-
Empfohlener Beitrag
- #1
Liebe, ganz einfach.
Die Jolle machte gute Fahrt. Er hatte zwar keine Erfahrung im Segeln, aber so eine drei-Meter-fünfzig Kunststoffschale mit einem einzigen Lateinersegel war
leicht zu bedienen. Der Wind kam schräg von der Seite, es war kalt, aber wirklich unangenehm waren die Nebelschwaden auf dem Wasser. Wie weit er jetzt
wohl von der Küste weg war? Vielleicht einen Kilometer, oder waren es schon zwei? Die Flics würden jetzt bereits den ganzen Strand, ja die ganze Küste
zwischen St.Malo und Cancale nach ihm absuchen. Und das Hinterland natürlich. Auf die Idee, dass er auf dem Wasser war, würden sie nie kommen.
Freund Zufall war wirklich im richtigen Moment aufgetaucht. Da wurde er in einem dieser Kastenwagen transportiert, zum Verhör im Kommissariat.
Das mit dem Banküberfall in Cancale war Pech gewesen - haut der Kerl ihm doch die Spielzeugpistole glatt aus der Hand und springt ihn an. Na ja, mit solchen
Helden mußte man anscheinend immer rechnen. Helden waren auch die beiden Experten, die ihn dann gefahren hatten. Setzt doch der Fahrer den Wagen
nach einer leichten Kurve in den Graben, und glücklicherweise auch noch vor einen Baum. Der Aufprall war ordentlich, zumindest so ordentlich, dass bei ihm
hinten die Tür von alleine aufsprang. Und bis sich die beiden Schlafmützen vorn aufgerappelt hatten, war er natürlich längst weg. Schnell durch die Felder, über
die Straße, Richtung Strand, bloß weg. Dann am Campingplatz vorbei, hauptsächlich mit Wohnwagen belegt, kaum noch Zelte. Viele holländische
Autonummern darunter, Landsleute. Die machten noch Urlaub jetzt, Mitte September, genau wie er. Nur, dass er eben die Urlaubskasse etwas aufbessern
wollte, die Idee war ihm plötzlich gekommen, als er die kleine Bankfiliale gesehen hatte.
Weiter, am Campingplatz vorbei, runter an den Strand. Kein Mensch war zu sehen, als er die Jolle entdeckte, die auf den Strand gezogen worden war.
Das Segel lag drin, alles war vorbereitet, beinahe wie vorher bestellt. Keiner hatte seine Flucht bemerkt, und jetzt war er weit genug draußen. Woher nur der
Nebel kam? Das Ufer konnte er nicht mehr sehen, rings um ihn nur Wasser. Anscheinend war Flut, das Boot klatschte stark auf die Wellenkämme.
Aber langsam mußte er sich Gedanken machen, wohin die Reise gehen sollte. Nur weg von der Küste?
Nein, das war nicht egal. Langsam, nur nichts überstürzen. Vor seinen Augen tauchte das Bild aus seinem Autoatlas auf. Also, er befand sich im Golf
von St.Malo, das war klar, und er segelte geradewegs von der Küste weg, gen England. Rechts von ihm folglich die Halbinsel Cotentin, immer noch Frankreich.
Aber direkt vor ihm die Kanalinseln, königlich-britisches Territorium. Jersey, Guernsey, Sark, Alderney....diese vier fielen ihm ein. Eine davon genügte ihm.
Der verdammte Nebel! Die verdammte Kälte! Das Boot machte gute Fahrt, sehen konnte er nichts, aber wenn doch nur diese Kälte nicht wäre!
Er wußte nicht, wie lange er bereits völlig übermüdet und ausgelaugt in der Jolle zusammengesunken gelegen hatte. Plötzlich knirschte Sand unter dem Kiel.
Das Boot stoppte abrupt, das Segel flatterte jetzt lose im Wind, da er instinktiv sofort die Halteleine losgelassen hatte.
Mit Mühe öffnete er seine von Salz und Meerwasser verkrusteten Augenlider. Er sah zwei Personen, einen Mann und eine Frau. Sie kamen angerannt.
Die Frau zog die Jolle höher auf den Sand, raus aus dem Wasser. Schnell zupackend, sie wußte was sie zuerst tun mußte. Den Mann hatte sie mit einem
kurzen Satz weggeschickt, er rannte sofort los. Dann erst blickte sie ihn an.
"Mein Bruder holt etwas zu trinken und Gebäck. Bleiben Sie ganz ruhig! Sie wirken völlig dehydriert - einen kleinen Moment noch, er kommt gleich zurück!"
Sie sprach englisch. Das verstand er sofort, wie viele andere Holländer auch beherrschte er die Sprache nahezu perfekt.
"Wo bin ich?"
