(Lese-)Tagebuch

5,00 Stern(e) 4 Bewertungen

zeitistsein

Mitglied
Ich,
Ufer oder Fels,
spüre die Welle,
sanft,
dann noch eine
wuchtiger,
Wasser spritzt
über den Rand
mir
auf den Rücken.

Du
liessest einen Stein
über die Wasseroberfläche
hüpfen,
ein Kreis,
klein,
dann ein grösserer,
bis die Wellen
mich
tauften
auf deinen Namen.

Tropfen
sickerten ein
bis hinein
in Herzkammern,
dann in den Blutkreislauf
meiner Seele,
Identität genannt.

Ich
will ein Leuchtturm sein, aber
du
bewirfst mich mit Steinen.
Kein Licht
geht mir auf,
während ich versinke
hin zum Grund.

Naherwartung.

Deine Steine gehen auf dem Wasser.
Du bleibst aus.

Gepflanzt wurde ich im Grund,
dem tiefdunklen.
Nach oben spähe ich
nach Licht.
Steine schweben herab
auf mich,
zu bergen mich
fern
von
dir.
 

zeitistsein

Mitglied
Heute lief wieder mal diese Doku über Land und Leute. Ein Paar berichtete über das gemeinsame Hobby des Bogenschiessens auf Kautschuktiere, die auf einem Gelände verteilt waren. Das Ganze sollte eine Jagdszene nachstellen und war vom Sender Mtv inspiriert; die Tochter war darauf gekommen und die Eltern daraufhin in den Bann dieses Hobbys geraten.

Daraufhin ein Kränzchen älterer Damen auf dem Bildschirm. Sie spinnen Fäden aus Leinen, die sie dann in einen Webstuhl einspannen. Im ZDF, habe ich mir gedacht, lief auch mal so eine Doku. Da vollzog die Kamera jeden Handgriff mit, vom Einfädeln der Nadeln über das Anziehen des Kamms bis hin zur Entwirrung eines Knotens mitten im halbfertigen Muster.

Auf einmal überkam mich tiefes Heimweh. Wieso bin ich hier und nicht dort, wo der ZDF seine Sendungen ausstrahlt? Warum bedeuten mir diese Webstühle nichts? Und diese reizenden Seniorinnen?

Ich schloss meine Augen, mein Kopf fiel in den Nacken. Auch Nick hatte sich an jenem Nachmittag mit geschlossenen Augen zurückgelehnt. Er wollte wohl, so wie ich jetzt, woanders sein statt bei mir. Und es musste ihm, so wie mir jetzt, leidgetan haben. Denn wir sind beide sensible Wesen, wollen keinen enttäuschen, niemanden verletzen. Es tut uns weh, wir leiden mit. Seine linke Hand lag in der meinen, ich dachte es seien Liebe und Wohlgefühl im Spiel. Heute weiss ich, er war innerlich abwesend. Seine Kopfbewegung eine Flucht vor mir, die ineinander verschlungenen Finger nur Verlegenheit.

Ich spüre jetzt auf einmal seine damalige Anstrengung, mich zu mögen. Mit ganzer Kraft muss er versucht haben, sich in mich zu verlieben. Alles vergeblich. Er musste nach plausiblen Gründen für sein Nein gesucht haben, denn es sprach eigentlich nichts dagegen, mich zu heiraten. Er musste gerätselt und an sich gezweifelt und irgendwann das Handtuch geworfen haben. Weil sich die Gefühle nicht einstellen wollten.

Auch ich gebe mir jetzt Mühe. Ich will die Landschaft schön finden, die Leute spannend, forsche nach Liebenswertem inmitten des Widerwärtigen, glaube an das Unsichtbare so fest wie noch nie. Leben als Aushalten. Wie lange noch und mit welchem Ziel?
 
Zuletzt bearbeitet:

zeitistsein

Mitglied
Nicht gut genug zu sein - was für eine Baustelle bei vielen!

Eine Frau wird von einer Modelagentur im Beisein ihrer ehrgeizigen Eiskunstlauf-Mutter abgelehnt. Sie beschliesst daraufhin, ob der Mutter zuliebe oder nicht, bleibt im Dunkeln, sich die Beine operativ verlängern zu lassen, damit die Körpergrösse passt. Denn diese war als Ablehnungsgrund angegeben worden. Nicht weil er stimmte, sondern weil dem Agenten nichts Besseres einfiel. Es war ihm menschlicher, freundlicher erschienen, keine pauschale Absage zu schreiben, sondern wenigstens eine Begründung dafür zu formulieren. Dass seine eigentlich hehre Absicht so dramatische Folgen zeitigen würde, hatte er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht ausgemalt.

