Zu den Herausforderungen des Älterwerdens gehört der Umgang mit Erinnerungen. Das Gedächtnis verfälscht so manches, blendet Dinge aus, erfindet neue dazu und tut sich zuweilen schwer, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden.
Manches ist noch sehr präsent, so als wäre es gestern gewesen. Der Tag, als man im Unterricht den Aufsatz zurückbekam, ein "Bravo!" drunterstand, man vom Lehrer zwei Wangenküsse vor der ganzen Klasse aufgedrückt bekam und man nicht wusste, wie einem geschah. Der erste Anblick von Gleichaltrigen als Sechsjährige, nachdem man die ersten sechs Lebensjahre ausschliesslich bei den Eltern und bei Oma verbracht hatte. Auch wieder so ein Umsturz des Weltbildes. Das sind ja meinesgleichen!
Und dann kommen die etwas grösseren Einschnitte. Das allmähliche Entschwinden der Oma, wie die starke, stämmige Frau vom Lande auf 30 Kilo Körpergewicht schrumpfte. Und man nichts dagegen tun konnte. Wie angewurzelt dastehen und die Katastrophe fassungslos, widerwillig beobachten. Auch wieder eine Erfahrung, in der man weder ein noch aus wusste.
Die Verirrung - der rote Faden meines Lebens. In Spanien, wir waren 17 und auf Studienreise, verliefen die Kollegin und ich uns. Fanden den Reisebus nicht mehr. Waren irgendwie angetan von den alten Gebäuden in der Innenstadt. Fanden dann irgendwie doch zurück. Die eine Lehrerin, Kettenraucherin, erwartete uns unruhig, die glatten, schwarzen Haare zu einem Nackenknoten zusammengebunden, der wackelte, während sie mit bebender Stimme fragte, wo wir denn gewesen seien, wir seien zwei Stunden zu spät, wir müssten los, man habe auf uns gewartet.
Zwanzig Jahre später war diese Verirrung sofort Gesprächsthema zwischen mir und der Kollegin beim Klassentreffen. Die anderen hatten das verdrängt. Auch die Lehrerin. Aber uns war es noch immer schleierhaft, warum sich zwei Halbwüchsige mit Stadtplan in einer überschaubaren Gegend verlaufen mussten. Da musste was Grösseres, Über- oder Ausserirdisches eingegriffen haben. Ein unsichtbarer Wolf, der das Rotkäppchen vom Weg abbringt.
Desorientierung war nach Angaben meiner Mutter auch der Zustand meines Vaters gewesen, als sie sich beim Dorffest kennenlernten. Meine gesprächige Oma hatte den Kontakt sanft eingefädelt, hatte das Gespräch geschickt zur Mutter meines Vaters gesucht, die, wie damals üblich, auch am Fest anwesend war und die Jungen beim Tanz beobachtete. Was für ein Zufall, wunderte man sich später, dass sich das Paar und die Mütter im selben Augenblick getroffen hatten. Eine göttliche Fügung, die sich über meine kontaktfreudige Oma den Weg in die Welt gebahnt hatte. Sie wusste immer wo es lang ging, meinte sie, weil sie betete. Das Gebet war ihre Landkarte.
Die vermeintliche Desorientierung ihres späteren Schwiegersohns lastete sie seinem Unglauben an. Es war ihr klar, warum er an Sonntagen und eigentlich zu jeder freien Minute undeutlichen Radiofrequenzen lauschte. Er musste darauf erpicht sein, in dem Rauschen eine jenseitige Botschaft herauszuhören. Vielleicht von seinem viel zu früh verstorbenen Bruder oder seinen ebenfalls verstorbenen Eltern. Oma verstand damals schon, was es mit Transkommunikation auf sich hatte, obwohl ihr der Begriff fremd war. Und sie fand das Unfug. Aberglaube, der die Sinne und den Verstand vernebelte.
Meine Desorientierung war mit ihrem Tod komplett. Unser Leuchtturm war eingestürzt und wir drei, Vater, Mutter und ich nunmehr ziellos herumtreibende Boote. In der Dunkelheit und von den Meerstürmen geschüttelt. Teilweise gingen wir unter und kamen nur lebend an die Oberfläche, weil wir uns im richtigen Moment totstellten.
Die Begegnung mit der Kuh in der Bergeshöhe. Sie hatte sich verlaufen, ihre Herde und damit die Leitkuh aus dem Blick verloren. Und jetzt stand sie regungslos vor mir. Keine Menschenseele weit und breit. Nur wir zwei Verirrten, die einander anstarrten, ich mit einem Bein noch im Auto und hinter der offenen Autotür Schutz suchend, sie, stolz und kräftig, mir ganz klar überlegen, wenn es zwischen uns zum Kampf käme.