Es fiel ihm schwer, diese kurze Frage zu artikulieren. Denn auch seine Lippen und seine Mundwinkel waren mit Salz überzogen.
"Auf Alderney! Mein Gott, warten Sie! Erst trinken Sie, und dann sprechen Sie.."
Sie trug abgewetzte hellblaue Jeans, gelbe Gummistiefel und einen dicken blauen Wollpullover. Darüber eine dunkle Jacke.
Diese Jacke zog sie jetzt aus und beugte sich zu ihm in das Boot.
"So, Moment...."
Mit ihrer rechten Hand griff sie vorsichtig hinter seinen Kopf und hob ihn sanft an. Mit der anderen Hand schob sie dann ihre zusammengefaltete Jacke
behutsam darunter.
"So, das ist doch besser, oder? Da kommt er endlich, mein Bruder..."
Er sah jetzt erstmals ihr Gesicht, ganz nah. Ungeschminkt, die braunen Haare vom Nieselregen nass, sie klebten ihr rechts und links an den Wangen.
Sie war in seinem Alter. Sie roch nach Salz, Meerwasser und Seeluft.
"Ich bin geflüchtet....ich hab' eine Bank überfallen wollen....ich...."
"Pschsst....gleich....oh, ich liebe Geständnisse!"
Und, sich zu ihrem Bruder umdrehend:
"Danke, David! Jetzt wird unser Bösewicht aber erst einmal etwas trinken....!"
Sie öffnete die Thermoskanne mit dem Tee. Dann hielt sie den Becher an seine Lippen und blickte ihn dabei erneut an.
Und in diesem Moment passierte es. In diesem einen göttlichen Moment, da passierte es. Diesen Moment konnte man nicht künstlich erschaffen.
Man erlebte ihn einmal, oder vielleicht nie. Es gab ihn, aber er war sehr selten. Und er war unbezahlbar, mit Geld konnte man ihn nicht kaufen.
Ihre Augen trafen sich. Er blickte ihr in ihre Augen. Sie blickte ihm in seine Augen. Vier gemeinsame, jetzt ganz tief miteinander verbundene Augen, wie
versteinert verharrend. Zeit und Raum standen plötzlich völlig still. Ihre Gesichter waren sich ganz nah. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig,
vierundz.....
Es dauert nur drei, vielleicht vier Sekunden. Maximal fünf. Nur wer es selbst erlebt hat, der weiß, dass das stimmt.
Die Jolle machte gute Fahrt. Er hatte zwar keine Erfahrung im Segeln, aber so eine drei-Meter-fünfzig Kunststoffschale mit einem einzigen Lateinersegel war
leicht zu bedienen. Der Wind kam schräg von der Seite, es war kalt, aber wirklich unangenehm waren die Nebelschwaden auf dem Wasser. Wie weit er jetzt
wohl von der Küste weg war? Vielleicht einen Kilometer, oder waren es schon zwei? Die Flics würden jetzt bereits den ganzen Strand, ja die ganze Küste
zwischen St.Malo und Cancale nach ihm absuchen. Und das Hinterland natürlich. Auf die Idee, dass er auf dem Wasser war, würden sie nie kommen.
Freund Zufall war wirklich im richtigen Moment aufgetaucht. Da wurde er in einem dieser Kastenwagen transportiert, zum Verhör im Kommissariat.
Das mit dem Banküberfall in Cancale war Pech gewesen - haut der Kerl ihm doch die Spielzeugpistole glatt aus der Hand und springt ihn an. Na ja, mit solchen
Helden mußte man anscheinend immer rechnen. Helden waren auch die beiden Experten, die ihn dann gefahren hatten. Setzt doch der Fahrer den Wagen
nach einer leichten Kurve in den Graben, und glücklicherweise auch noch vor einen Baum. Der Aufprall war ordentlich, zumindest so ordentlich, dass bei ihm
hinten die Tür von alleine aufsprang. Und bis sich die beiden Schlafmützen vorn aufgerappelt hatten, war er natürlich längst weg. Schnell durch die Felder, über
die Straße, Richtung Strand, bloß weg. Dann am Campingplatz vorbei, hauptsächlich mit Wohnwagen belegt, kaum noch Zelte. Viele holländische
Autonummern darunter, Landsleute. Die machten noch Urlaub jetzt, Mitte September, genau wie er. Nur, dass er eben die Urlaubskasse etwas aufbessern
wollte, die Idee war ihm plötzlich gekommen, als er die kleine Bankfiliale gesehen hatte.
Weiter, am Campingplatz vorbei, runter an den Strand. Kein Mensch war zu sehen, als er die Jolle entdeckte, die auf den Strand gezogen worden war.