Jedenfalls steht irgendwann mal die inzwischen Zwanzigjährige um etwa vier Zentimeter langgezogen wieder vor dem Agenten, in der Hoffnung, jetzt endlich hochgewachsen genug für das grosse Geschäft zu sein. Sie kassiert wieder eine Absage. Die ganze Mühe für die Katz. Die Narkose, der Asienaufenthalt, die Kosten, die mit jeder getroffenen Entscheidung verbundene Erwartung, jetzt endlich auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen - alles vereitelt. Welche Ausrede der Agent dann aufgetischt hat, weiss keiner. Jedenfalls hatte auch dieser schlaflose Nächte, malte sich aus, das wäre eine seiner Töchter gewesen, die diesen unerbittlichen Kampf gegen ihren eigenen Körper führte. War eine zeitlang arbeitsunfähig.

Wie recht der Max Frisch doch hatte, als er schrieb, die Zeit verändere uns nicht, sie entfalte uns nur. Menschen arbeiten an sich, aber sie drehen an den falschen Schrauben.
 

zeitistsein

Mitglied
Die Zeit verändert uns nicht, sie entfaltet uns nur. Wieder das Zitat vor meinem inneren Auge. In letzter Zeit geht es mir nach. ADHS? Das sei so typisch, heisst es. Gedanken wiederkäuen, ein Lied tausendfach abspielen. Ich habe mich nie testen lassen, weil ich nichts von Schubladen halte. Mensch ist Mensch und hat als solcher eigene Wege zur Selbstreflexion. Meiner ist das Schreiben. Mit Diagnosen kann ich nichts anfangen.

Jedenfalls ist da dieses Zitat. Fast schon obsessiv. Es kam mir gestern beim Jäten nochmal in den Sinn. Ich hatte vorher zum Glück Aminosäuren zu mir genommen. Daher schaffte ich die Ecke in gut drei Stunden. Alles gebückt, von Hand mit einer einfachen Blumenschere. Sengende Sonne, aber keine Schwindel- oder Schwächeanfälle. Die Aminosäuren tun's, so meine Vermutung.

Dann die Heimfahrt, nochmal 200 Kilometer, diesmal ohne mich zu verfahren, trotz Anbruch der Dämmerung und dem blendendem Sonnenball direkt gegenüber der Windschutzscheibe, so als würde ich mit dem Auto direkt ins Himmelsfeuer hineinfahren.

Mutter döste auf dem Beifahrersitz. Das macht sie selten. Ich freue mich, werte das als Zeichen des Vertrauens in meine Lenkfähigkeit. Halte die Geschwindigkeit auf 100 km/h, rechte Fahrspur. Links von mir wird überholt, was das Zeug hält. Je mehr Überholungen, desto mehr bremse ich ab, reihe mich hinter das langsamste Auto ein. In dessen Langsamkeit dünkt es mich ein vertrauenswürdiger Wegweiser, weise, umsichtig.

Der Spurwechsel ein Abenteuer, hinter mir unübersichtliches Geblinke in der anbrechenden Dunkelheit. Jeder will woanders hin, ist mit seiner aktuellen Bahn unzufrieden. Sie führt ihn nicht ans gewünschte Fahrziel oder dieses hat sich zwischenzeitlich geändert. Als hätte mich eine unsichtbare Hand von der mittleren auf die rechte Fahrspur gehoben, finde ich mich ganz rechts vor, blinke noch eine Weile weiter, stelle dann ab. Ich ganz allein, Mutter weiterhin dösend, hat den ebenso gefährlichen wie wundersam geglückten Spurwechsel nichtsahnend mitgemacht. Plötzlich wir allein. Weit und breit keine Autos mehr, obwohl wir jetzt in die Stadt eingetreten sind. Ein sommerlicher Samstagabend ohne Verkehrsgewusel, wind- und lärmstill, die einzigen Blinklichter an einsamen Ampeln wie das Nachgespräch zuhause, nachdem die Gäste heimgegangen sind. Eben noch in der Schlange mit unseresgleichen, jetzt umgeben von Asphalt, das nach dem Tagesgeschehen aufatmet und das uns, die letzten Heimkehrer, müde noch erträgt.

