(Lese-)Tagebuch

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zeitistsein

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Sie [den Namen lasse ich mal unerwähnt] hat es wieder mal fertiggebracht, alle gegen sich zu stellen. Dass sie die anderen demütigt und verletzt, ist ihr gar nicht klar. Wer sich verletzt fühlt, ist selber schuld, so ihre Ansicht. Entschuldigt hat sie sich deswegen noch nie. Bei niemandem. Ich frage mich auch, ob sie zu echter Reue fähig ist. Sie bereut höchstens Dinge, die ihr nicht genug Vorteile eingebracht haben. Aber die Gefühle anderer verletzen? Das scheint ihr ein Kleines.

Nun, heute haben die verletzten Anderen kein Blatt vor den Mund genommen. Das hat sie, die Besagte, aufgebracht und auch brüskiert. Gekränkt glaube ich nicht, denn im Unrecht sind ja immer nur die anderen, sie nicht.

Ich weiss, dass sie hadert und ich würde ihr so gerne helfen. Aber jemand musste es ihr einfach mal sagen. Dass sie zu weit geht. Dass sie mit Menschen einfach nicht so umspringen kann. Dass es Grenzen gibt, jenseits der Förmlichkeit und der guten Manieren. Und heute war es so weit. Sie bekam es zu hören.

Das Leid darüber kann ich ihr beim besten Willen nicht abnehmen, obwohl ich es versucht habe. Andere haben es auch versucht. Sie haben sogar stellvertretend für sie beim lieben Gott um Vergebung gebeten, in der Hoffnung auf eine doch irgendwie geartete kosmische Gerechtigkeit. Ich habe auch mitgebetet.

Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein. Vielleicht leidet sie ja gar nicht darunter, ständig verstossen zu werden, weil sie überall und immer in Fettnäpfchen tritt. Ich kann es mir nicht anders vorstellen und daher versuche ich und versuchten früher schon viele andere, sie in Schutz zu nehmen. In Schutz vor sich selbst. Dabei haben wir uns ins Verderben gestürzt. Ohne, dass wir es gemerkt haben, nahmen wir ihren ganzen Müll auf uns und tragen jetzt die Konsequenzen.

Ich wünsche mir einfach nur Frieden.
 
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zeitistsein

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So ein Dampfreiniger ist eine feine Sache. Er desinfiziert Flächen im Handumdrehen. Eignet sich für alles, auch für Fensterscheiben und Textilien. Ich putze nur noch damit. Auch die Teppiche.

In meinem Innern entstehen merkwürdige Blüten. Vieles, was ich gar nicht in Worte fassen kann. Das vielleicht auch gar nicht für die Aussenwelt bestimmt ist. Unscharfe Umrisse, alles sehr diffus. Doch wenn ich genauer hinschaue und es begreife, entgleitet es wieder. Durch unflätige Bemerkungen und dumme Fragen.

Ja. Dumme Fragen. Das gibt´s.

Plötzlich aber fangen alle Körperzellen zu reden an. Sie singen im Chor. Die Melodie ist wunderschön. Irgendwas singen sie. Man kann einfach ihrem Klang lauschen. Dummheit ist nicht mehr. Nur noch diese harmonische Stimmenvielfalt von anderswo.
 

zeitistsein

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Einsamkeitsgefühle entstehen, wenn man das Gefühl hat, dass nichts irgendwas mit einem zu tun hat. Man fühlt sich fehl am Platz, nicht angesprochen, nicht gemeint.
Manche Leute rennen davor weg. Sie lenken sich mit unnötigem Konsumverhalten ab oder gehen anderen Leuten auf den Geist. Sie benutzen andere als Mülltonne für ihre eigene Misere und das treibt sie noch tiefer in die Einsamkeit.
An ganz schlimmen Tagen fühlt man sich so abgeschottet von der Welt, dass man nichts mehr wahrnimmt. Keine Wörter. Keine Töne. Keine Bedeutungen. Man ist wie lebendig begraben in einem Eisblock. Das innere Nein zur Welt hat das Sagen und wandelt sich zum Nein der Welt zu uns selbst. Eine Totalabsage an die Lebensberechtigung.
 

