Eine Bitte hätte ich. Sollte unter den Lesern zufällig jemand sein, der den erzgebirgischen Dialekt perfekt beherrscht, wäre ich ihm / ihr sehr dankbar, wenn er/ sie das Gedicht von meinem Knut gegebenenfalls korrigiert.
Literaten-Himmel
Wäre es nach Knut Kieselbach, einem jüngst verrenteten Forstarbeiter, gegangen, hätte der sein erstes arbeitsfreies Sommerhalbjahr am liebsten daheim im vertrauten Erzgebirge verbracht. Er liebte es, auf seinem, am Stadtrand der Kleinstadt Eibenstock gelegenem Grundstück im Schatten eines von ihm höchstselbst gepflanzten Vogelbeerbaums zu sitzen.
Dort vermochte er, die ihn umgebende Ruhe in sich aufzunehmen. Eine Stille, die nicht einlullte, sondern seinen Geist belebte und ihn nicht selten animierte, kräftig in dem von ihm angehäuften Wortschatz zu kramen und aus dessen Fundus die Wörter zu wählen, die er brauchte, um daraus wohlgesetzte Versen zu formen. Wenn ihm ein als vortrefflich empfundenes – meist mundartlich gefärbtes – Gedicht gelungen war, durchströmte ihn ein Glücksgefühl, das er ausschließlich für sich genießen durfte.
Gern hätte er des Öftern derartige Momente erlebt, doch dieses Ungestörtsein, das er zum Schreiben brauchte, war ihm zu selten vergönnt. Diesen Umstand verdankte er seiner resoluten und tatkräftigen, aber auch häufig nervenden Frau Elvira. Obwohl es ihm schon einige Male gelungen war, das eine oder andere Gedicht aus seiner Feder im regionalen Heimatkalender unterzubringen, hielt Frau Elvira überhaupt nichts von dieser „brotlosen Kunst“. Für sie galt Knut stets nur dann als ein vollwertiger Partner, wenn er die von ihr gestellten Aufgaben mit gebotenem Eifer erfüllte. Und sie sorgte mit Beflissenheit dafür, dass es für den Herrn Gemahl jederzeit irgendetwas „sinnvolles“ im Haus oder Garten zu tun gab. Auch jetzt – wo Knut gehofft hatte, in seinem noch frischen Rentendasein wesentlich mehr Zeit, für sein lyrisches Schaffen aufbringen zu dürfen, blieb Elvira hartnäckig am Ball und deckte ihn mit angeblich unaufschiebbaren Arbeiten ein.
„In den letzten Jahren ist so vieles liegen geblieben. Wenn das nicht schleunigst erledigt wird, dann …“
Welche Konsequenzen daraus erwüchsen, ließ sie meist offen, denn bei Knut bedurfte es keiner weiteren Argumente. Da reichten Befehle. Das war schon immer so, und daran würde sich auch nicht mehr ändern.
In diesem Sommer 2019 war bei ihr ein neuer Aspekt in den Vordergrund gerückt. Sie wollte reisen. Nein, keine spektakulären Trips in exotische Länder, nicht einmal europaweit.
„Lass uns erst einmal Deutschland richtig kennenlernen“, hatte sie gesagt und sich voller Eifer mit der Planung einer größeren Rundreise beschäftigt. Den Abschluss sollte ein mehrtägiger Aufenthalt im Spreewald bilden.
Knut hatte einen wehmütigen Blick auf „seinen“ Vogelbeerbaum geworfen und sich einen entsagungsvollen Seufzer gegönnt, ehe er zu Elvira ins Auto gestiegen war.
Und vorgestern waren sie in dem sagenumwobenen Spreewald angekommen. Nachdem die ersten beiden Tage mit einer Shoppingtour durch die City der Kreisstadt und einer obligatorischen Kahnfahrt draufgegangen waren, hatte Elvira für heute eine Radtour in das Innere eines weitgehend naturbelassen Teils des Unterspreewaldes verfügt. Missmutig war Knut hinter ihr her getrampelt und hatte mörderisch geflucht, als seine Gattin vom Hauptweg abbog, um einem Pfad zu folgen, der immer weiter in den Wald hinein führte. Und ständig gab es Gabelungen.
Wegweiser? Fehlanzeige!
Es kam, wie es kommen musste – keine halbe Stunde später hatte sich das Paar gnadenlos verirrt. Buchstäblich verlaufen, denn mit den Rädern kam man ohnehin nicht mehr voran. Sie waren gefangen in einem Gewirr aus Wasserarmen, Wald mit dichten Unterholz, sumpfigen Lichtungen und kaum erkennbaren Trampelpfaden, die obendrein meist im Nichts endeten. Und nun?
Während Knut hektisch auf dem Smartphone herum wischte, um sich über den aktuellen Standort ein Bild zu verschaffen, sah Elvira besorgt auf das Stückchen Himmel, das zwischen den dichten Baumwipfeln erkennbar war. Längst hatte sich die Sonne hinter dunklen und bedrohlich auftürmenden Wolken verkrochen.
Als Elvira ein erstes langgezogenes Grollen vernahm, schlich sich ein Anflug von Panik in ihre Augen.
„Knut! Da kommt ein Gewitter auf!“, rief sie und starrte ihren Mann an, als wolle sie ihn auffordern, endlich die Wolkenwand beiseitezuschieben.
„Was du nichts sagst“, knurrte er lakonisch und hypnotisierte weiter das Display vom Smartphone. Kein Empfang!
Das Donnergrollen kam näher. Durch das Geäst fauchten mit einem Mal heftige Windböen. Dann dauerte es keine drei Minuten mehr, bis die ersten Regentropfen ihren Weg durch das Blätterdach fanden.
Das Paar suchte sein Heil in der Flucht, ohne zu wissen, wohin ihr Weg sie führen würde.
Plötzlich rief Elvira, den Arm ausstreckend: „Sieh doch! Dort steht eine Hütte! Nüscht wie hin!“
„Na dann los!“, rief er zurück und bahnte sich gewaltsam einen Weg durch das Dickicht.
Seine Gattin fluchte zwar, weil ihr ständig Äste ins Gesicht schlugen, aber nach wenigen Minuten hatten sie es geschafft. Sie standen auf einer kleinen Lichtung – hinter sich den Wald, vor sich einen breiten Spreearm. Und an dessen Ufer befand sich tatsächlich ein windschiefer Holzschuppen, der allerdings nur noch auf seinen Abriss zu warten schien. Die schräg in den Angeln hängende Tür stand einen Spalt weit offen. Knut musste einiges an Kraft aufwenden, um den Eingang soweit zu öffnen, dass auch seine rundliche Gattin durchzuschlüpfen vermochte.