Das Segel lag drin, alles war vorbereitet, beinahe wie vorher bestellt. Keiner hatte seine Flucht bemerkt, und jetzt war er weit genug draußen. Woher nur der
Nebel kam? Das Ufer konnte er nicht mehr sehen, rings um ihn nur Wasser. Anscheinend war Flut, das Boot klatschte stark auf die Wellenkämme.
Aber langsam mußte er sich Gedanken machen, wohin die Reise gehen sollte. Nur weg von der Küste?
Nein, das war nicht egal. Langsam, nur nichts überstürzen. Vor seinen Augen tauchte das Bild aus seinem Autoatlas auf. Also, er befand sich im Golf
von St.Malo, das war klar, und er segelte geradewegs von der Küste weg, gen England. Rechts von ihm folglich die Halbinsel Cotentin, immer noch Frankreich.
Aber direkt vor ihm die Kanalinseln, königlich-britisches Territorium. Jersey, Guernsey, Sark, Alderney....diese vier fielen ihm ein. Eine davon genügte ihm.
Der verdammte Nebel! Die verdammte Kälte! Das Boot machte gute Fahrt, sehen konnte er nichts, aber wenn doch nur diese Kälte nicht wäre!
Er wußte nicht, wie lange er bereits völlig übermüdet und ausgelaugt in der Jolle zusammengesunken gelegen hatte. Plötzlich knirschte Sand unter dem Kiel.
Das Boot stoppte abrupt, das Segel flatterte jetzt lose im Wind, da er instinktiv sofort die Halteleine losgelassen hatte.
Mit Mühe öffnete er seine von Salz und Meerwasser verkrusteten Augenlider. Er sah zwei Personen, einen Mann und eine Frau. Sie kamen angerannt.
Die Frau zog die Jolle höher auf den Sand, raus aus dem Wasser. Schnell zupackend, sie wußte was sie zuerst tun mußte. Den Mann hatte sie mit einem
kurzen Satz weggeschickt, er rannte sofort los. Dann erst blickte sie ihn an.
"Mein Bruder holt etwas zu trinken und Gebäck. Bleiben Sie ganz ruhig! Sie wirken völlig dehydriert - einen kleinen Moment noch, er kommt gleich zurück!"
Sie sprach englisch. Das verstand er sofort, wie viele andere Holländer auch beherrschte er die Sprache nahezu perfekt.
"Wo bin ich?"
Es fiel ihm schwer, diese kurze Frage zu artikulieren. Denn auch seine Lippen und seine Mundwinkel waren mit Salz überzogen.
"Auf Alderney! Mein Gott, warten Sie! Erst trinken Sie, und dann sprechen Sie.."
Sie trug abgewetzte hellblaue Jeans, gelbe Gummistiefel und einen dicken blauen Wollpullover. Darüber eine dunkle Jacke.
Diese Jacke zog sie jetzt aus und beugte sich zu ihm in das Boot.
"So, Moment...."
Mit ihrer rechten Hand griff sie vorsichtig hinter seinen Kopf und hob ihn sanft an. Mit der anderen Hand schob sie dann ihre zusammengefaltete Jacke
behutsam darunter.
"So, das ist doch besser, oder? Da kommt er endlich, mein Bruder..."
Er sah jetzt erstmals ihr Gesicht, ganz nah. Ungeschminkt, die braunen Haare vom Nieselregen nass, sie klebten ihr rechts und links an den Wangen.
Sie war in seinem Alter. Sie roch nach Salz, Meerwasser und Seeluft.
"Ich bin geflüchtet....ich hab' eine Bank überfallen wollen....ich...."
"Pschsst....gleich....oh, ich liebe Geständnisse!"
Und, sich zu ihrem Bruder umdrehend:
"Danke, David! Jetzt wird unser Bösewicht aber erst einmal etwas trinken....!"
Sie öffnete die Thermoskanne mit dem Tee. Dann hielt sie den Becher an seine Lippen und blickte ihn dabei erneut an.
Und in diesem Moment passierte es. In diesem einen göttlichen Moment, da passierte es. Diesen Moment konnte man nicht künstlich erschaffen.
Man erlebte ihn einmal, oder vielleicht nie. Es gab ihn, aber er war sehr selten. Und er war unbezahlbar, mit Geld konnte man ihn nicht kaufen.
Ihre Augen trafen sich. Er blickte ihr in ihre Augen. Sie blickte ihm in seine Augen. Vier gemeinsame, jetzt ganz tief miteinander verbundene Augen, wie
versteinert verharrend. Zeit und Raum standen plötzlich völlig still. Ihre Gesichter waren sich ganz nah. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig,
vierundz.....
Es dauert nur drei, vielleicht vier Sekunden. Maximal fünf. Nur wer es selbst erlebt hat, der weiß, dass das stimmt.