zeitistsein

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Es war an einem Abend, als im Zug der Sitzplatz vor mir leer war. Seine Leere wurde mir so richtig bewusst und zwar nicht einfach so, dass da keiner drinsass, mit dem man sich hätte unterhalten können oder der zurückblickte, wenn man in seine Richtung schaute. Keiner, der die Beine übereinander schlug oder das Billett zückte, wenn der Kontrolleur sich ankündigte.
Die Leere, die sich auf einmal einstellte, war so, als wäre das, was die Teilchen, die den Sitz als solchen ausmachten, entwichen wäre. Als stünde das Dasein des Sitzes auf der Kippe, als wäre es kraftlos geworden, wie ein ausgebranntes Gerüst, das drohte, jederzeit einzustürzen.
Seit diesem Abend fühlt sich die Welt so an.
Die Fülle ist noch nicht zurückgekehrt.
 

zeitistsein

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Zu den Herausforderungen des Älterwerdens gehört der Umgang mit Erinnerungen. Das Gedächtnis verfälscht so manches, blendet Dinge aus, erfindet neue dazu und tut sich zuweilen schwer, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden.
Manches ist noch sehr präsent, so als wäre es gestern gewesen. Der Tag, als man im Unterricht den Aufsatz zurückbekam, ein "Bravo!" drunterstand, man vom Lehrer zwei Wangenküsse vor der ganzen Klasse aufgedrückt bekam und man nicht wusste, wie einem geschah. Der erste Anblick von Gleichaltrigen als Sechsjährige, nachdem man die ersten sechs Lebensjahre ausschliesslich bei den Eltern und bei Oma verbracht hatte. Auch wieder so ein Umsturz des Weltbildes. Das sind ja meinesgleichen!
Und dann kommen die etwas grösseren Einschnitte. Das allmähliche Entschwinden der Oma, wie die starke, stämmige Frau vom Lande auf 30 Kilo Körpergewicht schrumpfte. Und man nichts dagegen tun konnte. Wie angewurzelt dastehen und die Katastrophe fassungslos, widerwillig beobachten. Auch wieder eine Erfahrung, in der man weder ein noch aus wusste.
Die Verirrung - der rote Faden meines Lebens. In Spanien, wir waren 17 und auf Studienreise, verliefen die Kollegin und ich uns. Fanden den Reisebus nicht mehr. Waren irgendwie angetan von den alten Gebäuden in der Innenstadt. Fanden dann irgendwie doch zurück. Die eine Lehrerin, Kettenraucherin, erwartete uns unruhig, die glatten, schwarzen Haare zu einem Nackenknoten zusammengebunden, der wackelte, während sie mit bebender Stimme fragte, wo wir denn gewesen seien, wir seien zwei Stunden zu spät, wir müssten los, man habe auf uns gewartet.
Zwanzig Jahre später war diese Verirrung sofort Gesprächsthema zwischen mir und der Kollegin beim Klassentreffen. Die anderen hatten das verdrängt. Auch die Lehrerin. Aber uns war es noch immer schleierhaft, warum sich zwei Halbwüchsige mit Stadtplan in einer überschaubaren Gegend verlaufen mussten. Da musste was Grösseres, Über- oder Ausserirdisches eingegriffen haben. Ein unsichtbarer Wolf, der das Rotkäppchen vom Weg abbringt.
Desorientierung war nach Angaben meiner Mutter auch der Zustand meines Vaters gewesen, als sie sich beim Dorffest kennenlernten. Meine gesprächige Oma hatte den Kontakt sanft eingefädelt, hatte das Gespräch geschickt zur Mutter meines Vaters gesucht, die, wie damals üblich, auch am Fest anwesend war und die Jungen beim Tanz beobachtete. Was für ein Zufall, wunderte man sich später, dass sich das Paar und die Mütter im selben Augenblick getroffen hatten. Eine göttliche Fügung, die sich über meine kontaktfreudige Oma den Weg in die Welt gebahnt hatte. Sie wusste immer wo es lang ging, meinte sie, weil sie betete. Das Gebet war ihre Landkarte.
Die vermeintliche Desorientierung ihres späteren Schwiegersohns lastete sie seinem Unglauben an. Es war ihr klar, warum er an Sonntagen und eigentlich zu jeder freien Minute undeutlichen Radiofrequenzen lauschte. Er musste darauf erpicht sein, in dem Rauschen eine jenseitige Botschaft herauszuhören. Vielleicht von seinem viel zu früh verstorbenen Bruder oder seinen ebenfalls verstorbenen Eltern. Oma verstand damals schon, was es mit Transkommunikation auf sich hatte, obwohl ihr der Begriff fremd war. Und sie fand das Unfug. Aberglaube, der die Sinne und den Verstand vernebelte.