In dem Schuppen roch es modrig. Durch die halb geöffnete Tür drang nur wenig Licht in den Raum.
„Gruselig“, kommentierte Elvira und versuchte sich in dem Gelass umzuschauen. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte sie lediglich einen Haufen von vor sich hin gammelndes Gerümpel. Irgendwo fand sie einen rostigen Blecheimer, den sie kurzerhand umdrehte, um sich ächzend darauf nieder zu lassen.
Knut lehnte am Türrahmen und blickte voller Skepsis hinauf in den Himmel, der sich plötzlich zu öffnen schien, um wahre Sturzfluten hernieder zu schicken.
„Ein Glück, das Dach scheint dicht zu sein“, erklang Elviras Stimme aus der Tiefe des Schuppens.
Knut reagierte nicht. Er lauschte vielmehr auf ein rasch näher kommendes Motorgeräusch. Er wandte den Kopf in dessen Richtung und sah, wie ein Spreewaldkahn im Affenzahn hinter einer Flussbiegung hervorkam. Am Heck hockte ein in sich zusammengekrümmter Mann in grell-orangener Regenjacke. Mit respektabler Bugwelle schoss das Gefährt an der Hütte vorbei, um kurz darauf hinter der nächsten Krümmung zu verschwinden. Knut hatte beim Hinterherschauen gar nicht bemerkt, dass Elvira neben ihn getreten war. Plötzlich hörte er sie halblaut deklamieren:
Und das dem Netze dieser Spreekanäle
nichts von dem Zauber von Venedig fehle,
durchfurcht das endlos wirre Flussrevier
in seinem Boot der Spreewald – Gondolier.
„Häh“, machte Knut. „Wo hast‘n den Spruch aufgeschnappt?“
„Och, der stand auf einem der Flyer, die bei uns in der Pension herum liegen. Der Vierzeiler soll von Fontane stammen, der in diesem Jahr seinen zweihundertsten Geburtstag hat. Das Ereignis wird hier in Brandenburg besonders gefeiert. Und als ich soeben den Mann in seinem Kahn sah, fielen mir die Verse spontan ein.“
„Aha“, machte Knut. Was er noch hinzufügen wollte, blieb ihm allerdings im Hals stecken, denn in diesem Augenblick ließ sich aus der Tiefe des Schuppens eine Stimme vernehmen.
„Welch anmutige Rezitation, meine verehrte Dame. Jedoch muss ich einwenden, dass dieser Fährmanns-Rüpel nichts mit meinem Spreewald-Gondolier gemein hat. Mit störendem Lärm und üblen Gestank entweiht er das von mir in Verse gefasste Bild der einzigartigen Spreewald-Idylle auf das Sträflichste.“
Bei Knut und Elvira waren längst die Köpfe herum gefahren. Fassungslos starrten sie auf den mittelgroßen schlanken Mann, der unvermittelt keine anderthalb Meter hinter ihnen aufgetaucht war. Seine Kleidung wirkte ungewöhnlich. Ein dunkler Gehrock, der die ebenfalls dunkel gestreifte Hose bis zu den Knien bedeckte. Unter dem Rock trug er eine schwarze Weste, die im auffallenden Kontrast zu dem weißen Hemd stand. Um den Kragen schlang sich ein kunstvoll gebundener Plastron. Unter dem hohen Zylinder quoll dichtes, leicht gewelltes Haar hervor, das bis in den Nacken reichte. Das scharf geschnittene Gesicht wurde von einem gewaltigen Schnurrbart dominiert. Alles in allem – eine stattliche Erscheinung, die Respekt einflößte.
Dieser ungewöhnlich aussehende Herr deutete jetzt eine knappe Verbeugung an und lüpfte den Zylinder ein wenig, ehe er sagte: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Fontane, Heinrich Theodor Fontane.“
Es schepperte, als Elviras voluminöser Hintern wieder auf dem Eimer landete. Sie fühlte ihre Knie zittern und das Herz bis zum Halse schlagen.
Ganz anders Knut. Auf dessen Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Auch er hatte in den Flyern geblättert und dabei erfahren, dass in diesem sogenannten „Fontanejahr“ ganze Scharen von Fontane-Doubeln durch die Mark schwirrten, um respektvoll lauschenden Touristen von dem großen Dichter und Literaten zu erzählen. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er spöttisch fragte: „Und dir ist wohl deine Touristengruppe weggerannt?“
„Sie missverstehen mich, mein Herr. Ich bin kein …“
Ein ohrenbetäubendes Krachen übertönte seine letzten Worte.
„Uff! Das war verdammt nahe!“, krächzte Knut, der reflexartig den Kopf eingezogen hatte. Er schielte zu dem Fremden, der gerade seine Arme über der Brust kreuzte, ehe er spontan zu deklamierten, begann:
Doch wird die Sonn′ erst unerträglich
Und dörrt den Wald und sengt die Flur,
Da hilft sich, auf gut sommertäglich,
Mit einem Schlage die Natur:
Die Donnerwolke blitzt und wettert
Und nimmt der Luft den gift′gen Hauch,
Und wird auch mancher Baum zerschmettert,
In faule Sümpfe schlägt es auch.
„Das ist ebenfalls von mir“, sagte das Dichter-Double und warf sich ein wenig in die Brust, während erneut ein kräftiger Donner über den Schuppen hinweg rollte.
Knut sah zu Elvira, die hektisch ihre gänsebehäuteten Unterarme rieb. Dabei merkte er, wie ihm nun doch ein wenig mulmig wurde. Die Szene besaß etwas Unheimliches. Es kostete ihn Überwindung, einen Schritt auf den Unbekannten zuzugehen und ihm ein möglichst entspanntes Lächeln zu schenken.
„Das mit der ausgebüxten Touristengruppe sollte ein Scherz sein. Ist ja auch kein leichter Job, den du da machst.“
Den ernsten Gesichtsausdruck dieses selbsternannten Fontane ignorierend, schlug er ihm kumpelhaft auf die Schulter und … kam fürchterlich ins Straucheln.