Die Zeit hat die Leere entfaltet. Mutter hatte immer Angst davor. Sie umgab sich bewusst mit Menschen und mit lautstarken Fernsehsendungen, um die Leere zu übertönen. Sie wollte weg vom Land. Zu viele schöne Erinnerungen, meint sie, an Dinge, die jetzt nicht mehr sind. Draussen sitzen unter Eichen im Sommer. Einander Geschichten erzählen. Kein Hausschlüssel, das Haustor immer weit offen. Und jetzt diese Stille, die für Mutter Tod, für mich Identität bedeutet. Abseits vom Gleichschritt finde ich zu mir selbst, betrachte mein Werden in der Stille, wie das körnchenweise Sich-Absetzen von Plankton am Boden eines Glases Flusswasser.

"Was für eine komische Lebenseinstellung du hast", meint Mutter. Und weiter: "Wir Menschen brauchen doch den Austausch, das Miteinander. Sich abschotten und einbunkern - das ist doch kein Leben."

Ich finde halt, dass Menschen nicht dazu missbraucht werden sollten, um vor uns selber wegzulaufen. Die Zeit entfaltet uns. Wer sich hinter anderen Menschen versteckt, um die Augen vor dem zu verschliessen, was da zur Entfaltung kommt, der verpasst das Leben. Meine Meinung.

Was sich da äussert, ist nicht immer schön und auch nicht immer angenehm. Aber es will wahrgenommen werden. Achtsamkeit. Es darf sein. Muss nicht verdrängt werden. Wird es verdrängt, kommt es nur wuchtiger durch die Hintertür wieder zurück.
 
Zuletzt bearbeitet:

zeitistsein

Mitglied
Mir lief gestern ein Mann über den Weg - wieder mal, muss man ja sagen -, der in meinem Quartier wohnt. Er spricht einfach drauflos. Redet meistens ziemlichen Unsinn. Und meint, einen auch persönlich zu kennen. Das ist überhaupt eines der Übel hier am Ende der Welt: Man wird und wird einfach nicht in Ruhe gelassen. Jeder ist mit jedem sofort verschwistert und verbrüdert. Mit allem, was dazugehört, einschliesslich der Pflicht, im Notfall einzuspringen und auszuhelfen.
Wer sich wie ich da rausnimmt und die Nachbarn mit einem knappen "Guten Tag" begrüsst, gilt schnell als arrogant und unnahbar. Damit muss ich leben. Dass ich mir mit meinem kurz angebundenen Verhalten keine Freunde machen werde.
Über besagten Mann habe ich aber inzwischen herausgefunden, dass er im stillen Kämmerlein dichtet. Und gar nicht mal so schlecht. Unter der ruppigen Oberfläche verbirgt sich offenbar ein ganzer Schatz an Sprachreflexion, Weltwissen und künstlerischer Sensibilität.
Ich frage mich nun, ob das bei jedem Menschen so ist. Ob jeder von uns dieses Doppelleben führt. Nach aussen banal, leichtsinnig, politisch inkorrekt und fast schon soziopathisch. Nach innen aber tief- und abgründig, die echte Begegnung ersinnend. Und ich frage mich, wessen Schuld es ist, dass mir das immer entgeht.
Liegt es daran, dass die anderen, wie der Mann im Gleichnis vom Schatz im Acker, ihre Schätze zu tief vergraben, aus Angst, sie könnten ihnen weggenommen werden? Oder liegt es an mir, dass ich nicht genau genug hinschaue, um diese Schätze zu entdecken?

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Parable_of_the_hidden_treasure_Rembrandt_-_Gerard_Dou.jpg
 

zeitistsein

Mitglied
Übers Wochenende auf dem Land gewesen. Unkraut gejätet. Schwielen bekommen.
Wessen Land?
Das meiner Vorfahren, heisst es.
Wie sie dorthin kamen, weiss keiner zu sagen.

Jeder denkt, die Vorfahren seien aus dem Boden gespriesst.
Nicht mit Lasttieren und wenigen Habseligkeiten angereist,
sondern einfach da gewesen.
Vielleicht auch vom Himmel gefallen.