Meine Desorientierung war mit ihrem Tod komplett. Unser Leuchtturm war eingestürzt und wir drei, Vater, Mutter und ich nunmehr ziellos herumtreibende Boote. In der Dunkelheit und von den Meerstürmen geschüttelt. Teilweise gingen wir unter und kamen nur lebend an die Oberfläche, weil wir uns im richtigen Moment totstellten.
Die Begegnung mit der Kuh in der Bergeshöhe. Sie hatte sich verlaufen, ihre Herde und damit die Leitkuh aus dem Blick verloren. Und jetzt stand sie regungslos vor mir. Keine Menschenseele weit und breit. Nur wir zwei Verirrten, die einander anstarrten, ich mit einem Bein noch im Auto und hinter der offenen Autotür Schutz suchend, sie, stolz und kräftig, mir ganz klar überlegen, wenn es zwischen uns zum Kampf käme.
Entwurzelung macht aggressiv, steht sinngemäss bei Muriel Barbery, weil Menschen ihre Rituale brauchen, Abläufe, die ihnen Sicherheit geben. In die sie sich einfügen und Geborgenheit erfahren können. Das Gebet kann mit solchen Ritualen einhergehen. Oder selbst ein solches sein. Mit einer meditativen Haltung kann alles zum Gebet werden. Jeder noch so kleine Handgriff. Gott sei auch in den Kochtöpfen vorhanden, schrieb Teresa von Avila und das ganze Leben sei als solches ein Gebet. Ihr Rubens-Porträt hatten die Kollegin und ich in Salamanca, wo wir uns verliefen, gesehen. Ganz im barocken Stil, helldunkel, ein Lichtblick oben links vom Betrachter aus gesehen als Kontrast zum schwarzen Nonnengewand.
Karl Vossler bettete das Porträt in die von ihm genannte Poesie der Einsamkeit ein, wonach die Maler des Barock den denkenden und fühlenden Menschen, sprich: das Individuum, stets einsam gezeichnet hatten. Keine Engelsgestalten rundherum, keine Tiere, noch nicht mal eine Andeutung des göttlichen Auges oder sonstiger metaphysischer Begleitfiguren. Der Mensch in seiner Einsamkeit. Immerhin hält Teresa von Avila eine Feder in der Hand. Sie blickt hinauf, ein Buch in der Hand haltend und, wie es scheint, darin blätternd. Ob der Einsamkeitsbegriff eine treffende Beschreibung für die Gefühlslage der Porträtierten ist?
Die Kollegin erkrankte später an Meningitis und trug auch bleibende Schäden davon. Ihr Vater litt an einem Hirntumor. Sie machte damals schon seltsame Mundbewegungen beim Sprechen. Wurde deswegen ausgegrenzt. Meine Oma meinte Jahre später freundlicherweise, dass ich für die Kollegin in der Situation das gewesen sein musste, was der Lichtschimmer im Gemälde für die Teresa von Avila. So eine Art Öffnung zur Weite hin. Man findet die Ästhetik der Öffnung übrigens auch bei Max Frisch, in den Entwürfen zu einem dritten Tagebuch. Da sind keine in sich abgeschlossenen Kapitel, sondern am Ende jeweils eine Art Cliffhanger, der aber auch nicht nahtlos ins nächste Buchkapitel übergeht, sondern irgendwie die Weite, das offene Meer evoziert, das immer wieder vorkommt. Oder einfach eine Wüstenlandschaft ohne Wegweiser, in der man zunächst von einem sicheren Hafen losgegangen war, aber nunmehr auf gut Glück weitergehen muss. Zwei Stunden mit mir allein war die andere gewesen. Noch nie hatte sich wohl jemand so viel Zeit für sie genommen, um einfach da zu sein und zuzuhören. Um sich einfach mal in Raum und Zeit zu verlieren. Wobei ich ja auch immer eine Aussenseitern gewesen war.
Jedenfalls war das die Botschaft, die sie mir mitgab: Jeder Mensch ist ein Segen für andere. Weil wir Menschen keine eindimensionalen Wesen sind. Unsere Seele verfügt über mehrere Kammern - ein Bild übrigens aus der "Seelenburg" der Karmeliternonne - manche wollen wir mit Gewalt auftreten, bei anderen stehen die Türen weit offen, aber wir weigern uns hineinzugehen. Und wieder andere machen einen verwahrlosten Anschein, bergen aber Schätze. Der Schlüssel zu diesen Kammern sind die anderen, ist die Welt.
Was ich hier niederschreibe, sind Erinnerungen, irreführend in ihrer Unvollständigkeit. Das Schreiben ist ein Tor dazu. Und erfordert den Mut, sich der Seele zu stellen, die Türen nochmal aufzustossen und zu schauen, wer da noch ist, was aus ihm oder ihr geworden ist. Da sind sie ja alle wieder. Keiner ist verloren gegangen. Wie das Gemälde der Teresa de Avila sich heute darstellt, in welchem Winkel das Tageslicht durch die kleinen Fenster darauf einfällt. Und jeder Punkt ist eigentlich nicht der Abschluss des Gedankens, sondern eigentlich ein Stolperstein, der mir den Halt oder die Umkehr bedeutet. Auch Schreiben ist letztlich Beten.