Elviras spitzer Aufschrei machte ihm bewusst, dass er keiner Sinnestäuschung zum Opfer fiel. Die Hand, mit der er den leichten Schlag ausgeführt hatte, war durch den Körper des Mannes gefahren – ohne eine Spur von Widerstand.
Knut fand sein Gleichgewicht erst am Türrahmen wieder, an dem er dann schwer atmend lehnte.
„Was … was, war denn das?“
Mit ruhiger Stimme wurde er aufgeklärt. „Ein völlig normaler Vorgang. Die Seele eines Verstorbenen verfügt natürlich über keinen Körper, aber mitunter vermag sie ein Abbild davon zu projizieren, so wie bei mir in diesem Moment.“
Obwohl in Knuts Ohren plötzlich ein Wasserfall zu toben schien, vermochte er die weiteren Worte zu aufzunehmen.
„Vor nunmehr 121 Jahren segnete ich das Zeitliche. Seither erhalte ich in bestimmten Abständen die Erlaubnis, mich in den irdischen Gefilden ein wenig umzuschauen. Zusätzlich genieße ich das Privileg, immer dann in Ton und Bild zu erscheinen, wenn mich in unmittelbarer Nähe meines gewählten Aufenthaltsortes jemand wörtlich zitiert. Ich werte es als einen großen Zufall, dass dies in einer derartigen Einöde geschehen konnte.“
„Heißt das, Sie sind aus dem Himmel herabgestiegen und … Hat das was mit dem Gewitter zu tun?“, flüsterte Elvira. Sie zitterte am ganzen Körper.
Fontanes Erscheinung ging auf ihre Frage nicht ein. Stattdessen versicherte er, dass kein Grund bestünde, Furcht zu haben. Seelen seien die friedfertigsten Wesen des Universums. Und dann meinte er, dass es ihm eine große Freude bereiten würde, wenn sie ihm noch ein paar Minuten Gesellschaft leisten würden.
Seine Worte wirkten tatsächlich beruhigend auf Knut und sogar auf seine angstgebeutelte Frau. Deren Furcht begann sogar überraschend schnell in blanke Neugier umzuschlagen. Zu gern wollte sie erfahren, wie es denn „da oben“ so zuginge und ob man sich dort wohlfühlen könne.
Letzteres wurde durch ein Kopfnicken bestätigt.
„Ich bin zum Beispiel im Literaten-Himmel ansässig, und ebenda genieße ich den permanenten Austausch von Gedanken und Gefühlen mit vielen sympathischen Kollegen. Nicht wenige kannte man ja bereits zu Lebzeiten.“
„Heißt das, sie unterhalten sich sogar mit solchen literarischen Größen wie Goethe oder Schiller?“
„Ich bin beiden begegnet, und wir haben natürlich miteinander aurisiert, das bedeutet: Wir haben die jeden von uns umgebenden Auren eine Zeitlang gemischt. Es gibt jedoch noch genug andere Schreibgrößen, mit denen es Freude macht, zu aurisieren. Das Ganze könnte weitaus erbaulicher sein, wenn sich nicht permanent diese besserwisserischen und gemeinhin unverschämten Kritiker einmischen würden. Seit geraumer Zeit haben wir da einen, das ist ein regelrechter – verzeihen sie den despektierlichen Ausdruck – Kotzbrocken. Zu diesem … diesem – ach irgendwas mit „itzki“ hinten – versuche ich Distanz zu wahren, aber das gelingt nicht immer.“
Elvira und Knut wechselten verwirrte Blicke, ein Zeichen, dass sie nicht alles verstanden hatten. Knut wollte nachfragen, aber seine Gattin kam ihm zuvor.
„Was gilt denn als Voraussetzung, um in den Literaten-Himmel zu kommen?“, wollte sie wissen.
Die Fontane-Seele schien einen Moment nachzudenken und erklärte dann, dass jeder, der sich ernsthaft um das Verfassen literarischer Werke bemühe, diese Chance besäße.
„Auch wenn man nur Gedichte schreibt?“
„Natürlich. Falls man sie als gelungen betrachten darf.“
Elvira dachte kurz nach und wandte sich dann vehement an ihren Knut. „Du schreibst doch gute Gedichte. Vielleicht wirst du später auch einmal …“
„Sie sind ein Poet?“, fragte die Fontane-Seele und schien überrascht.
„Poet?“ Knut kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich schreibe eher einfache Gedichte über die Region, aus der wir stammen.“
„Das klingt interessant. Darf man etwas davon hören?“
Knut wand sich wie ein Aal, aber Elvira zischte. „Los nun mach schon!“ Ihr Ton erlaubte – wie von ihr gewohnt – keinen Widerspruch.
‚Was ist denn mit der los!?‘, durchfuhr es Knut, während er daran dachte, welch spärliches Interesse sie bislang seinem dichterischen Schaffen entgegengebracht hatte. Zögernd begann er zu deklamieren:
Ach Eibenstock, was biste schii,
wär da gewäst, vergasst dich nie.
Deine Wälder vuller Schwammeln,
die och Durisden gerne sammeln.
Huhe Barg gibt’s allemal,
E Stausee, der griesd aus‘m Dahl.
Un wenn der Schnie fälld dann im Winder
Freits nich nur de villen Gindor.
Iss Weihnachtsmarchd, dann riechts nach Zimt
Und Glieeewein, där von ALDI kimmd.
Die huhe Dann steht vur där Kärch,
un wie im ganzen Arzgebärch
dreht‘sch uffm Markt die Perramid.
Un all das Schnitzwärg dreht sich mit.
Un wärs geschaut, vergasst es nie.
Mei Eibenstock, wie biste schie.
Knut, der verhalten begonnen hatte, war nach und nach von seiner eigenen Schöpfung fortgerissen worden. Am Ende schien er von sich selbst begeistert. Vielleicht entging ihm deshalb Fontanes winziges Lächeln, dem man eine gewisse Süffisanz nicht absprechen konnte.
„Nun ja – eine poetische Kostbarkeit würde ich das nicht nennen. Sagen sie, gibt es davon auch eine Übersetzung ins Deutsche?“
Knut sagte nichts, zog nur ein beleidigtes Gesicht. Dichter reagieren stets pikiert, wenn man ihren Werken nicht die erwartete Anerkennung zollt. Da bildete der gute Knut keine Ausnahme.
Meister Fontane schien seine spontan spöttische Bemerkung zu bedauern, und er versicherte eifrig, dass Knut gewiss Talent besäße. Er müsse es nur noch weiter ausbauen.