Das Haus dort, sagt Mutter, gehörte einst dem und dem. Früher war es eins, jetzt ist es in drei aufgespalten.
Und unseres?
Unseres war auch eins, jetzt in zwei ungleiche Teile aufgeteilt.
Aussen rum ein Chaos.
Keine klaren Grenzen, wer wo durch darf und was der Gemeinschaftsteil ist.
Alles, um die Oma in die Ecke zu drängen, sagt Mutter.
Man wollte sie vertreiben, sie, die Ledige, die Andersdenkende.
Es geht um Zentimeter.

Hiervon wurden wir vertrieben, woanders wurden wir nicht heimisch.
Was also ist unser Land?
 

zeitistsein

Mitglied
Nichts wirft einen so sehr auf die eigenen Wurzeln zurück wie der Tod eines geliebten Menschen.
Tod ist Erdung.
Die Unsichbarkeit
eines Samens -
de profundis keimt
und blüht es auf,
durch den Asphalt hindurch.

Das Bewusstsein der Endlichkeit.
Die nicht aufzuschiebende Frist, das Dasein mittendrin.

Aufschieben - die Verneinung der Frist,
sie übersehen,
übergehen,
während sie kräftig anklopft,
jeden Tag
und gesehen werden will.

Ich existiere.
Unverrückbar
warte ich auf dich mit offenen Armen,
stelle mich dir in den Weg,
wenn du ausweichst
in eine Zuflucht aus
Schwarz,
Bäumen
und Schattenbildern.

Das sagt die Frist.

Rundherum bereitet sie die Kulisse,
mit kläffenden Hunden.
Sie treiben mich in die Arena,
wo ich spielen soll,
das Spiel des Lebens.
 

zeitistsein

Mitglied
Zu Gelong Thubtens Büchern kam ich wie die Jungfrau zum Kinde. Ohne Vorwarnung stiess ich, im Netz nach ganz Anderem stöbernd, auf den Titel "A Monks Guide to Happiness" und empfand die mir unerklärliche Neugier, reinzuschauen.

Denn organisierte Religionen, selbst der eher weniger dogmatisch als eher als Philosophie anmutende Buddhismus, erschienen mir seit Langem schon als selbstbezügliche Veranstaltungen. Dieses Pochen auf Nächstenliebe schien mir ein verdeckter Spendenaufruf an die nach Lebenssinn dürstende Hörerschaft. Du willst was Gutes tun? - Spende mir Geld. So klang es für mich. Auch im Buddhismus.

Selbst diejenigen, die sich schon in die leichtfüssige Prosa eines Matthieu Riccard eingelesen oder schon x Mal versucht haben, den Satz eines Eckhart Tolle, dass die Stille spricht, nachzuvollziehen und dabei gescheitert sind, sollten Thubtens Büchern jedoch zumindest mal eine Chance geben. Man wird überrascht.

Ziel der Meditation, heisst es zunächst, ist gar nicht die geistige Leere. Wie sollte die auch gelingen, fragt sich der Autor, wo doch unser Gehirn unaufhörlich arbeitet. Was die Meditation bezweckt, ist es, um es mit Kierkegaard zu sagen, in ein Verhältnis zur eigenen Innenwelt zu treten. Das Verhältnis aber, bedarf der Verdoppelung: Einmal ist da das wilde Durcheinander beliebiger Gedanken und Gefühle, und zum anderen das Bewusstsein über deren Existenz. Thubten setzt das mit einer dicht befahrenen Landstrasse und dem Beobachter am Wegesrand, der die Autos vorbeiziehen sieht, ins Bild.

Man merkt: Man hat die Wahl, sich mit den Gedanken oder aber mit dem reglosen Beobachter zu identifizieren, der das Verkehrstreiben unbeteiligt zur Kenntnis nimmt und es unbeschadet überlebt.

Der zweite Punkt, den Thubten erläutert, ist ebenso überraschend: Meditation ist kein Aktivismus. Im Gegenteil geht es um Nicht-Tun. Hier fühlt sich der mystikbegeisterte Leser an den Begriff der Entbildung erinnert. Man entledigt sich aller zivilisatorischen Hüllen, um elementar zu werden. Man fällt bis auf den Grund, dem alle Namen und Begriffe entspringen, um es mit Stefan George zu sagen. Man kommt in Berührung mit dem Urgrund allen Seins.