 
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John Wein

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Liebe Zeitistsein,
Zu den Herausforderungen des Älterwerdens gehört der Umgang mit Erinnerungen. Das Gedächtnis verfälscht so manches, blendet Dinge aus, erfindet neue dazu und tut sich zuweilen schwer, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Manches ist noch sehr präsent, so als wäre es gestern gewesen.
Danke für diesen Beitrag, den ich mit meinen Erinnerungen an Salamanca verküpfe. Ich bin vor 3 Jahren dort zufuß unterwegs nach Santiago de Compostela gewesen und auch ein bischen in mein Innerstes.
Das Schreiben ist ein Tor dazu. Und erfordert den Mut, sich der Seele zu stellen, die Türen nochmal aufzustossen und zu schauen, wer da noch ist, was aus ihm oder ihr geworden ist.
...da bin ich ganz bei dir!
Liebe Grüße, John
 

zeitistsein

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Ein neuer Tag. Grau, aber windstill. Keine Neuerungen ausser dem Bewusstsein, dass die Menschen, die einen einst durchs Leben trugen, immer noch da und Teil von einem sind. Was anderes zu vermuten wäre ja Wahnsinn. Könnte das Herz nach seinem ersten Schlag sich vom Organismus abkoppeln? Das Lebensspendende bleibt erhalten. Eine fortwährende Mund-zu-Mund-Beatmung, auch im Geiste.
Wir Weisse, Mitteleuropäer zumal, verkennen die Bedeutung der Gemeinschaft. Aus der Gruppe herauszustechen ist für uns eine Frage des Stolzes und eine Lebensleistung. Die Schwarzafrikaner wissen die Behütung durch die Gemeinschaft viel besser zu schätzen. Siehe Maya Angelou. Sie empfahl, immer alle mitzunehmen, egal, wo man hinging. "Alle" - das waren die Toten und die Lebendigen, die Ahnen, die Fremden, mit denen man einen flüchtigen Blick getauscht hatte, die nährenden Angehörigen, die lieben Nachbarn und alle, die uns Obdach gaben, um auch nur im Bruchteil einer Sekunde zu werden, was wir sind.
Auch die Feinde gehören dazu. Die vermeintlichen Feinde, muss man ja sagen. Denn die hilflosesten, lieblichsten Wesen, wusste schon Rilke, erscheinen oft in Gestalt hässlichster Monster. Sie schreien nach Heimat. Und wir können ihnen diese in unserem Inneren geben. Jeder hat das Zeug, zu einem Haken zu werden, der unsere Lasten trägt, auch die freudigen, die auch zur Bürde werden können.

