[ 5]Ludger kennt Roberta von einer Weiterbildung her. Gemeinsam hatten sie sich dort im
Extreme Programming geübt, einer Vorgehensweise, bei der zu zweit ein Computerprogramm erstellt wird, indem einer jeweils eine Teilaufgabe nennt und der andere diese implementiert. Obwohl der Kurs wechselnde Gruppen vorsah, war es ihnen ohne große Anstrengung immer wieder gelungen, zusammenzuarbeiten und nach den Kursen landeten sie jedes Mal wie selbstverständlich in einem kleinen Café um die Ecke, wo sie bald entdeckten, dass ihnen eine Freude am Lesen und am Fabulieren gemeinsam war. Roberta ist nicht wirklich Ludgers Typ, sie ist groß und schlank, er bevorzugt die kleinen molligen Frauen, sie scheint eher eine Art Seelenverwandte zu sein. In ihrer Gegenwart fühlt er sich vollkommen frei, kann alles sagen, was ihm in den Sinn kommt und sie hat Verständnis dafür. Heute besucht sie ihn zum ersten Mal in seiner Wohnung. Sie wollen die Methode des
Extreme Programmings auf das Geschichtenerzählen anwenden.
[ 5]Es klingelt an der Tür: Roberta steht fröhlich im Treppenhaus mit einer Dose Kekse. Ludger bittet sie herein und registriert mit einem Lächeln, dass sie interessiert seine Wohnung in Augenschein nimmt: Nicht mit dem kritischen Blick seiner Mutter, die guckt, wo er versäumt hat, Staub zu wischen, sondern wie eine Entdeckerin, die die kleinen Gegenstände seines täglichen Lebens betrachtet und die besonderes Interesse gerade für die Dinge aufbringt, die ihm am Herzen liegen: Sie streichelt liebevoll seine selbstgezimmerte Garderobe auf dem Flur, lässt sich von ihm ins Wohnzimmer geleiten und betrachtet dort den Haufen alter Röhren und elektronischer Bauteile wie Widerstände, ICs und CPUs, der als Dekoration auf seinem Schreibtisch einen Ehrenplatz hat und wendet sich, als er in die Küche geht, um Kaffee zu holen, seinem großen Bücherregal zu. Sie blättert gerade in dem Buch »Die tanzenden Wu-Li-Meister«, als er zurückkommt, stellt es zurück und fragt:
[ 5]»Hast du schon eine Idee, wie wir es anstellen könnten?«
[ 5]Ludger stellt die Kaffeekanne zu den Tassen auf den Tisch und schenkt ein, Roberta öffnet die Keksdose und Ludger den Laptop.
[ 5]»Ich möchte eine Novelle erfinden.
Hier im Internet gibt es eine Reihe von Merkmalen, die sie erfüllen sollte. Du achtest auf die Merkmale, ich liefere die Geschichte, einverstanden?«
[ 5]»Ja, gut. – Weißt du schon, wovon sie handeln wird?«
[ 5]»Nein, das wäre ja geschummelt. Ich weiß auch noch nicht, was eine Novelle ist. Fangen wir an.«
[ 5]Roberta setzt sich auf das kurze Ende des Ecksofas, nimmt den angebotenen Laptop auf den Schoß und beginnt zu lesen, während Ludger sich genüsslich auf dem langen Ende ausstreckt, um seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und schnell noch einen Keks isst, bevor er reden muss.
[ 5]»Das scheint mir wichtig zu sein«, beginnt Roberta, »eine Novelle ist eine kurze Erzählung über eine unerhörte Begebenheit. Es gibt nur wenige Charaktere, die sich während der Erzählung nicht wesentlich verändern und genau beschrieben werden«.
[ 5]Ludger hat dazu eine Idee. Er nimmt einen Schluck Kaffee und spricht in sein Diktiergerät:
[ 5]»Feierabend! Anita Kusik hat im Arbeitsamt nach dem letzten Klienten noch die Ablage des Tages erledigt und schlüpft nun in ihre grauen Wildlederpumps mit den acht Zentimeter hohen Blockabsätzen. Sie zieht die kornblumenblaue Kostümjacke an und geht zum Waschbecken, um im Spiegel ihre Frisur zu überprüfen: Der kecke blonde Pferdeschwanz sitzt, wie er soll und das Polster, das sie auf dem Kopf unter den Haaren versteckt hat, sitzt ebenfalls an seinem Platz. Es lässt sie weitere zwei Zentimeter größer erscheinen und verleiht ihrer Frisur Fülle. Sie zupft den Kragen ihrer Bluse zurecht. Heute ist einer von diesen Tagen, an denen sie sich allen überlegen fühlt. Genau das Richtige für den wöchentlichen Bridge-Abend.
