Ludgers Novelle

3,60 Stern(e) 5 Bewertungen
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Liebe Xavia!

Nachdem du mir zu meinem Krimi ein Feedback gegeben hast, möchte ich auch dir ein paar Worte zu deiner neuen Kurzgeschichte sagen.
Jenseits der Frage, ob sie die Kriterien einer Novelle genügt und ob der Stil gut ist oder nicht (für die Beurteilung solcher Fragen fühle ich mich nicht kompetent genug): Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen. Besonders gut gelungen finde ich die Verknüpfung von Rahmenhandlung und Kerngeschichte. Auch die Idee an sich finde ich originell, selbst wenn das mit den drei Wünschen ein oft gelesenes Märchen-Versatzstück ist.Besonders gut gefallen haben mir die Details: der aufgeplusterte Pferdeschwanz,die Katze,der Sandbeutel usw. Nur der Schluss hat mich ein wenig unbefriedigt zurückgelassen. Ich hätte gern gewusst, welches nun der dritte Wunsch ist. ;)

Gruß, Hyazinthe
 

xavia

Mitglied
Liebe Hyazinthe,
vielen Dank für dein detailliertes Feedback. Viele der Details und auch die bessere Verknüpfung von Rahmenhandlung und innerer Geschichte sind erst durch die Reaktionen im Forum hinzugekommen und ich freue mich, dass auch du sie als Gewinn empfindest. Es ist doch schön, dass wir hier die Möglichkeit zum Austausch haben!
Was den dritten Wunsch angeht – dem Wunsch danach kann leider nicht abgeholfen werden. Ärgerlich wäre, wenn sie »ein langes Leben« hätte sagen wollen. ;)
LG Xavia.
 

xavia

Mitglied
Novellen

Hallo Aligaga, Blumenberg, Ji Rina und Arno Abendschön,

inzwischen habe ich meine Bildung ein wenig aufgefrischt, einige Novellen gelesen und in ein Büchlein von UTB Studium hineingeschaut. Die Sprache in der »Traumnovelle«, da gebe ich Arno Recht, ist ziemlich speziell, aber ich könnte mir vorstellen, dass der Autor damit diese unwirkliche Atmosphäre verstärken wollte. Mir hat sie gefallen, aber mehr noch die »Ungeduld des Herzens«, die »Schachnovelle«, »Pole Poppenspäler« und nicht zuletzt »Die Taube«. Letztere hat mir den Mut geraubt, jemals etwas Gutes zuwege zu bringen: Meine Güte, der kann's! Da passiert fast gar nichts und das auf dermaßen fesselnde Weise.

Aber mittlerweile (Die Geschichte von Herrn Sommer hab ich erst einmal angstvoll zurückgestellt) erhole ich mich von dem Schock, und in ein paar Wochen trau ich mich vielleicht, selbst wieder etwas zu schreiben ;)

In Ludgers Novellenversuch habe ich nun den handelnden Personen mehr Persönlichkeit verliehen, wodurch sich dann auch die Handlung änderte: Ich wusste ja am 17. 8. noch nicht, dass Anita so ein Biest ist. Leider hatte ich daraufhin Probleme, das Ende aufzuschreiben, ohne einen Bruch in der Perspektive zu bekommen. Mich würde interessieren, ob das Ende so funktioniert, also nicht aufgeschrieben, weil es aus Anitas Perspektive nicht möglich ist. In der Version vom 17. 8. konnte sie es ja sehen und wir mit ihr.

Neue Erkenntnisse über die Theorie des Novellenschreibens habe ich aus dem Buch Wolfgang Rath, Die Novelle (UTB Studium, 2. Auflage) nicht erhalten, es gibt dort Kriterien, die im Wesentlichen denen von der Seite wortwuchs.de entsprechen, die Ludger verwendet hat. Ich zitiere die Kriterien eine Novelle nach Johannes Boccaccio Schlegel (1801), die dort genannt werden:
Erstens, eine Neuheit wird erzählt, eine »unerhörte Begebenheit« (Goethe).

Zweitens, diese Neuheit wird im Gesellschaftston vorgetragen.

Drittens, die Geschichte weist ein Moment zeitlosen Interesses auf.

Viertens, um zu interessieren, werden Erfahrungen von wirklichen Geschehnissen aus dem Alltag wiedergegeben, besondere Vorfälle.