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Martha sagte, sie hätte eine Katze. Ich fragte, ob Katze oder Kater? Sie verstand nicht. Ich fragte, ob Weibchen oder Männchen. Verstand sie auch nicht. Ich zeichnete die Symbole für Frau und Mann und erklärte. Martha rief laut: Oh!, als sei ihr ein Licht aufgegangen. Sie hält sich jetzt für ein Weibchen.
 

zeitistsein

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Sich übers Blatt beugen und abwarten, was geschieht. Handarbeit ist anstrengend, die Feinmotorik verkümmert, Fingerkuppen wollen die Tasten andrücken.
"Drücken" klingt wie "umarmen" und das geht bei Tasten nicht. Es bleibt beim antippen der Oberfläche, bevor die anderen Finger einspringen. Von allfälligen Nassspuren oder Unreinheiten abgesehen, bleiben die Tasten unversehrt von der Tipperei zurück.

Das Papier saugt alles auf, was man ihm anvertraut. Federt nicht gleich zurück. Lässt sich beeindrucken, will das sogar und zeigt einem, vollgekritzelt das eigentliche Spiegelbild. Weisses Blatt, alles unkonturiert, eine vernebelte Landschaft. Wie den Nebel vertreiben?

Durch sechsbändige Alltagsbeschreibung, wie Knausgard das tat. Dürfen das nur Männer? Als schreibende Hausfrau würde man abschätzig betitelt, täte man dasselbe als Frau. Denn der Alltag eines Mannes, so die Unterstellung, besteht aus der "aventiure", dem Besiegen von Bestien und eigentlich unbezwingbaren Hürden und dem wundersamen, aber gleichwohl erwarteten abendlichen Heimkommen am Ende der täglichen Bewährungsprüfung. Spannung, Ungewissheit. Das will man lesen. Und das fehlt im tristen, gleichwohl behüteten Putz- und Waschalltag der Hausfrau.

Scham zu schreiben und sich wegen der Feigheit schämen, die Scham nicht zu überwinden.

Karierter Teppich, grüngelb, gegenüber der Wohnungseingangstür das Kinderzimmer, links davon das Wohnzimmer mit Terrasse und so weiter. Ob sich das Aufschreiben lohnt. Fraglich.
 

zeitistsein

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Sonniger Sonntag, 20 Grad gerade, Tendenz steigend. Absolut windstill um diese Zeit, 12 Uhr 57. "Schreiben Sie Unsinn", "schreiben Sie falsch", lautet die Anweisung. Die Einladung zum Schreiben steht. Seit Jahrzehnten schon. Ist penetrant, kommt immer wieder, lässt sich nicht ausschlagen. Aber das genaue Hinschauen macht Angst. Weil die Muskeln sich anspannen wie ein Geschirr, das das Zugpferd zurückzerrt, während dieses sich aufbäumt und losgaloppieren will. Kraftverschwendung, die durch die Zufuhr von Vitaminpillen wieder rückgängig gemacht wird.