[ 5]Ihr letzter Klient war ein Physiker. ›Theoretischer Physiker‹, wie er betont hat. Ein ›Herr Doktor‹. Hat sich nach dem Studium zehn Jahre an der Uni herumgetrieben auf Zeitstellen und nun ist er arbeitslos. Nahezu unvermittelbar in dem Alter, selbst in einer großen Stadt wie dieser. Es hat wohl nicht gereicht zum ›Herrn Professor‹. Der ist nicht gut beraten worden. – Wenn er sich überhaupt hat beraten lassen. Diese Jungakademiker glauben ja, alles selbst zu wissen. Theoretischer Physiker! – Wer kann damit schon etwas anfangen? Dem hat sie klar gemacht, dass er sich umorientieren müsse, wenn er weiterhin seine Miete zahlen wolle! Der ›Herr Doktor‹ ist während dieses Lernvorgangs merklich geschrumpft. Sie lächelt ihr Spiegelbild zufrieden an, greift dann nach ihrer grauen Tasche und verlässt energischen Schrittes das Büro.
[ 5]Anita verlässt das Arbeitsamt durch den Haupteingang, der auf einem Hügel liegt. Hier oben hat das mächtige Gebäude, dass nur durch den Bürgersteig von der Straße getrennt ist, nur ein Stockwerk, der Rest liegt unter der Erde. Die Vorderfront folgt dem Bogen der Hauptstraße hügelabwärts und Anita geht bergab als hätte sie zehn bis zwölf Zentimeter hohe Absätze: sehr langsam und vorsichtig, aber dennoch graziös, mit wiegenden Hüften. Die Bushaltestelle liegt am Fuße des Hügels, sie hat es also nicht weit. Unten grenzt das große rote Backsteinhaus an ein verputztes dreistöckiges Mehrfamilienhaus. In einem der Fenster, direkt an der Bushaltestelle, liegt eine schwarze Katze auf der Fensterbank und beobachtet die Ankommende aufmerksam aus gelben Augen. Anita zieht ihr eine Grimasse, weil die Katze so einen Nimbus von höherem Wissen ausstrahlt, von dem sie sich provoziert fühlt.
[ 5]Zehn Meter weiter geht eine Nebenstraße ab, aus der gerade jemand um die Ecke kommt. Anita neutralisiert ihre Gesichtszüge und sieht einen Mann mittleren Alters von gedrungenem Wuchs. Sein ockerfarbener Cordanzug scheint aus einer anderen Zeit zu stammen, erst recht die rote Fliege, die er zu einem weißen Hemd trägt. Wegen seines eigentümlichen Aussehens zwingt Anita sich, ihn nicht anzustarren. Sie guckt auf die Straße, dann auf die andere Seite des Gehwegs und ist sich doch ganz gewiss, wo er sich gerade befindet. Sie zweifelt nicht daran, dass er sehen kann, dass sie absichtlich wegsieht und hört ihn kraftvoll ausschreiten und schnell näherkommen. Am liebsten würde sie weglaufen. Als er sie erreicht, hört sie, dass er stehenbleibt!
[ 5]Sie versucht, sich damit zu beruhigen, dass er wahrscheinlich wie sie mit dem Bus fahren will. Dass es ganz normal ist, wenn Leute hier an der Haltestelle stehenbleiben. Aber der Aufruhr in ihrem Inneren bleibt. Vorsichtig wendet sie den Kopf zu ihm hin. Er steht gut Armeslänge von ihr entfernt und blickt zu ihr hoch. Dass ein Mann zu ihr aufblicken muss, ist sie nicht gewohnt und dass ein Fremder sie so ausdrücklich ansieht ist auch nicht normal. Instinktiv weicht sie ein paar Schritte zurück. Er folgt ihr vorsichtig, lächelt freundlich und sie versucht, zurückzulächeln, hat aber das Gefühl, dass es ihr nicht recht gelingen will.