Danach erzählt eine Novelle eine Neuheit als ein Besoneres aus dem lebensalltag und dies in der Geste eines Erzählers in Gesellschaft.
Da es ein Buch ist, steht da natürlich noch sehr, sehr viel mehr drin. Zum Beispiel habe ich nicht den pyramidalen Bau des traditionellen Dramas nach Gustav Freytag (Exposition, Erregung, Steigerung, Höhepunkt, Tragik, Umkehr, letzte Spannung, Katastrophe) verwendet, weil bei mir der Höhepunkt mit der Katastrophe zusammenfällt, aber immerhin hat die Ausarbeitung der Charaktere dazu geführt, dass am Ende ein wenig Lebensweisheit einfließen konnte und damit ein Bogen zum Anfang gezogen werden konnte:

Anita beklagt sich am Anfang über die Unbelehrbarkeit der Jungakademiker und lässt sich am Ende selbst nicht beraten, ist emotional erregt und dadurch macht sie den fatalen Fehler, nicht auf ihre innere Stimme zu hören, die ihr das drohende Unheil rechtzeitig angekündigt hat und auch nicht auf den Mann, der ihr seinen Rat angeboten hat. Und Ludgers Rache weist auf einen, wie ich finde, sehr wichtigen und lustvollen Aspekt des Schreibens hin: Wir können geschehen lassen, was immer uns beliebt :)

Auf jeden Fall bedanke ich mich sehr für alle eure Anregungen! Aligagas Hinweis, dass die Geschichte zu »kurz, zu unauthentisch und, vor allem, zu charakterlos« sei, war für mich der Schlüssel zu der entscheidenden Veränderung der Geschichte Jetzt finde ich sie besser, obwohl nicht vergleichbar mit Süßkinds »Taube«, *seufz*.

LG, Xavia.
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

zur Novelle an sich kann ich jetzt leider nichts beitragen, das überlasse ich denen, die Ahnung davon haben.
Ich kann nur sagen, dass mir deine Geschichte, eigentlich ja zwei Geschichten in einer, sehr gut gefällt.
Vor allem aber gefällt mir, wie du dich damit auseinandersetzt und welche Mühe du dir gibst, es hinzubekommen. Findet man in der Form nicht sehr oft. Klasse!

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Liebe Eisblume, vielen Dank für deine aufmunternden Worte! Auf die Idee mit der Geschichte in der Geschichte wäre ich ohne mein – zugegebenermaßen oberflächliches – »Studium« der Novellentheorie gar nicht gekommen. Es ist immer wieder ein spannender Prozess, eine Geschichte in der Leselupe wachsen zu lassen, ich liebe es!
Herzliche Grüße Xavia.
 

G. R. Asool

Mitglied
Hallo xavia,

ob Novelle hin oder her, Dein Werk hat mir sehr gefallen. In welche Kategorie es gehört kann ich nicht beantworten, damit kenne ich mich nur wenig aus und dieses Thema ist mir auch schon immer wurst gewesen. Als Autoren sind wir Unterhalter und mich prächtig unterhalten hast Du mich.