Heute ist ein schöner Tag. Ruhige Umgebung, kein Streit im Hintergrund, nur in meinem Innern, zwischen Kutscher und Pferd. Strassenmusik ertönt, wird immer lauter, klingt nach dem Vorbeilaufen der Dudelsäcke und Trommeln wieder ab. Jeder Reiz ein Anreiz, Worte zu schreiben, zu fabulieren und zu verfälschen. Absichtliche Falschheit. Das gibt es in den sozialen Medien. Wo einer "Algorhythmus" schreibt, um Kommentare zu provozieren und damit seinen oder ihren Account zu boosten. Oder im Unterricht mit bewusster Falschaussprache, um sich zurückzulehnen, während ich korrigiere. Wieder 5 Minuten Zeit gewonnen, in der die Lehrerin spricht und ich nichts machen muss ausser "Ja", "Okay" und "Danke für die Korrektur" zu sagen, denkt sich der Schüler Damit kann man nichts falsch machen. Diese Sätze beherrscht man. Am Ende Kursbescheinigung, fürs Dagesessen-Haben. Erzielte Fähigkeiten? Fragwürdig, nicht festellbar.

Dubai-Auswanderer. War gestern Thema in einer Fernsehsendung. Leute, die sich in das Land einkaufen und das "Leistung" nennen. Arabischkenntnisse keine. Man schlägt sich mit halbpatzigem Englisch durch. Kleidungsstil, der gewohnte, auch da keine Abstriche nötig. Im übrigen Luxus so weit das Auge reicht. Riesige Einkaufszentren, in denen für Abkühlung gesorgt ist, wenn die Wüstenhitze zuschlägt. Klima- und Konsumoasen für die, die es sich leisten können. Kein Wort über die Slums rundum. Auch das ist Dubai. Das totgeschwiegene. Dabei die Sicherheit im Rücken, jederzeit ins Herkunftsland zurückkehren zu können. Überall Auffangnetze für die weltweit gut Betuchten, nicht so für die wirklich Bedürftigen von nebenan.
 

zeitistsein

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Freifliegende Greifvögel
im Mutterhals des Seelengrunds

ein Erdbeermond
gibt Mondscheinnacht
vom Zaun gebrochen
ohne Widerstand

keine Kinder werfen
über den Zaun
den Greifvögeln
zum Frass

freifliegend
sind sie
im Nächtedunkel
leis und stark

gebt Acht
ihr Rötlichen
die Mondtäuschung
im Meeresgrund
wiegt schwerer
als
der Mondstillstand

ohne Zaun
im Zaun gehalten
greift der Vogel
frei
und leis
und doch
stark.
 

zeitistsein

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Im tiefen Innern
grinst
das Lächeln
breit und schmal
zugleich
ohn´Grund

fletscht Zähne
nicht wissend,
ob schädlich
dem Bund
der Menschen.

Ein Bund,
das sind
zwei Hände,
die eine zur Faust geballt,
die andere
sie haltend,
einen Strauss andeutend.

Der Strauss,
die Mitte
des Bunds.

In seinem Innern
der Frische Grinsen,
im Wissen,
dass sie
bald
verwelkt.
 

zeitistsein

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Beim Denken
bist du
in mir
ein Innenraum
nicht brach,
nicht dumpf,
blühend,
singend
und still.

Ich höre
die Andacht
für dich
im Kleinen
und Grossen
der Adern.

Sonnenschein
wärmt meine Haut.

Nicht du
wärst da,
würde ich
nicht danken.

Und denken.
 

zeitistsein

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Ich habe dir geglaubt,
Legende.

Dein Klang war so sanft
und tröstlich.
Du wiegtest mich in den Schlaf.

Auch dir,
Traumgesicht.

Du warst so schön.
Meine Handfläche streichelte deine Wange
und küsste deine Stirn.

Du lehntest dich zurück,
mit geschlossenen Augen.
Nahmst mich bei der Hand.

Ich fand nicht raus
aus deinem Labyrinth.
Neue kamen dazu.
Zeigten mir Eingänge,
aber keine Auswege
aus dir.

Das Märchen.
Die Erfindung.
Das Als-Ob.

Alles wahr
und doch gelogen.

Ich stürze ein.

Du bleibst bestehen.
Hebst mich nicht auf.
Lässt mich liegen
und hoffen
und weiter
an dich glauben.
 

zeitistsein

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Gedanken zu Elisabeth Bronfens Roman "Händler der Geheimnisse."