„Und das Wichtigste: Üben, üben, üben“, setzte er zum Schluss hinzu. „Schriftstellerei besteht zu fünf Prozent aus Begabung, der Rest ist harte Arbeit.“
„Dann gib dir gefälligst Mühe!“, bellte Elvira und sah ihren Mann eindringlich an. „Hast ja sicher noch ein paar Jahre vor dir. Vielleicht schaffst du es, dich ins Dichter-Paradies hinein zu schreiben.“
Wie ein Scherz hatte sich das nicht angehört.
Der Angesprochene sagte nichts, zog nur zweifeln die Schultern hoch.
„Ach, Herr Fontane, was ich sie noch fragen wollte: Folgen den Schriftstellern deren Ehepartner in den Literaten-Himmel?“ Elviras Gesicht drückte Spannung aus.
„Nein. Natürlich nicht. Es gilt die eindeutige Regel: ‚Bis das der Tod euch scheidet‘. Spätestens dann trennen sich die Wege der Seelen. Das heißt, es gibt eine Ausnahme. Wenn zum Beispiel ein bekannter Autor nachweisen kann, dass seine Partnerin für ihn in seiner Schaffensphase die schärfste, ehrlichste und konstruktivste Kritikerin gewesen ist, dann vermag sie bei uns mit einzuziehen. Auch meiner Gattin ist das gelungen.“
„Wie schön!“, rief Elvira und hätte um ein Haar in die Hände geklatscht.
„Wie man es nimmt“, kam es lakonisch zurück. „Und außerdem, seit Emilie immer öfter ihre Aura mit der von diesem windigen Karl May mischt, sind meine Begegnungen mit ihr nur noch rein zufällig.“
„Das tut mir leid“, sagte Elvira, und in ihrer Stimme schwang ehrliche Anteilnahme.
Eine Weile herrschte Schweigen, das vor allem Elviras sichtlicher Betroffenheit geschuldet schien. Trotzdem war sie es, die den Faden der Konversation wieder aufnahm.
„Sagen Sie, Herr Fontane, gibt es eigentlich auch einen speziellen Himmel für Banker?“
Diese Frage basierte auf dem Hintergrund, dass Elvira fast ihr gesamtes Berufsleben hinter einem Sparkassenschalter verbracht hatte.
„Ja, gibt es.“ Die Fontane-Seele nickte. Seine Stimme klang eher gelangweilt, als er fortfuhr: „Ich glaube, dort findet man auch noch Makler, Börsianer und Versicherungsagenten. Aber deren Refugium ist sehr klein.“
„Warum?“, hakte Elvira nach.
„Weil die Angehörigen dieser Berufsgruppen sich mehrheitlich in der Hölle wiederfinden.“
Ein rollender Donner unterstrich seine Worte. Doch der kam schon von weiter her. Auch der Regen hatte deutlich nachgelassen.
Das Fontane-Abbild schaute nach draußen.
„Gleich wird die Sonne wieder hervorkommen. Hier im Flachland sind die Gewitter meist von kurzer Dauer. Anders als bei Ihnen in den Bergen.“ Und an Knut gewandt: „Schreiben Sie ein Gedicht über ein Gewitter, das in einem Tal tobt, aus dem es nicht heraus kommt. Vielleicht als Allegorie auf einen nicht enden wollenden Ehekrach. Aber dann befleißigen sie sich bitte der deutschen Sprache.“
Die Männer lachten. Nur Elvira zog ein grämliches Gesicht. Ihr ging die Banker-Hölle nicht aus dem Kopf.
„Ich glaube, es ist an der Zeit, meine Wanderung fortzusetzen. Ich habe etliche Buchseiten dem Spreewald gewidmet, seiner einzigartigen Natur und seinen ebenso einzigartigen Bewohnern. Doch ich muss gestehen, dass ich noch nie im wilden Unterspreewald gewesen bin. Drum will ich Neues hier entdecken.“ Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Es war nett, Sie kennenzulernen. Leben Sie wohl. Wer weiß – vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.“
Sein Zeigefinger war gen Himmel gerichtet, während er erneut eine leichte Verbeugung andeutete. Knut wollte ihm zum Abschied spontan die Hand drücken und griff natürlich prompt ins Leere.
Meister Fontane schritt – oder schwebte er? – aus dem Schuppen. Am Flussufer drehte er sich um und hob zum Abschied die Hand. Mit Blick auf Knut deklamierte er:
Du wirst es nie zu Tücht′gem bringen
Bei deines Grames Träumerein,
Die Tränen lassen nichts gelingen,
Wer schaffen will, muß fröhlich sein.
Gleich nach der letzten Zeile löste sich die Gestalt in feinem Nebel auf, der sanft über das Wasser schwebend, den Blicken entschwand.
Elvira und Knut standen schweigend an der Schuppentür, und es dauerte geraume Zeit, bis er sagte: „Wenn wir davon erzählen, glaubt uns das kein Mensch.“
„Wir müssen es ja niemanden erzählen. Sonst sperrt man uns womöglich noch in die Klapse“, zischte Elvira.
Mit diesen Worten zog sie ihn mit ins Freie.
Der Regen hatte aufgehört. Die Begegnung mit der zum lebendigen Abbild gewordenen Seele Fontanes wirkte in ihnen nach und beschäftigte ihre Gedanken, wobei selbige in recht unterschiedliche Richtungen gehen mochten.
„Versprich mir, ein erfolgreicher Autor zu werden. Und ich will deine Kritikerin sein.“ Elvira schaute ihrem Knut tief und fordernd in die Augen.
„Ich soll dir versprechen, mit meiner Schreiberei Erfolg zu haben? Ich kann es nur versuchen.“
„Dann tu das!“, kam es gereizt zurück.
Knut grinste verstohlen, als er sagte: „Um schöpferisch tätig zu sein, bedarf es sehr viel Zeit, sehr viel Ruhe und so gut wie keiner Ablenkung – schon gar nicht durch dich.“
Elvira schien erst auffahren zu wollen, doch dann sah er sie zögerlich nicken. Wahrscheinlich hatte sich die Vorstellung von der Banker-Hölle in ihr unauslöschlich eingegraben. Innerlich frohlockte er. Endlich gab es ein Mittel, um ihrem ständigen Herum-Kommandieren zu entgehen.