Dass dem so ist, führt Thubten auf die Absicht zurück. Richtiges Meditieren bedarf der guten Absicht. Und die, weit entfernt davon blosse Einbildung zu sein, lässt sich haarscharf im CT-Bild nachweisen. Die Absicht bringt unseren Motor-Cortex in Gang. Wir machen uns startklar, um zur Aktion zu schreiten. Weil der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslösen kann, kann sich auch diese Durchblutung des Motor-Cortex auf den Lauf der Welt auswirken. Die gute Absicht verändert mein Auftreten, ich handle nicht mehr aus Angst, sondern aus innerer Zufriedenheit. Unter Umständen wird das bemerkt und gewürdigt. Schon Matthieu Ricard hatte im Zuge seiner Zusammenarbeit mit der Neurowissenschaftlerin Tanja Singer festgestellt, dass Meditation die Amygdala, das Angst- und Alarmzentrum im menschlichen Gehirn, verkleinert.

Was freilich nicht geht, ist, die Absichten der anderen zu verändern. Jeder muss sein Innenleben schon selbst in die Hand nehmen. Oder wie C.G. Jung einst zu bedenken gab: Psychoanalyse ist keine Massenimpfung und von daher viel zu langweilig und uninteressant. Denn jeder muss bei sich selbst anfangen, im Verborgenen, wo es keiner sieht, abseits von Rampenlicht und Beifall.

Thubten mahnt zur Unterscheidung von Empathie und Mitgefühl. Während erstere reaktiv und also an Erwartungen und Bedingungen geknüpft sein mag, ist das buddhistische Mitgefühl ("compassion") bedingungslos. Es gilt allen Lebewesen, ohne Wenn und Aber, denn man selbst begreift sich als ein Teil davon. Die gute Absicht ist daher viel näher, als es auf den ersten Blick scheint, beim alttestamentlichen Gott, der die in Ägypten versklavten Israeliten unter der Führung des Mose ins gelobte Land zurückführen will. Befreiung geht nicht ohne die Strapazen der vierzigjährigen Wüstenwanderung. Der innere Friede wird immer wieder auf die Probe gestellt. Siebenmal siebenundsiebzig Mal soll man vergeben, sagt Jesus zu Petrus. Der Buddhismus wusste, nach Thubtens Buch zu urteilen, schon ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt, dass das Wesen des Retters grundverschieden von demjenigen des Schützlings zu sein hat. Wäre es anders, würden beide im Notfall untergehen. Thubten stellt klar, dass dieser Wesensunterschied in jedem Individuum selbst angelegt, leicht zugänglich und erfahrbar ist. Schwierig dabei ist nur die Praxis.

Wir sind von Menschen umgeben, denen die gute Absicht nichts bedeutet. Die Psychologie hat das Ihre dazugetan, indem sie Menschen einredete, sie handelten aus reinem Eigennutz altruistisch und keineswegs aus echtem Bemühen um das Wohlergehen des Anderen. Mehr als einer wurde schon durch diese pseudowissenschaftliche Umdeutung der eigenen Absicht entmutigt, bis hin zum Verlust des Lebenssinns.

Thubtens Buch erinnert an die innere Verbundenheit aller Lebewesen. Das Wohlergehen des anderen ist grundlegend für mein eigenes Wohlergehen. Somit ist die Natur des Menschen zutiefst altruistisch. Uns allen wohnt das Bewusstsein unserer Einheit und Gleichheit inne. Leben wir im Einklang damit, tun wir uns und der Welt einen Gefallen. Sagen wir uns davon los, gereicht uns dies über kurz oder lang zum Nachteil.

Das Schöne ist: Wir haben's in der Hand, die gute Absicht zu kultivieren oder uns vom Schlechtdenken und Schlechtreden in den Abgrund reissen zu lassen.
 

zeitistsein

Mitglied
Faulheit des Lesers

Gelesen wie geschrieben.
Kein Forschen nach Hintergründen.
Interesselosigkeit.
Ich verstehe alles, wie ich will.
Ich bin der Nabel der Welt.
Ein Kaiser, der das ihm Vorgesetzte mit Daumen hoch oder Daumen runter quittiert.
Ein Urteilender,
kein Verstehender.

Noch nicht mal ein verstehen Wollender.

Noch nicht mal ein Wollender.