Eva und Max sind Kinder einer deutschen Mutter und eines amerikanisch-jüdischen Kriegsveteranen. Nach der Scheidung kehrt der Vater in die USA zurück, Max arbeitet dort als Anwalt, während Eva und die Mutter in Deutschland bleiben.

Elisabeth Bronfens Roman handelt von der Spurensuche des Geschwisterpaars bezüglich des Tods ihres Vaters. Dieser stirbt in den USA, nachdem er ein zweites Mal geheiratet hatte. Die Theaterwissenschaftlerin Eva gelangt sichtlich beeinflusst von Shakespeares Tragödien, mit denen sie sich gut auskennt, zur Überzeugung, die Stiefmutter habe ihren Vater ermordet.

Wie auch bei Hamlet, der vom Geist seines verstorbenen Vaters von dessen Ermordung erfährt und sich nachher daran macht, diesen zu rächen, lässt Eva die Überzeugung von der Schuld der Stiefmutter keine Ruhe. Zusammen mit ihrem Bruder begibt sie sich auf Spurensuche.

Dieser Erzählstrang ist eng verwoben mit dem Thema der Vergangenheitsbewältigung. Denn Eva will von der Mutter wissen, was in den Dreissigern und Vierzigern in Deutschland lief. Die Romanhandlung ist in den Neunzigerjahren angesiedelt, also fünfzig Jahre nach Kriegsende. Doch die Nazizeit geistert nach wie vor in den Familiengeschichten umher, so wie auch Hamlets Vater wiederkommt und von seinem Sohn die Wiedergutmachung des ihm geschehenen Unrechts einfordert. So ist auch Eva wissensdurstig, erhält aber von der Mutter nur tröpfchenweise Auskunft, so wie auch Claudius laut Eingebung des Totengeistes seinem Bruder Gift ins Ohr getröpfelt haben soll.

Spontan stellt sich an dieser Stelle der Gedanke an die Schlange im Obstbaum des Paradieses ein, deren Einflüsterung zu der pauvren Welt geführt hat, die wir heute haben. Dominosteinartig kommen beim Lesen die Einfälle auf; ein Wissensnetz entsteht, der sich durch die Bausteine, die der Roman liefert, laufend erweitert.

Elisabeth Bronfen versteht es sehr gut, die verschiedenen Themenkomplexe zu einem spannenden Krimi zu verweben, in dem mit literaturgeschichtlichen Anspielungen nicht gespart wird, angefangen mit einem Seitenblick aufs Schneewittchen im Motiv der mörderischen Stiefmutter bis hin zur Verflechtung der Handlungsmotive nach dem Prinzip des von Bronfen selbst geprägten Begriffs des Crossmappings.

Fiktion prägt unser Selbstverständnis. Das sieht man nicht nur in individuellen Biografien, sondern auch im Selbstverständnis von Nationen und Kulturen. Der einsame und ausgemergelte Don Quixote wurde weltberühmt als einer, der, Ritterromane für bare Münze nehmend, Windmühlen den Kampf ansagt, in der Meinung, sie seien gefährliche Riesen. Hier leitet ein Einzelner seinen ganz persönlichen Lebenssinn aus einer ganz und gar unpersönlichen Lektüre, unhinterfragt ab. Der ritterliche Lebensstil ist im hageren Ritter zugegen, als die Renaissance längst in vollem Gange ist, so wie Ferdinand Kellers 1912 im barocken Stil gemalte "Silberhochzeit des Kaisers" zeitgleich zu Kirchners expresssionistischem Porträt einer Frau erschien.

In der Literaturwissenschaft ist Crossmapping eine Methode, einzelne Motive über verschiedene Medien erfahrbar zu machen. Im Bereich der Bildgebung meint Crossmapping die Übertragung des Kontrastumfangs eines Bildes von einem High Dynamic Range-System in ein anderes. Literaturwissenschaftlich lässt sich ein Motiv durch Überlagerung verschiedener Medien untersuchen. Das Motiv der mörderischen Schwiegermutter wird bei Bronfen etwa mit dem mörderischen Geist des toten Vaters bei Hamlet in Beziehung gesetzt, sodass hier unterschiedliche Medien ineinandergreifen: Volksmärchen, Tragödie, Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bühnenkunst, alles unter das Oberthema der wirklichkeitsprägenden Macht der Fiktion gestellt und um das Thema der deutschen Vergangenheitsbewältigung erweitert.