‚Warum ist mir das nicht schon vierzig Jahre früher eingefallen?‘, dachte er und richtete seine Augen in den bereits aufklarenden Himmel. ‚Besten Dank für den Tipp, Kollege Fontane.‘
Literaten-Himmel
Wäre es nach Knut Kieselbach, einem jüngst verrenteten Forstarbeiter, gegangen, hätte der sein erstes arbeitsfreies Sommerhalbjahr am liebsten daheim im vertrauten Erzgebirge verbracht. Er liebte es, auf seinem, am Stadtrand der Kleinstadt Eibenstock gelegenem Grundstück im Schatten eines von ihm höchstselbst gepflanzten Vogelbeerbaums zu sitzen.
Dort vermochte er, die ihn umgebende Ruhe in sich aufzunehmen. Eine Stille, die nicht einlullte, sondern seinen Geist belebte und ihn nicht selten animierte, kräftig in dem von ihm angehäuften Wortschatz zu kramen und aus dessen Fundus die Wörter zu wählen, die er brauchte, um daraus wohlgesetzte Versen zu formen. Wenn ihm ein als vortrefflich empfundenes – meist mundartlich gefärbtes – Gedicht gelungen war, durchströmte ihn ein Glücksgefühl, das er ausschließlich für sich genießen durfte.
Gern hätte er des Öftern derartige Momente erlebt, doch dieses Ungestörtsein, das er zum Schreiben brauchte, war ihm zu selten vergönnt. Diesen Umstand verdankte er seiner resoluten und tatkräftigen, aber auch häufig nervenden Frau Elvira. Obwohl es ihm schon einige Male gelungen war, das eine oder andere Gedicht aus seiner Feder im regionalen Heimatkalender unterzubringen, hielt Frau Elvira überhaupt nichts von dieser „brotlosen Kunst“. Für sie galt Knut stets nur dann als ein vollwertiger Partner, wenn er die von ihr gestellten Aufgaben mit gebotenem Eifer erfüllte. Und sie sorgte mit Beflissenheit dafür, dass es für den Herrn Gemahl jederzeit irgendetwas „sinnvolles“ im Haus oder Garten zu tun gab. Auch jetzt – wo Knut gehofft hatte, in seinem noch frischen Rentendasein wesentlich mehr Zeit, für sein lyrisches Schaffen aufbringen zu dürfen, blieb Elvira hartnäckig am Ball und deckte ihn mit angeblich unaufschiebbaren Arbeiten ein.
„In den letzten Jahren ist so vieles liegen geblieben. Wenn das nicht schleunigst erledigt wird, dann …“
Welche Konsequenzen daraus erwüchsen, ließ sie meist offen, denn bei Knut bedurfte es keiner weiteren Argumente. Da reichten Befehle. Das war schon immer so, und daran würde sich auch nicht mehr ändern.
In diesem Sommer 2019 war bei ihr ein neuer Aspekt in den Vordergrund gerückt. Sie wollte reisen. Nein, keine spektakulären Trips in exotische Länder, nicht einmal europaweit.
„Lass uns erst einmal Deutschland richtig kennenlernen“, hatte sie gesagt und sich voller Eifer mit der Planung einer größeren Rundreise beschäftigt. Den Abschluss sollte ein mehrtägiger Aufenthalt im Spreewald bilden.
Knut hatte einen wehmütigen Blick auf „seinen“ Vogelbeerbaum geworfen und sich einen entsagungsvollen Seufzer gegönnt, ehe er zu Elvira ins Auto gestiegen war.
Und vorgestern waren sie in dem sagenumwobenen Spreewald angekommen. Nachdem die ersten beiden Tage mit einer Shoppingtour durch die City der Kreisstadt und einer obligatorischen Kahnfahrt draufgegangen waren, hatte Elvira für heute eine Radtour in das Innere eines weitgehend naturbelassen Teils des Unterspreewaldes verfügt. Missmutig war Knut hinter ihr her getrampelt und hatte mörderisch geflucht, als seine Gattin vom Hauptweg abbog, um einem Pfad zu folgen, der immer weiter in den Wald hinein führte. Und ständig gab es Gabelungen.
Wegweiser? Fehlanzeige!
Es kam, wie es kommen musste – keine halbe Stunde später hatte sich das Paar gnadenlos verirrt. Buchstäblich verlaufen, denn mit den Rädern kam man ohnehin nicht mehr voran. Sie waren gefangen in einem Gewirr aus Wasserarmen, Wald mit dichten Unterholz, sumpfigen Lichtungen und kaum erkennbaren Trampelpfaden, die obendrein meist im Nichts endeten. Und nun?
Während Knut hektisch auf dem Smartphone herum wischte, um sich über den aktuellen Standort ein Bild zu verschaffen, sah Elvira besorgt auf das Stückchen Himmel, das zwischen den dichten Baumwipfeln erkennbar war. Längst hatte sich die Sonne hinter dunklen und bedrohlich auftürmenden Wolken verkrochen.
Als Elvira ein erstes langgezogenes Grollen vernahm, schlich sich ein Anflug von Panik in ihre Augen.
„Knut! Da kommt ein Gewitter auf!“, rief sie und starrte ihren Mann an, als wolle sie ihn auffordern, endlich die Wolkenwand beiseitezuschieben.
„Was du nichts sagst“, knurrte er lakonisch und hypnotisierte weiter das Display vom Smartphone. Kein Empfang!
Das Donnergrollen kam näher. Durch das Geäst fauchten mit einem Mal heftige Windböen. Dann dauerte es keine drei Minuten mehr, bis die ersten Regentropfen ihren Weg durch das Blätterdach fanden.
Das Paar suchte sein Heil in der Flucht, ohne zu wissen, wohin ihr Weg sie führen würde.
Plötzlich rief Elvira, den Arm ausstreckend: „Sieh doch! Dort steht eine Hütte! Nüscht wie hin!“
„Na dann los!“, rief er zurück und bahnte sich gewaltsam einen Weg durch das Dickicht.
Seine Gattin fluchte zwar, weil ihr ständig Äste ins Gesicht schlugen, aber nach wenigen Minuten hatten sie es geschafft. Sie standen auf einer kleinen Lichtung – hinter sich den Wald, vor sich einen breiten Spreearm. Und an dessen Ufer befand sich tatsächlich ein windschiefer Holzschuppen, der allerdings nur noch auf seinen Abriss zu warten schien. Die schräg in den Angeln hängende Tür stand einen Spalt weit offen. Knut musste einiges an Kraft aufwenden, um den Eingang soweit zu öffnen, dass auch seine rundliche Gattin durchzuschlüpfen vermochte.
