Tonio Kröger
Anscheinend wurde Manns "Tonio Kröger" neu ins Japanische übersetzt. Zum sechzehnten Mal.
Ich habe nie verstanden, warum das Werk als Novelle daherkommt, wo es doch kaum ein Strukturmerkmal derselben besitzt.
Laut der Definition von Goethe erzählt die Novelle eine "unerhörte Begebenheit" und beinhaltet einen Wendepunkt, der die Handlung in eine überraschende Richtung lenkt. So gesehen ähnelt die Novelle dem Witz, dessen Pointe, wie Freud herausgefunden hat, ebenfalls in einem überraschenden Erkenntnismoment besteht.
Anagnorisis ist der Begriff, den Aristoteles für die Wahrheitserkenntnis geprägt hat, die in der Erzählhandlung stattfindet. Da erkennt Penelope im Fremden auf einmal ihren verschollenen Ehemann wieder. Und Hekabe entlarvt den Busenfreund als Mörder ihres einzigen Sohnes. Die Anagnorisis führt zur Katharsis, zur Läuterung dadurch, dass dem Publikum, das sich in der Hauptfigur wiedererkennt, ein Licht aufgeht.
Tonio Krögers Erkenntnis ereignet sich nicht momenthaft, sondern in einem schleichenden Prozess, als wäre er die Hauptfigur eines Bildungsromans: die Gleichgültigkeit des von ihm angebeteten Hans Hansen, die Gespräche mit Lizawetta, die Dänemarkreise bilden allesamt den Rahmen für das der Lizawetta in den Mund gelegte Fazit, dass er ein verirrter Künstler sei. Keine überraschende Wende ist das, sondern eine nach und nach sich entfaltende These, die sich folgerichtig aus der vorangegangenen Handlung ergibt.
Ein kurzer Thesenroman - ob diese Gattungsbezeichnung wohl besser passt?
Der Falke, das Dingsymbol, das der Novelle seit ihrer Entstehung bei Boccaccio eigen ist und als Überbringer einer Botschaft fungiert, fehlt bei Tonio Kröger ebenfalls.
Weiter stellt sich die Frage, was denn die unerhörte Begebenheit ist, die erzählt werden soll. Die homoerotische Anziehung passt nicht in diese Kategorie, denn sie zieht sich eher leitmotivisch durch den Text, wobei das Leitmotiv in vielen Fällen das Dingsymbol abzulösen vermag.
Etwas näher kommt man der Bedeutung der Mannschen Gattungsbezeichnung, wenn man diese nicht bloss als solche, sondern auch als juristischen Begriff in Betracht zieht. Demnach ist eine Novelle ein gesetzlicher Nachtrag zu einem bereits erlassenen Gesetz.
In Manns Novelle scheinen sich zwei gegensätzliche Gesetzlichkeiten gegenüberzustehen, nämlich diejenige des Künstler- und diejenige des Bürgertums, deren Vereinbarkeit versucht, jedoch gen Ende der Erzählung als aporetisch abgestempelt wird.
Der sportliche und allseits beliebte Hans Hansen ist dabei nicht so sehr das Kontrastprogramm zu Tonio Kröger, sondern vielmehr die Projektionsfläche, die Kröger immer aufs Neue auf sich selbst zurückwirft. Die zwei Gesetzmässigkeiten sind ein in Kröger selbst angelegter unlösbarer Widerstreit, gar nicht so sehr im Sinne des aufklärerischen Auseinanderdriftens von Pflicht und Neigung, sondern eher als Nietzschescher Januskopf:
"Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängnis: ich bin, um es in Rätselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese doppelte Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, décadent zugleich und Anfang – dies, wenn irgend etwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältnis zum Gesamtproblem des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet. Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür – ich kenne beides, ich bin beides." (Ecce homo, Warum ich so weise bin).
Im Unterschied zum klassischen Novellenheld sieht sich Kröger in keine Begebenheit verwickelt, die der Leser voyeuristisch-belustigt zur Kenntnis nimmt, um sie dann sensationslustig weiterzuverbreiten. Vielmehr folgt der Erzählfluss der Nietzscheschen Zweiheit von Niedergang und Anfang, die mit der Kausalität zwischen doppelter Herkunft und Parteifreiheit einhergeht. Spinozas Lehrer, Uriel da Costa, ist ein Beispiel für den verheerenden Ausgang einer solchen Perspektive: Im Versuch, Protestantismus, Katholizismus und Judentum unter einen Hut zu bringen, nahm er sich das Leben. Der Brückenbau ist nicht gelungen, der metaphorische Prozess, sprich: der Prozess der Bedeutungsübertragung von einem Glaubenssystem ins andere endete in öffentlicher Demütigung und dem darauffolgenden Selbstmord.
Ich bringe Nietzsche auch deshalb ins Spiel, weil sein Zarathustra-Kapitel "Vom Gesicht und Räthsel" nach einem den Ecce homo-Ausführungen ähnlichen Doppelheitsprinzip aufgebaut ist. Auf den ersten Blick ist dessen Aufbau dem novellistischen verblüffend ähnlich. Doch schon bald glänzen wie auch bei Tonio Kröger die klassischen Strukturmerkmale der Novelle darin durch Abwesenheit. Die janusköpfige Textstruktur besteht bei Nietzsche darin, dass der Erzählakt der Fibonacci-Formel folgt, wonach die jeweils dritte Zahl die Summe der beiden vorangegangen Zahlen ist und der Mitte der Zahlenreihe einen Bruch aufweist. Es gibt also gewissermassen zwei Textblöcke, deren Mitte ungefähr bei der Zeile 56 liegt.
Ob die Textgestalt des "Tonio Kröger" eine ähnliche zwiegespaltene Form aufweist, ist derzeit noch eine offene Forschungsfrage. Kluge Köpfe, die an vorderster Front forschen, mögen sich ihrer Beantwortung widmen.