mensch gefällt sich nunmal in der Nabelschau. Dort findet er seine vermeintliche Einzigartigkeit, die ihn scheinbar von anderen abhebt.

"Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar."

Franz Kafka, Die Bäume, 1908.
 

zeitistsein

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Paula Deme ist in die NZZ gekommen. Man hat sie zu ihrem TikTok-Kanal und ihrem Buch, "50 Antworten", zum Thema Kinderlosigkeit interviewt.
Es ist schon krass, wie Menschen ihr Selbstbild opportunistisch umgestalten und wie wenig man diesen ganzen Online-Profilen trauen kann.
Auf ihrem Kanal bezeichnete sich Deme als "rich kid" mit schwierigem familiären Hintergrund, dessen TikTok-Kanal eine Lanze für kinderlose Frauen brechen will.
Ihre Videos wurden oft angefeindet. Das beklagt sie im Zeitungsinterview. Sie beklagt des Weiteren und zu Recht die überholten Frauen- und Familienbilder unserer Gesellschaft. Gratis Care-Arbeit werde heutzutage immer noch vorwiegend von Frauen geleistet und das gehe nicht, meint sie. Und ich stimme ihr zu.
So mancher User sehe das anders, sagt Deme, und gebe die vulgärsten Kommentare von sich. Da helfe nur noch löschen.
Ich selbst bin Paula Deme eine zeitlang auf TikTok gefolgt, ohne gross mit ihr zu interagieren. Ich sehe da keine Notwendigkeit zu, lasse mich lieber berieseln, wenn Frau Deme sich beim Bügeln, Frühstücken oder Kofferpacken filmt und von ihrer anstehenden Barcelona-Reise erzählt.
In Barcelona angekommen, postet sie einen Reisebericht, in dem sie auch von ihrem Bezug zur katalanischen Metropole erzählt. Da kommt mir spontan die Frage über die Finger, ob die Stadt denn wirklich so rassistisch sei, wie viele behaupten. Nach einer kurz angebundenen, schroffen Antwort blockiert sie mich. Und das war's auch schon mit meinen Paula Deme-Interaktionen.
Es entsteht der Eindruck, als verweigere sich Deme jedes Themas jenseits der Kinderlosigkeit. Das scheint viele zu irritieren. Warum nicht auch über anderes sprechen?
Das NZZ-Interview wirft ein neues Licht auf die Influencerin. Sie ist keineswegs ein "rich kid", sondern in Rumänien geborene Flüchtlingstochter, deren Familiengeschichte von Verzicht und Gewalt geprägt ist. Vater Alkoholiker, Mutter erziehungsunfähig - eine schwere Kindheit, über die Paula Deme kein Wort verlor.
Spontan denke ich an Robert Pfaller: Jedes ausgesprochene Wort dient im Grunde der Verhüllung.
Im Nachgang fragt man sich natürlich, welches Bild denn nun stimmt: das auf TikTok gezeichnete vom "rich kid" oder das abgründige in der NZZ.
Die NZZ ist ein rechtsliberales Blatt. Wirtschaftsprofessoren geben da ihre Sonntagskolumnen zum Besten. Wenn Paula Deme dort Eingang und Gehör findet, dann weil sie dem Weltbild einer ganz bestimmten Klientel in die Hände spielt, also nicht etwa der Lobby der Leidenden und Weinenden, sondern derer, die um diese einen grossen Bogen machen.
 

zeitistsein

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Mutter geht es nicht gut. Ihr Blutdruck ist mit 170 zu 63 ausser Kontrolle geraten; die Ärzte sind ratlos. Die Dosis ihres Blutdrucksenkers wurde verdoppelt, jetzt gilt es, die Wirkung abzuwarten.
Seit der Einsetzung der Stents ist es jetzt schon 5 Jahre her, eigentlich ein Wunder, dass es so lange gut gegangen ist, waren doch die Herzkranzgefässe, nach Angaben des Kardiologen, "ziemlich beschädigt".
Habe ihr zusätzlich ein B12-Präparat besorgt, weil sie in letzter Zeit kaum etwas isst. Sie scheint keinen Appetit zu haben und das macht mir am meisten Sorgen. Auch dazu sagen die Ärzte nichts Besonderes, ausser das Übliche: ausreichend trinken, sich bewegen, für innere Ruhe und Ausgeglichenheit sorgen. Wissen wir. Und wir bemühen uns darum.
Bei der Medikamenteneinnahme bin ich eigentlich immer bei ihr, aber ich weiss nicht, ob sie dabei nicht doch irgendwie trickst. Einmal habe ich herausgefunden, dass sie die Kapseln öffnet, um die Hülle nicht mitzutrinken, weil sie sich davor ekelt. Weil Mutter aber nicht auf mich hört, waren wir gestern in der Apotheke und dort hat die junge, sympathische Apothekerin ihr nochmal erklärt, warum es wichtig ist, die ganze Kapsel und nicht nur deren Inhalt einzunehmen. Das tut sie nicht zum ersten Mal, aber wohlwissend, dass ihr Einfluss grösser als meiner ist, scheut sie den Aufwand nicht, Mutter mit freundlichem Lächeln und einer positiven, aufgeschlossenen Art, die Angst vor der vermeintlich giftigen Kapselhülle zu nehmen.
Ich mache mir jedenfalls Sorgen und bin in eine Art Hyperaktivität geraten, im Zuge derer ich auch den Kardiologen kontaktiert und um eine Sprechstunde - auch gegen Extra-Bezahlung - gebeten habe.
Jetzt muss ich schauen, dass ich runterkomme und wieder die Kurve kriege, um den Alltag einigermassen zu bewältigen.
 



 
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