Entwurzelung macht aggressiv, steht sinngemäss bei Muriel Barbery, weil Menschen ihre Rituale brauchen, Abläufe, die ihnen Sicherheit geben. In die sie sich einfügen und Geborgenheit erfahren können. Das Gebet kann mit solchen Ritualen einhergehen. Oder selbst ein solches sein. Mit einer meditativen Haltung kann alles zum Gebet werden. Jeder noch so kleine Handgriff. Gott sei auch in den Kochtöpfen vorhanden, schrieb Teresa von Avila und das ganze Leben sei als solches ein Gebet. Ihr Rubens-Porträt hatten die Kollegin und ich in Salamanca, wo wir uns verliefen, gesehen. Ganz im barocken Stil, helldunkel, ein Lichtblick oben links vom Betrachter aus gesehen als Kontrast zum schwarzen Nonnengewand.
Karl Vossler bettete das Porträt in die von ihm genannte Poesie der Einsamkeit ein, wonach die Maler des Barock den denkenden und fühlenden Menschen, sprich: das Individuum, stets einsam gezeichnet hatten. Keine Engelsgestalten rundherum, keine Tiere, noch nicht mal eine Andeutung des göttlichen Auges oder sonstiger metaphysischer Begleitfiguren. Der Mensch in seiner Einsamkeit. Immerhin hält Teresa von Avila eine Feder in der Hand. Sie blickt hinauf, ein Buch in der Hand haltend und, wie es scheint, darin blätternd. Ob der Einsamkeitsbegriff eine treffende Beschreibung für die Gefühlslage der Porträtierten ist?
Die Kollegin erkrankte später an Meningitis und trug auch bleibende Schäden davon. Ihr Vater litt an einem Hirntumor. Sie machte damals schon seltsame Mundbewegungen beim Sprechen. Wurde deswegen ausgegrenzt. Meine Oma meinte Jahre später freundlicherweise, dass ich für die Kollegin in der Situation das gewesen sein musste, was der Lichtschimmer im Gemälde für die Teresa von Avila. So eine Art Öffnung zur Weite hin. Man findet die Ästhetik der Öffnung übrigens auch bei Max Frisch, in den Entwürfen zu einem dritten Tagebuch. Da sind keine in sich abgeschlossenen Kapitel, sondern am Ende jeweils eine Art Cliffhanger, der aber auch nicht nahtlos ins nächste Buchkapitel übergeht, sondern irgendwie die Weite, das offene Meer evoziert, das immer wieder vorkommt. Oder einfach eine Wüstenlandschaft ohne Wegweiser, in der man zunächst von einem sicheren Hafen losgegangen war, aber nunmehr auf gut Glück weitergehen muss. Zwei Stunden mit mir allein war die andere gewesen. Noch nie hatte sich wohl jemand so viel Zeit für sie genommen, um einfach da zu sein und zuzuhören. Um sich einfach mal in Raum und Zeit zu verlieren. Wobei ich ja auch immer eine Aussenseitern gewesen war.
Jedenfalls war das die Botschaft, die sie mir mitgab: Jeder Mensch ist ein Segen für andere. Weil wir Menschen keine eindimensionalen Wesen sind. Unsere Seele verfügt über mehrere Kammern - ein Bild übrigens aus der "Seelenburg" der Karmeliternonne - manche wollen wir mit Gewalt auftreten, bei anderen stehen die Türen weit offen, aber wir weigern uns hineinzugehen. Und wieder andere machen einen verwahrlosten Anschein, bergen aber Schätze. Der Schlüssel zu diesen Kammern sind die anderen, ist die Welt.
Was ich hier niederschreibe, sind Erinnerungen, irreführend in ihrer Unvollständigkeit. Das Schreiben ist ein Tor dazu. Und erfordert den Mut, sich der Seele zu stellen, die Türen nochmal aufzustossen und zu schauen, wer da noch ist, was aus ihm oder ihr geworden ist. Da sind sie ja alle wieder. Keiner ist verloren gegangen. Wie das Gemälde der Teresa de Avila sich heute darstellt, in welchem Winkel das Tageslicht durch die kleinen Fenster darauf einfällt. Und jeder Punkt ist eigentlich nicht der Abschluss des Gedankens, sondern eigentlich ein Stolperstein, der mir den Halt oder die Umkehr bedeutet. Auch Schreiben ist letztlich Beten.