Was ich will, ist
nichts als
Achselzucken.
 

zeitistsein

Mitglied
Die Schweiz sei ein Missverständnis, sagen einige. Eine Mischung aus Mythen, subjektiven Perspektiven und überhöhten Heimatgefühlen. Als moderner Bundesstaat wurde sie am 12. September 1848 mittels Bundesverfassung gegründet. Der Rütlischwur aber soll sich im Jahr 1291 ereignet haben. Auf der Rütliwiese, wo noch heute am 1. August der Nationalfeiertag begangen wird.

Die drei Urkantone, Uri, Schwyz und Unterwalden besiegelten laut der Legende den Treueeid, auf den sich Eidgenoss:innen bis heute berufen. Der heutige Nationalfeiertag ist also kein Fest, sondern eine Tradition. Man bekennt sich zum Zusammenhalt und weg von der Imperialpolitik. Beispielhaft dafür: das Durchwursteln der Schweiz beim Wiener Kongress. Hochinteressant. Tausendmal besser und bewundernswerter als die Alternative des Totschlagens und Totgeschlagenwerdens.

Die Schweiz, die sich dazu bekennt, ist also alles andere als ein Missverständnis. Vielmehr vernünftig und wünschenswert.

Auf weitere 734 Jahre. Einen schönen 1. August.
 

John Wein

Mitglied
Ein kleines, schönes Land mit hohen Bergen, reichen Konten und prima Käse. Aber das wohl bedeutsamste: es ist eine gut funktionierende Demokratie. Ach, hätten wir in D doch auch einbisschen Schweiz.
Herzlichen Glückwunsch Helvetia.
 

wirena

Mitglied
...ja und dann gibt es vorallem auch Höhenfeuer in den Bergen und Feuer im Land zum Zeichen: Ende der Knechstschaft.

Als Kind habe ich mitgeholfen in den Bergen das Holz zusammenzutragen für das Feuer. Nachts sind wir dann um das Feuer gesessen und haben gesungen. Kein Feuerwerk und Raketen, Knaller. Nur Feuer und Gesang.

Dies sind meine Kindheitserinnerungen zum 1. August. Dieses Jahr habe ich von einer Terasse aus Feuer gesehen im Land und ein fulminantes Feuerwerk mit Raketen und und Knaller. Tiere und Kinder haben aber Angst davor -
 

John Wein

Mitglied
Ich kann da auch noch was zufügen,

Weggis träumte in der Abendsonne. Oberhalb, auf den Höhen des Rigi, lag noch ihr rötlicher Duft, mit dem sie sich anschickte dem Tag Lebewohl zu sagen. Über dem See hatte sich mittlerweile die Dämmerung ausgebreitet, sanft wehte ein milder Atem herüber und auf dem gegenüberliegenden Bürgenstock zeigten die ersten Häuser schon Licht. Es war die Stunde, an dem der Tag sich im Abendfrieden sammelt und die Menschen zur Melancholie neigen.

aus "What is like"
LG; John
 

zeitistsein

Mitglied
...ja und dann gibt es vorallem auch Höhenfeuer in den Bergen und Feuer im Land zum Zeichen: Ende der Knechstschaft.

Als Kind habe ich mitgeholfen in den Bergen das Holz zusammenzutragen für das Feuer. Nachts sind wir dann um das Feuer gesessen und haben gesungen. Kein Feuerwerk und Raketen, Knaller. Nur Feuer und Gesang.

Dies sind meine Kindheitserinnerungen zum 1. August. Dieses Jahr habe ich von einer Terasse aus Feuer gesehen im Land und ein fulminantes Feuerwerk mit Raketen und und Knaller. Tiere und Kinder haben aber Angst davor -

Es ist so schön und bedeutungsvoll, was du schreibst, Wirena.
Wir sollten wieder zur Tradition finden und wegkommen von dieser lauten Sensationslust. Die ist ja eigentlich so gar nicht schweizerisch.
Viele Grüsse.
 