In dem Schuppen roch es modrig. Durch die halb geöffnete Tür drang nur wenig Licht in den Raum.
„Gruselig“, kommentierte Elvira und versuchte sich in dem Gelass umzuschauen. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, entdeckte sie lediglich einen Haufen von vor sich hin gammelndes Gerümpel. Irgendwo fand sie einen rostigen Blecheimer, den sie kurzerhand umdrehte, um sich ächzend darauf nieder zu lassen.
Knut lehnte am Türrahmen und blickte voller Skepsis hinauf in den Himmel, der sich plötzlich zu öffnen schien, um wahre Sturzfluten hernieder zu schicken.
„Ein Glück, das Dach scheint dicht zu sein“, erklang Elviras Stimme aus der Tiefe des Schuppens.
Knut reagierte nicht. Er lauschte vielmehr auf ein rasch näher kommendes Motorgeräusch. Er wandte den Kopf in dessen Richtung und sah, wie ein Spreewaldkahn im Affenzahn hinter einer Flussbiegung hervorkam. Am Heck hockte ein in sich zusammengekrümmter Mann in grell-orangener Regenjacke. Mit respektabler Bugwelle schoss das Gefährt an der Hütte vorbei, um kurz darauf hinter der nächsten Krümmung zu verschwinden. Knut hatte beim Hinterherschauen gar nicht bemerkt, dass Elvira neben ihn getreten war. Plötzlich hörte er sie halblaut deklamieren:
Und das dem Netze dieser Spreekanäle
nichts von dem Zauber von Venedig fehle,
durchfurcht das endlos wirre Flussrevier
in seinem Boot der Spreewald – Gondolier.
„Häh“, machte Knut. „Wo hast‘n den Spruch aufgeschnappt?“
„Och, der stand auf einem der Flyer, die bei uns in der Pension herum liegen. Der Vierzeiler soll von Fontane stammen, der in diesem Jahr seinen zweihundertsten Geburtstag hat. Das Ereignis wird hier in Brandenburg besonders gefeiert. Und als ich soeben den Mann in seinem Kahn sah, fielen mir die Verse spontan ein.“
„Aha“, machte Knut. Was er noch hinzufügen wollte, blieb ihm allerdings im Hals stecken, denn in diesem Augenblick ließ sich aus der Tiefe des Schuppens eine Stimme vernehmen.
„Welch anmutige Rezitation, meine verehrte Dame. Jedoch muss ich einwenden, dass dieser Fährmanns-Rüpel nichts mit meinem Spreewald-Gondolier gemein hat. Mit störendem Lärm und üblen Gestank entweiht er das von mir in Verse gefasste Bild der einzigartigen Spreewald-Idylle auf das Sträflichste.“
Bei Knut und Elvira waren längst die Köpfe herum gefahren. Fassungslos starrten sie auf den mittelgroßen schlanken Mann, der unvermittelt keine anderthalb Meter hinter ihnen aufgetaucht war. Seine Kleidung wirkte ungewöhnlich. Ein dunkler Gehrock, der die ebenfalls dunkel gestreifte Hose bis zu den Knien bedeckte. Unter dem Rock trug er eine schwarze Weste, die im auffallenden Kontrast zu dem weißen Hemd stand. Um den Kragen schlang sich ein kunstvoll gebundener Plastron. Unter dem hohen Zylinder quoll dichtes, leicht gewelltes Haar hervor, das bis in den Nacken reichte. Das scharf geschnittene Gesicht wurde von einem gewaltigen Schnurrbart dominiert. Alles in allem – eine stattliche Erscheinung, die Respekt einflößte.
Dieser ungewöhnlich aussehende Herr deutete jetzt eine knappe Verbeugung an und lüpfte den Zylinder ein wenig, ehe er sagte: „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Fontane, Heinrich Theodor Fontane.“
Es schepperte, als Elviras voluminöser Hintern wieder auf dem Eimer landete. Sie fühlte ihre Knie zittern und das Herz bis zum Halse schlagen.
Ganz anders Knut. Auf dessen Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Auch er hatte in den Flyern geblättert und dabei erfahren, dass in diesem sogenannten „Fontanejahr“ ganze Scharen von Fontane-Doubeln durch die Mark schwirrten, um respektvoll lauschenden Touristen von dem großen Dichter und Literaten zu erzählen. Sein Grinsen wurde noch breiter, als er spöttisch fragte: „Und dir ist wohl deine Touristengruppe weggerannt?“
„Sie missverstehen mich, mein Herr. Ich bin kein …“
Ein ohrenbetäubendes Krachen übertönte seine letzten Worte.
„Uff! Das war verdammt nahe!“, krächzte Knut, der reflexartig den Kopf eingezogen hatte. Er schielte zu dem Fremden, der gerade seine Arme über der Brust kreuzte, ehe er spontan zu deklamierten, begann:
Doch wird die Sonn′ erst unerträglich
Und dörrt den Wald und sengt die Flur,
Da hilft sich, auf gut sommertäglich,
Mit einem Schlage die Natur:
Die Donnerwolke blitzt und wettert
Und nimmt der Luft den gift′gen Hauch,
Und wird auch mancher Baum zerschmettert,
In faule Sümpfe schlägt es auch.
„Das ist ebenfalls von mir“, sagte das Dichter-Double und warf sich ein wenig in die Brust, während erneut ein kräftiger Donner über den Schuppen hinweg rollte.
Knut sah zu Elvira, die hektisch ihre gänsebehäuteten Unterarme rieb. Dabei merkte er, wie ihm nun doch ein wenig mulmig wurde. Die Szene besaß etwas Unheimliches. Es kostete ihn Überwindung, einen Schritt auf den Unbekannten zuzugehen und ihm ein möglichst entspanntes Lächeln zu schenken.
„Das mit der ausgebüxten Touristengruppe sollte ein Scherz sein. Ist ja auch kein leichter Job, den du da machst.“
Den ernsten Gesichtsausdruck dieses selbsternannten Fontane ignorierend, schlug er ihm kumpelhaft auf die Schulter und … kam fürchterlich ins Straucheln.
Elviras spitzer Aufschrei machte ihm bewusst, dass er keiner Sinnestäuschung zum Opfer fiel. Die Hand, mit der er den leichten Schlag ausgeführt hatte, war durch den Körper des Mannes gefahren – ohne eine Spur von Widerstand.