Im Ganzen gelingt Bronfen ein komplexes und hochspannendes Stück, nicht zuletzt dadurch, dass sie die Gattung des Krimis noch mit heranzieht. Der Roman liesst sich flüssig und bereitet Freude durch die sprachliche Präzision und den Reichtum in Stil und Wortschatz. Die in den zahlreichen Motiven anklingenden Bilder evozieren eine dichte Landkarte an kulturellem und literarischem Wissen, an das jede:r Leser:in anknüpfen kann. Man kann ins Buch hineinspringen wie in ein Riesenbecken und sich vom darin vorhandenen Wissen tragen lassen.
 

zeitistsein

Mitglied
Das Selbstverständliche ist kaum mehr bewältigbar geworden. Die Buchstaben zu formen. Ein S zum Beispiel oder ein kleines G. Nahezu unmöglich. Als nähme das Ziehen der Tintenlinien auf dem Papier zu viel Zeit in Anspruch, als müsste es schneller gehen und die Buchstaben nahezu epiphanisch darauf erscheinen. Durch Telepathie, eine Art Gedankensprung, vom Hirn auf die Finger direkt auf den Bildschirm.

Schreiben von Hand ist fast nicht mehr möglich, weil die Feinmotorik verkümmert und ihre Instandhaltung kraftzehrend ist. Auch sind die Muskeln aus dem Bewusstsein geraten, man weiss gar nicht, welche angespannt gehören und welche nicht. Eine Riesenverwirrung und ein beängstigendes Abwesenheitsgefühl ist entstanden. So als hätten besagte Muskeln kein Bock, würden den Dienst trotzig verweigern. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Tippen ist nicht Schreiben.

Schreiben ist Gestalt, Nachvollzug, Verbindung, Punkt und Neuanfang.
 

John Wein

Mitglied
Nein, werte zeitistsein,
Tippen ist nicht Schreiben, aber es ist die Schwester und eine neue andere Form des Aufzeichnens.
Deine schönen Gedanken sprechen mich an, ich erkenne eine große Liebe zu Sprache und Literatur.

Du hast die Erinnerung nicht erwähnt, Schreiben beginnt mit und ist auch Erinnerung.
Liebe Grüße,
John
 

zeitistsein

Mitglied
Nein, werte zeitistsein,
Tippen ist nicht Schreiben, aber es ist die Schwester und eine neue andere Form des Aufzeichnens.
Deine schönen Gedanken sprechen mich an, ich erkenne eine große Liebe zu Sprache und Literatur.

Du hast die Erinnerung nicht erwähnt, Schreiben beginnt mit und ist auch Erinnerung.
Liebe Grüße,
John

Hallo John Wein
Danke für deine freundliche Rückmeldung.
Ja, ich würde auch sagen, dass Schreiben und Erinnern zusammenhängen. Beim Schreiben kommt die Erinnerung hoch. Man erschreibt sie sich regelrecht.
Viele Grüsse
Z
 

zeitistsein

Mitglied
Komm. Der Abendrausch ist da und still.
Jetzt nimm nicht Abschied,
denn der Himmel harrt
ausbleibenden Farben.

Noch nicht jetzt.
Morgen.
Vielleicht.

Nimm das Weiss.
Sieh die tanzenden Greise.
Lach wie sie
über erlittenes Leid.
Trag wie sie
stolz deine Narben
zur Schau.
Weiss,
die Wände und Türen.

Noch nicht.
Vielleicht morgen.

Denk an mich.
Nicht an die Kühe,
die fernen.
Sie haben Zeit,
müssen nicht
gebären.

Geh noch nicht.
Bleib bis morgen,
du tanzender Stern
vor weissen Wänden.
 
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