[ 5]›Der Bus wird sicherlich bald kommen‹, sagt sie, um die Situation zu entschärfen. – Wenn er doch einfach käme, dann könnte sie schnell einsteigen und sich auf einen Platz setzen, der keinen freien daneben hat! Oder wenn wenigstens die Erde sich auftäte und sie verschlingen würde!«
»So weit, so gut« sagt Roberta. Du beschreibst eine ganz alltägliche Begebenheit. Zugegeben, dieser Mann ist ein wenig gruselig, daraus ließe sich vielleicht etwas machen. Es muss aber richtig außergewöhnlich sein für eine Novelle, steht hier: ›Eine normale Alltagssituation ist […] nie Inhalt einer Novelle‹.« – Ludger weiß sich zu helfen:
[ 5]»Der Mann sagt zu Anita: ›Ich gewähre dir drei Wünsche. Du kannst dir alles wüschen, aber nicht mehr Wünsche, nur die drei.‹«
[ 5]»Nein, nein, so nicht!« unterbricht ihn Roberta, die inzwischen weitergelesen hat, ungeduldig. »Zum einen sind Drei-Wünsche-Geschichten nun wirklich ein alter Hut und zum anderen muss die unerhörte Begebenheit zwar ungeheuerlich, aber glaubhaft, nachvollziehbar, natürlich sein: Du sollst hier kein Märchen erzählen!«
[ 5]»Nun warte doch erst einmal ab, was passiert« beschwichtigt Ludger sie. Noch ist das doch alles ganz nachvollziehbar und natürlich. Es gibt schon manchmal komische Käuze, die einem auf der Straße begegnen.«
[ 5]»Na gut«, lenkt Roberta ein, »ich lass' mich überraschen. Erzähl' weiter.«
[ 5]»Anita, der die ganze Sache ohnehin schon unheimlich ist, sieht sich nun in beide Richtungen um und muss zu ihrem Entsetzen feststellen, dass weit und breit kein Mensch in Sicht ist, nur der gleichmäßig fließende Feierabendverkehr auf der Straße. Selbst die Katze hat ihren Platz auf der Fensterbank verlassen.
[ 5]›Wieso tun Sie das?‹ fragt sie beklommen, um Zeit zu gewinnen.
[ 5]›Weil ich es kann‹ ist seine lapidare Antwort. Anita sieht ihre einzige Chance in der so genannten ›Flucht nach vorn‹ und sagt beherzt zu dem Mann:
[ 5]›Dann wünsche ich mir einen Apfelsaft.‹
[ 5]Er läuft ohne zu zögern über die Straße. Es kommt ihr so vor, als machten die Autos ihm Platz. Auf jeden Fall ist er sehr geschickt darin, die Lücken zu nutzen. Gegenüber sieht sie ihn auf Zehenspitzen am Kiosk stehen, beide Hände auf der Theke. Die Verkäuferin lächelt freundlich-nachsichtig, wie man ein Kind anlächelt. Sie händigt ihm ein Fläschchen aus und nimmt das Geld entgegen. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihm den Kopf getätschelt hätte. Anita sinniert, dass sie es als Frau weit weniger schwer hat mit ihrem kleinen Wuchs als dieser Mann. Er jedoch scheint davon unbeeindruckt, kommt ebenso geschickt zurück auf Anitas Straßenseite und überreicht ihr den Apfelsaft.
[ 5]Sie ringt um Fassung, dankt ihm verblüfft, öffnet die Flasche und trinkt. In ihrem Hirn beginnt es zu arbeiten: Was wäre, wenn er mir tatsächlich jeden Wunsch erfüllen könnte? Dann hätte ich bereits einen vergeudet an eine Flasche Apfelsaft, die zwar lecker ist, die ich mir aber ebenso gut hätte selbst kaufen können. – Nein, sowas gibt es nur in Märchen, ermahnt sie sich zur Vernunft. Aber einen Versuch macht sie trotzdem noch, dieses Mal kühner:
[ 5]›Ich wünsche mir eine Million.‹
[ 5]›Kein Problem.‹ Er greift in seine Tasche und holt mit triumphierendem Blick einen Beutel Sand heraus:
[ 5]›Zähl' ruhig nach: Es sind etwas mehr als eine Million.‹«
[ 5]Roberta lacht: »Ja, du bist auf einem guten Weg. In einer Novelle gibt es übrigens oft auch eine Rahmenhandlung.«
[ 5]»So wie uns beide, die wir uns über die Literaturgattung der Novelle unterhalten?« freut sich Ludger.