Knut fand sein Gleichgewicht erst am Türrahmen wieder, an dem er dann schwer atmend lehnte.
„Was … was, war denn das?“
Mit ruhiger Stimme wurde er aufgeklärt. „Ein völlig normaler Vorgang. Die Seele eines Verstorbenen verfügt natürlich über keinen Körper, aber mitunter vermag sie ein Abbild davon zu projizieren, so wie bei mir in diesem Moment.“
Obwohl in Knuts Ohren plötzlich ein Wasserfall zu toben schien, vermochte er die weiteren Worte zu aufzunehmen.
„Vor nunmehr 121 Jahren segnete ich das Zeitliche. Seither erhalte ich in bestimmten Abständen die Erlaubnis, mich in den irdischen Gefilden ein wenig umzuschauen. Zusätzlich genieße ich das Privileg, immer dann in Ton und Bild zu erscheinen, wenn mich in unmittelbarer Nähe meines gewählten Aufenthaltsortes jemand wörtlich zitiert. Ich werte es als einen großen Zufall, dass dies in einer derartigen Einöde geschehen konnte.“
„Heißt das, Sie sind aus dem Himmel herabgestiegen und … Hat das was mit dem Gewitter zu tun?“, flüsterte Elvira. Sie zitterte am ganzen Körper.
Fontanes Erscheinung ging auf ihre Frage nicht ein. Stattdessen versicherte er, dass kein Grund bestünde, Furcht zu haben. Seelen seien die friedfertigsten Wesen des Universums. Und dann meinte er, dass es ihm eine große Freude bereiten würde, wenn sie ihm noch ein paar Minuten Gesellschaft leisten würden.
Seine Worte wirkten tatsächlich beruhigend auf Knut und sogar auf seine angstgebeutelte Frau. Deren Furcht begann sogar überraschend schnell in blanke Neugier umzuschlagen. Zu gern wollte sie erfahren, wie es denn „da oben“ so zuginge und ob man sich dort wohlfühlen könne.
Letzteres wurde durch ein Kopfnicken bestätigt.
„Ich bin zum Beispiel im Literaten-Himmel ansässig, und ebenda genieße ich den permanenten Austausch von Gedanken und Gefühlen mit vielen sympathischen Kollegen. Nicht wenige kannte man ja bereits zu Lebzeiten.“
„Heißt das, sie unterhalten sich sogar mit solchen literarischen Größen wie Goethe oder Schiller?“
„Ich bin beiden begegnet, und wir haben natürlich miteinander aurisiert, das bedeutet: Wir haben die jeden von uns umgebenden Auren eine Zeitlang gemischt. Es gibt jedoch noch genug andere Schreibgrößen, mit denen es Freude macht, zu aurisieren. Das Ganze könnte weitaus erbaulicher sein, wenn sich nicht permanent diese besserwisserischen und gemeinhin unverschämten Kritiker einmischen würden. Seit geraumer Zeit haben wir da einen, das ist ein regelrechter – verzeihen sie den despektierlichen Ausdruck – Kotzbrocken. Zu diesem … diesem – ach irgendwas mit „itzki“ hinten – versuche ich Distanz zu wahren, aber das gelingt nicht immer.“
Elvira und Knut wechselten verwirrte Blicke, ein Zeichen, dass sie nicht alles verstanden hatten. Knut wollte nachfragen, aber seine Gattin kam ihm zuvor.
„Was gilt denn als Voraussetzung, um in den Literaten-Himmel zu kommen?“, wollte sie wissen.
Die Fontane-Seele schien einen Moment nachzudenken und erklärte dann, dass jeder, der sich ernsthaft um das Verfassen literarischer Werke bemühe, diese Chance besäße.
„Auch wenn man nur Gedichte schreibt?“
„Natürlich. Falls man sie als gelungen betrachten darf.“
Elvira dachte kurz nach und wandte sich dann vehement an ihren Knut. „Du schreibst doch gute Gedichte. Vielleicht wirst du später auch einmal …“
„Sie sind ein Poet?“, fragte die Fontane-Seele und schien überrascht.
„Poet?“ Knut kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich schreibe eher einfache Gedichte über die Region, aus der wir stammen.“
„Das klingt interessant. Darf man etwas davon hören?“
Knut wand sich wie ein Aal, aber Elvira zischte. „Los nun mach schon!“ Ihr Ton erlaubte – wie von ihr gewohnt – keinen Widerspruch.
‚Was ist denn mit der los!?‘, durchfuhr es Knut, während er daran dachte, welch spärliches Interesse sie bislang seinem dichterischen Schaffen entgegengebracht hatte. Zögernd begann er zu deklamieren:
Ach Eibenstock, was biste schii,
wär da gewäst, vergasst dich nie.
Deine Wälder vuller Schwammeln,
die och Durisden gerne sammeln.
Huhe Barg gibt’s allemal,
E Stausee, der griesd aus‘m Dahl.
Un wenn der Schnie fälld dann im Winder
Freits nich nur de villen Gindor.
Iss Weihnachtsmarchd, dann riechts nach Zimt
Und Glieeewein, där von ALDI kimmd.
Die huhe Dann steht vur där Kärch,
un wie im ganzen Arzgebärch
dreht‘sch uffm Markt die Perramid.
Un all das Schnitzwärg dreht sich mit.
Un wärs geschaut, vergasst es nie.
Mei Eibenstock, wie biste schie.
Knut, der verhalten begonnen hatte, war nach und nach von seiner eigenen Schöpfung fortgerissen worden. Am Ende schien er von sich selbst begeistert. Vielleicht entging ihm deshalb Fontanes winziges Lächeln, dem man eine gewisse Süffisanz nicht absprechen konnte.
„Nun ja – eine poetische Kostbarkeit würde ich das nicht nennen. Sagen sie, gibt es davon auch eine Übersetzung ins Deutsche?“
Knut sagte nichts, zog nur ein beleidigtes Gesicht. Dichter reagieren stets pikiert, wenn man ihren Werken nicht die erwartete Anerkennung zollt. Da bildete der gute Knut keine Ausnahme.
Meister Fontane schien seine spontan spöttische Bemerkung zu bedauern, und er versicherte eifrig, dass Knut gewiss Talent besäße. Er müsse es nur noch weiter ausbauen.