zeitistsein

Mitglied
Heute waren wir in der Röntgenabteilung. Mutter musste eine CT der Halsschlagadern machen lassen. Mit Kontrastmittel. Wir haben lange hin und her überlegt, ob sie sich das antun soll, aber Mutter wollte es tun, also habe ich da nichts zu vermelden.
Wir - was heisst wir? - Mutter kam recht schnell dran. Sie schien sich regelrecht auf die Prozedur zu freuen, während ich innerlich zitterte, mir aber nichts anmerken liess.
Ein Taxi hatte uns hingebracht, ganz einfach deshalb, weil der Verkehr hierzulande unmöglich ist und die Busse unregelmässig fahren. Wir wollten keine Verspätung riskieren.
Um 9.26 Uhr zogen wir am Eingang das Ticket für die Untersuchung, die für 10 Uhr angesetzt war. 10 Uhr sei, so steht es gut lesbar auf dem Ticket, die Meldezeit, nicht die Uhrzeit, um die man drankäme.
Um 10.20h, also mit zwanzigminütiger Verspätung wurde Mutter in den CT-Saal gerufen. An der Tür ein Warnschild betreffend radioaktiver Strahlung. Ich ging in die Umkleidekabine mit, half Mutter aus ihrem weissen T-Shirt und in den grünen Netzumhang, nahm ihr Brille und Gebiss ab und liess sie ins innere des Röntgenraums ziehen. Die Schwester hatte sie abgeholt, die Tür hinter sich zugeschlossen und mich in der winzigen Umkleidekabine zurückgelassen, wo ich durch die Tür alles hören konnte, was gesprochen wurde.
Die Radiologin weiss, dass sie gehört wird und spricht deswegen extra laut. Sie will sich nichts zu Schulden kommen lassen. Bedenken der Patient:innen übergeht sie, sondern beschränkt ihre Rede auf die einstudierten Sätze: "Bitte den Arm ganz ausstrecken und stillhalten." "Ausatmen." "Nicht atmen." "Weiteratmen".
Nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei. "Langsam aufstehen", höre ich die Frau rufen. "Warten Sie, ich helfe Ihnen". Danach geht die Tür auf und Mutter kommt herausgetorkelt, die Kanüle für das Kontrastmittel noch im Arm.
Es ist 10.45 Uhr, danach bleibt sie noch eine ganze Weile sitzen, bis die Kanüle herausgenommen wird. Mutter wirkt wach und erleichtert. Sie ist voller Tatendrang und macht Einkaufsvorschläge für das Mittagessen. "Jetzt gehen wir erstmal heim", sage ich. "Du hast ja noch nichts gefrühstückt."
Mutter ist in Gedanken schon bei der Nachuntersuchung am 29. September. Sie skizziert, was sie den Arzt dann fragen wird, während ich überlege, ob ich dann noch am Leben sein werde.
Manchmal denke ich, Mutter lebt ewig, während ich bereits gestorben bin.
 

wirena

Mitglied
...ergreifend Deine Schilderung zeitistsein - da fehlen eigentlich Worte - doch mir kommt ein Spruch in den Sinn, den ich hörte von einer Bündnerin: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker" - daran halte ich mich seither - LG wirena
 

zeitistsein

Mitglied
Heute haben wir satte 8 Euro für ein paar Erdbeeren, einen Kopfsalat und einen halben Kilo Grünbohnen ausgegeben. Mutter wollte in jenem kleinen Gemüseladen einkaufen, um sich nach einem Bekannten zu erkundigen.
Dieser, so liess die Ladenbesitzerin verlauten, sei unter die Obhut des Sohnes gestellt worden. Zum Sterben. Eine Rückkehr sei nicht wahrscheinlich.
Wieder eine leere Wohnung und ein bekanntes Gesicht weniger auf diesen Quartierstrassen.
Mutter kommt nachdenklich wieder aus dem Laden heraus und berichtet mir die Neuigkeiten.
Sie weiss nicht, was den Nachbarn eher umbringen wird, seine zahlreichen Erkrankungen oder aber der Heimatverlust, das Einziehen beim pensionierten Sohn, der Verlust an Selbstständigkeit, das Aufgeben des Autofahrens, der Verkauf des Kleinwagens.
Wir mutmassen, dass er wohl er an Letzterem sterben wird.

Ob Mutter das Thema anschneidet, weil sie ahnt, wie mir zumute ist? Ob sie merkt, dass ich eingehe? Dass ich vor Heimweh langsam versterbe?
Ich denke, sie merkt das. Aber sie hat keine Sprache dafür. Daher nimmt sie den Umweg über den Nachbarn, die flüchtige Bekanntschaft, der wir immer freundlich begegnet sind, die uns aber nicht nahesteht.

Im Nebensächlichen ist das Wichtige verpackt. Bei Mutter war das schon immer so.

Sollte ich sterben, wird es aus Liebe zur Heimat sein. Am gebrochenen Herzen über die Entfernung zu ihr. Liebe ist ein schöner Todesgrund.
Ein unvermeidlicher.
Ich sterbe, also liebe ich.
Und umgekehrt.
 