[ 5]»Genau so«, muss Roberta zugeben, »aber jetzt bin ich neugierig, was der dritte Wunsch sein wird. – Es wird doch einen dritten Wunsch geben?« drängt Roberta ihn. Ludger lächelt vielsagend und fährt fort:
[ 5]»Anita ist ein wenig ärgerlich, dass der seltsame Mann sie so hereingelegt hat. Andererseits ist sie beeindruckt: Er konnte doch nicht wissen, was sie sich wünschen würde, wieso hat er einen Beutel Sand in der Tasche? Oder hatte er den gar nicht dabei und hat ihn herbei gezaubert? Sie muss unbedingt mit dem dritten Wunsch herausfinden, was es mit diesem Mann auf sich hat! Der Wunsch soll, wenn er erfüllt wird, beweisen, dass dieser Mann tatsächlich zaubern kann. Es darf keine Ausflüchte geben wie bei dem zweiten Wunsch, sie wird sich ganz genau überlegen, wie sie es formuliert. Der Mann steht mit dem Rücken zur Hauswand und sieht erwartungsvoll in selbstzufriedener Pose zu ihr hoch. Fast könnte man meinen, er erwarte Applaus.
[ 5]Auf der Straße gibt es keinen Verkehr mehr bergauf. Anita sieht, dass von links ein roter Traktor herantuckert, hinter dem sich wohl ein Stau gebildet hat. Der Traktor zieht mehrere Wagen und dahinter kommen weitere Zugmaschinen mit weiteren Wagen. – Ein Zirkus! Anita überlegt, ob das vielleicht die seltsame Kleidung dieses Mannes erklärt. Sie liest: ›Zirkus Antonelli‹ in großen roten Lettern auf dem gelben Anhänger. Kein Bus in Sicht. Immer noch keine Idee, was sie sich wünschen soll. Weitere Wagen fahren an der Haltestelle vorbei. Es gibt Wohnwagen und Anhänger mit Gitterfenstern, in denen wohl Tiere transportiert werden. Schwer schleppen sie sich den Berg hinauf. Anita stellt sich in einem flüchtigen Anflug von Sensationslust vor, dass ein Wagen, der den Hang hinunterrollte, sie unweigerlich an der Hauswand zerquetschen würde wie eine Fliege an der Fensterscheibe. Ein kleiner blauer Laster mit zwei großen Anhängern scheint Anlauf nehmen zu wollen, denn er lässt eine große Lücke zu dem Wagen davor, der bereits fast oben auf dem Hügel ist.
[ 5]Anita grübelt, während sie den Wagen zusieht: Saubere Flüsse? – Ende der globalen Erwärmung? – Weltfrieden? – Keine Zigaretten, Autos und Flugzeuge mehr, die mir die Atemluft verpesten? – Sie kann sich nicht entscheiden.
[ 5]Der Motor des blauen Lasters heult auf, als er sich wieder in Bewegung setzt und seine zwei Anhänger mit größtmöglicher Beschleunigung zu dem Hügel zieht, wo er an der Steigung bald wieder merklich langsamer wird.
[ 5]›Soll ich dich beraten?‹ fragt der Mann listig.
[ 5]Der Laster erreicht oben den nächsten Wagen und bremst abrupt ab. Seine beiden Anhänger rasseln.
[ 5]Danach hört man sie rückwärts den Hügel hinuntersausen, aber Anita achtet nicht auf das Geräusch. Sie wendet sich zu dem Mann um und wehrt empört ab: ›Das könnte Ihnen so passen, um mich noch einmal hereinlegen zu können! – Nein, ich weiß jetzt, was ich mir wünsche: ‹«
[ 5]Nach einer bedeutungsvollen Pause, die dazu dienen soll, das soeben Erlebte wirken zu lassen, bemerkt Ludger: »Da hätte sie sich wohl beraten lassen sollen: ›Ein langes Leben‹ wäre ein nützlicher Wunsch gewesen.«
[ 5]Fast mechanisch, mit zitternder Stimme, doziert Roberta: »Die Novelle endet meist mit einem Ergebnis oder auch Resultat. Das muss keine Moral beinhalten, verleiht der gesamten Erzählung aber rückwirkend eine Bedeutung. – Sag' mal, du hast doch in Theoretischer Physik promoviert, oder?«