„Und das Wichtigste: Üben, üben, üben“, setzte er zum Schluss hinzu. „Schriftstellerei besteht zu fünf Prozent aus Begabung, der Rest ist harte Arbeit.“
„Dann gib dir gefälligst Mühe!“, bellte Elvira und sah ihren Mann eindringlich an. „Hast ja sicher noch ein paar Jahre vor dir. Vielleicht schaffst du es, dich ins Dichter-Paradies hinein zu schreiben.“
Wie ein Scherz hatte sich das nicht angehört.
Der Angesprochene sagte nichts, zog nur zweifeln die Schultern hoch.
„Ach, Herr Fontane, was ich sie noch fragen wollte: Folgen den Schriftstellern deren Ehepartner in den Literaten-Himmel?“ Elviras Gesicht drückte Spannung aus.
„Nein. Natürlich nicht. Es gilt die eindeutige Regel: ‚Bis das der Tod euch scheidet‘. Spätestens dann trennen sich die Wege der Seelen. Das heißt, es gibt eine Ausnahme. Wenn zum Beispiel ein bekannter Autor nachweisen kann, dass seine Partnerin für ihn in seiner Schaffensphase die schärfste, ehrlichste und konstruktivste Kritikerin gewesen ist, dann vermag sie bei uns mit einzuziehen. Auch meiner Gattin ist das gelungen.“
„Wie schön!“, rief Elvira und hätte um ein Haar in die Hände geklatscht.
„Wie man es nimmt“, kam es lakonisch zurück. „Und außerdem, seit Emilie immer öfter ihre Aura mit der von diesem windigen Karl May mischt, sind meine Begegnungen mit ihr nur noch rein zufällig.“
„Das tut mir leid“, sagte Elvira, und in ihrer Stimme schwang ehrliche Anteilnahme.
Eine Weile herrschte Schweigen, das vor allem Elviras sichtlicher Betroffenheit geschuldet schien. Trotzdem war sie es, die den Faden der Konversation wieder aufnahm.
„Sagen Sie, Herr Fontane, gibt es eigentlich auch einen speziellen Himmel für Banker?“
Diese Frage basierte auf dem Hintergrund, dass Elvira fast ihr gesamtes Berufsleben hinter einem Sparkassenschalter verbracht hatte.
„Ja, gibt es.“ Die Fontane-Seele nickte. Seine Stimme klang eher gelangweilt, als er fortfuhr: „Ich glaube, dort findet man auch noch Makler, Börsianer und Versicherungsagenten. Aber deren Refugium ist sehr klein.“
„Warum?“, hakte Elvira nach.
„Weil die Angehörigen dieser Berufsgruppen sich mehrheitlich in der Hölle wiederfinden.“
Ein rollender Donner unterstrich seine Worte. Doch der kam schon von weiter her. Auch der Regen hatte deutlich nachgelassen.
Das Fontane-Abbild schaute nach draußen.
„Gleich wird die Sonne wieder hervorkommen. Hier im Flachland sind die Gewitter meist von kurzer Dauer. Anders als bei Ihnen in den Bergen.“ Und an Knut gewandt: „Schreiben Sie ein Gedicht über ein Gewitter, das in einem Tal tobt, aus dem es nicht heraus kommt. Vielleicht als Allegorie auf einen nicht enden wollenden Ehekrach. Aber dann befleißigen sie sich bitte der deutschen Sprache.“
Die Männer lachten. Nur Elvira zog ein grämliches Gesicht. Ihr ging die Banker-Hölle nicht aus dem Kopf.
„Ich glaube, es ist an der Zeit, meine Wanderung fortzusetzen. Ich habe etliche Buchseiten dem Spreewald gewidmet, seiner einzigartigen Natur und seinen ebenso einzigartigen Bewohnern. Doch ich muss gestehen, dass ich noch nie im wilden Unterspreewald gewesen bin. Drum will ich Neues hier entdecken.“ Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Es war nett, Sie kennenzulernen. Leben Sie wohl. Wer weiß – vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.“
Sein Zeigefinger war gen Himmel gerichtet, während er erneut eine leichte Verbeugung andeutete. Knut wollte ihm zum Abschied spontan die Hand drücken und griff natürlich prompt ins Leere.
Meister Fontane schritt – oder schwebte er? – aus dem Schuppen. Am Flussufer drehte er sich um und hob zum Abschied die Hand. Mit Blick auf Knut deklamierte er:
Du wirst es nie zu Tücht′gem bringen
Bei deines Grames Träumerein,
Die Tränen lassen nichts gelingen,
Wer schaffen will, muß fröhlich sein.
Gleich nach der letzten Zeile löste sich die Gestalt in feinem Nebel auf, der sanft über das Wasser schwebend, den Blicken entschwand.
Elvira und Knut standen schweigend an der Schuppentür, und es dauerte geraume Zeit, bis er sagte: „Wenn wir davon erzählen, glaubt uns das kein Mensch.“
„Wir müssen es ja niemanden erzählen. Sonst sperrt man uns womöglich noch in die Klapse“, zischte Elvira.
Mit diesen Worten zog sie ihn mit ins Freie.
Der Regen hatte aufgehört. Die Begegnung mit der zum lebendigen Abbild gewordenen Seele Fontanes wirkte in ihnen nach und beschäftigte ihre Gedanken, wobei selbige in recht unterschiedliche Richtungen gehen mochten.
„Versprich mir, ein erfolgreicher Autor zu werden. Und ich will deine Kritikerin sein.“ Elvira schaute ihrem Knut tief und fordernd in die Augen.
„Ich soll dir versprechen, mit meiner Schreiberei Erfolg zu haben? Ich kann es nur versuchen.“
„Dann tu das!“, kam es gereizt zurück.
Knut grinste verstohlen, als er sagte: „Um schöpferisch tätig zu sein, bedarf es sehr viel Zeit, sehr viel Ruhe und so gut wie keiner Ablenkung – schon gar nicht durch dich.“
Elvira schien erst auffahren zu wollen, doch dann sah er sie zögerlich nicken. Wahrscheinlich hatte sich die Vorstellung von der Banker-Hölle in ihr unauslöschlich eingegraben. Innerlich frohlockte er. Endlich gab es ein Mittel, um ihrem ständigen Herum-Kommandieren zu entgehen.
‚Warum ist mir das nicht schon vierzig Jahre früher eingefallen?‘, dachte er und richtete seine Augen in den bereits aufklarenden Himmel. ‚Besten Dank für den Tipp, Kollege Fontane.‘