Zuletzt bearbeitet:

zeitistsein

Mitglied
Aus schlechten Erfahrungen etwas Positives machen - wie geht das?
Die Zeit kann man ja nicht zurückdrehen und in einem drin ist immer diese Stimme, die einen mahnt: Du hast doch, du hast aber, usw. Sie lässt nicht locker, diese Stimme. Ihre Vorwürfe sind lautstark. Sie weigert sich zu vergeben und ihre Vorwürfe blockieren einen.
Es braucht lange, bis man ihre Strategie durchschaut. Denn diese Stimme schwächt einen ungemein. Man ist entmutigt, lässt alles nur noch auf sich zukommen, wird vom Gestaltenden zum Patienten, der mehr oder weniger geduldig darauf wartet, dass das Leben vorbei ist.
Ich bewundere die Leute, die es schaffen, auf die richtige Stimme in ihrem Inneren zu hören. Sie wehren sich gegen das Erniedrigende in ihnen und das, was sie davon abhalten will, ganz aufzublühen.
Von aussen betrachtet sieht das so leicht aus. Einfach leben. Alles hinter sich lassen.
Aber diese vorwurfsvolle Stimme in einem ist laut und mächtig. Sich ihr zu widersetzen ist alles andere als leicht. Schnell ist man von ihr geknechtet, macht aus dem damaligen Fehler eine Identität, die bis zum Tod unverrückbar bleibt.
"Jede Tat ist ihr eigenes Denkmal", steht bei Frankl.
Der Satz ist ermutigend gemeint, hat aber eine negative Kehrseite. Denn für jemanden, der von Vorwürfen und von diesem inneren Faschisten, der einem tagein tagaus im Kopf plagt, gequält wird, klingt er wie "Jede Tat ist ihr eigenes Mahnmal", nach dem Motto: Das bist du und das wirst du immer bleiben.
Frankl meinte wohl, dass der Mensch zu beidem fähig ist: zum Guten wie zum Bösen. Wer das Zeug hat, Mist zu bauen, hat es auch, um Gutes zu tun. Aber den eigentlichen Punkt hat Frankl verkannt. Die Verwechslung eben von Denk- und Mahnmal bei den Menschen, die keinen konstruktiven Umgang mit schlechten Erfahrungen hinkriegen.
Ich versuche, den Begriff Denken an denjenigen der Dankbarkeit zu koppeln, wie Heidegger es tat.
Der Satz "Jede Tat ist ihr eigenes Denkmal" verliert dann seinen Schrecken für mich und entfaltet auf einmal eine ungeahnte Schönheit: Das Denkmal ist dann nicht mehr Mahnung, kein erhobener Zeigefinger mehr, sondern vielmehr Anlass zum Danken. Ich denke an den Fehler und empfinde Dankbarkeit fürs Zurückschauen-Können. Für die Erkenntnis. Auf einmal bin ich wieder bei mir selber, meiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit gewahr.
Andere tun das beim Malen oder beim Musizieren.
Ich tue das schreibend. Aber auch das will gelernt sein - sich dem Prozess zu überlassen, nicht gross konstruieren, sondern darauf vertrauen, dass sich die grosse Vernunft des Dankes meldet, wenn sie zeilenlang angerufen wird.
Diese Muse will beworben werden. Und manchmal regt sie sich sogar.
Wenn auch nur ein kleines bisschen.
Man muss nicht viel tun, quantitativ gesprochen.
Ein kleines, leises "Danke" tut's völlig.
 
Zuletzt bearbeitet:

wirena

Mitglied
Danke zeitistsein für das Mitteilen Deiner Gedanken - ja, Dankbarkeit ist auch für mich ein zentraler - hmmm welches Wort gibt es dafür? - /Teil des Lebens - ich denke Du verstehst - LG wirena
 

zeitistsein

Mitglied
Danke zeitistsein für das Mitteilen Deiner Gedanken - ja, Dankbarkeit ist auch für mich ein zentraler - hmmm welches Wort gibt es dafür? - /Teil des Lebens - ich denke Du verstehst - LG wirena

Danke für deinen Post, wirena. Mitteilen tue ich sie eigentlich nicht, d.h. ich setze keine Leserschaft voraus. Ich notiere sie einfach.
Viele Grüsse.
 



 
Oben Unten