Gruß
GR
 

xavia

Mitglied
[ 5]Ludger kennt Roberta von einer Weiterbildung her. Gemeinsam hatten sie sich dort im Extreme Programming geübt, einer Vorgehensweise, bei der zu zweit ein Computerprogramm erstellt wird, indem einer jeweils eine Teilaufgabe nennt und der andere diese implementiert. Obwohl der Kurs wechselnde Gruppen vorsah, war es ihnen ohne große Anstrengung immer wieder gelungen, zusammenzuarbeiten und nach den Kursen landeten sie jedes Mal wie selbstverständlich in einem kleinen Café um die Ecke, wo sie bald entdeckten, dass ihnen eine Freude am Lesen und am Fabulieren gemeinsam war. Roberta ist nicht wirklich Ludgers Typ, sie ist groß und schlank, er bevorzugt die kleinen molligen Frauen, sie scheint eher eine Art Seelenverwandte zu sein. In ihrer Gegenwart fühlt er sich vollkommen frei, kann alles sagen, was ihm in den Sinn kommt und sie hat Verständnis dafür. Heute besucht sie ihn zum ersten Mal in seiner Wohnung. Sie wollen die Methode des Extreme Programmings auf das Geschichtenerzählen anwenden.
[ 5]Es klingelt an der Tür: Roberta steht fröhlich im Treppenhaus mit einer Dose Kekse. Ludger bittet sie herein und registriert mit einem Lächeln, dass sie interessiert seine Wohnung in Augenschein nimmt: Nicht mit dem kritischen Blick seiner Mutter, die guckt, wo er versäumt hat, Staub zu wischen, sondern wie eine Entdeckerin, die die kleinen Gegenstände seines täglichen Lebens betrachtet und die besonderes Interesse gerade für die Dinge aufbringt, die ihm am Herzen liegen: Sie streichelt liebevoll seine selbstgezimmerte Garderobe auf dem Flur, lässt sich von ihm ins Wohnzimmer geleiten und betrachtet dort den Haufen alter Röhren und elektronischer Bauteile wie Widerstände, ICs und CPUs, der als Dekoration auf seinem Schreibtisch einen Ehrenplatz hat und wendet sich, als er in die Küche geht, um Kaffee zu holen, seinem großen Bücherregal zu. Sie blättert gerade in dem Buch »Die tanzenden Wu-Li-Meister«, als er zurückkommt, stellt es zurück und fragt:
[ 5]»Hast du schon eine Idee, wie wir es anstellen könnten?«
[ 5]Ludger stellt die Kaffeekanne zu den Tassen auf den Tisch und schenkt ein, Roberta öffnet die Keksdose und Ludger den Laptop.
[ 5]»Ich möchte eine Novelle erfinden. Hier im Internet gibt es eine Reihe von Merkmalen, die sie erfüllen sollte. Du achtest auf die Merkmale, ich liefere die Geschichte, einverstanden?«
[ 5]»Ja, gut. – Weißt du schon, wovon sie handeln wird?«
[ 5]»Nein, das wäre ja geschummelt. Ich weiß auch noch nicht, was eine Novelle ist. Fangen wir an.«
[ 5]Roberta setzt sich auf das kurze Ende des Ecksofas, nimmt den angebotenen Laptop auf den Schoß und beginnt zu lesen, während Ludger sich genüsslich auf dem langen Ende ausstreckt, um seiner Fantasie freien Lauf zu lassen und schnell noch einen Keks isst, bevor er reden muss.
[ 5]»Das scheint mir wichtig zu sein«, beginnt Roberta, »eine Novelle ist eine kurze Erzählung über eine unerhörte Begebenheit. Es gibt nur wenige Charaktere, die sich während der Erzählung nicht wesentlich verändern und genau beschrieben werden«.
[ 5]Ludger hat dazu eine Idee. Er nimmt einen Schluck Kaffee und spricht in sein Diktiergerät:

[ 5]»Feierabend! Anita Kusik hat im Arbeitsamt nach dem letzten Klienten noch die Ablage des Tages erledigt und schlüpft nun in ihre grauen Wildlederpumps mit den acht Zentimeter hohen Blockabsätzen. Sie zieht die kornblumenblaue Kostümjacke an und geht zum Waschbecken, um im Spiegel ihre Frisur zu überprüfen: Der kecke blonde Pferdeschwanz sitzt, wie er soll und das Polster, das sie auf dem Kopf unter den Haaren versteckt hat, sitzt ebenfalls an seinem Platz. Es lässt sie weitere zwei Zentimeter größer erscheinen und verleiht ihrer Frisur Fülle. Sie zupft den Kragen ihrer Bluse zurecht. Heute ist einer von diesen Tagen, an denen sie sich allen überlegen fühlt. Genau das Richtige für den wöchentlichen Bridge-Abend.
[ 5]Ihr letzter Klient war ein Physiker. ›Theoretischer Physiker‹, wie er betont hat. Ein ›Herr Doktor‹. Hat sich nach dem Studium zehn Jahre an der Uni herumgetrieben auf Zeitstellen und nun ist er arbeitslos. Nahezu unvermittelbar in dem Alter, selbst in einer großen Stadt wie dieser. Es hat wohl nicht gereicht zum ›Herrn Professor‹. Der ist nicht gut beraten worden. – Wenn er sich überhaupt hat beraten lassen. Diese Jungakademiker glauben ja, alles selbst zu wissen. Theoretischer Physiker! – Wer kann damit schon etwas anfangen? Dem hat sie klar gemacht, dass er sich umorientieren müsse, wenn er weiterhin seine Miete zahlen wolle! Der ›Herr Doktor‹ ist während dieses Lernvorgangs merklich geschrumpft. Sie lächelt ihr Spiegelbild zufrieden an, greift dann nach ihrer grauen Tasche und verlässt energischen Schrittes das Büro.
[ 5]Anita verlässt das Arbeitsamt durch den Haupteingang, der auf einem Hügel liegt. Hier oben hat das mächtige Gebäude, dass nur durch den Bürgersteig von der Straße getrennt ist, nur ein Stockwerk, der Rest liegt unter der Erde. Die Vorderfront folgt dem Bogen der Hauptstraße hügelabwärts und Anita geht bergab als hätte sie zehn bis zwölf Zentimeter hohe Absätze: sehr langsam und vorsichtig, aber dennoch graziös, mit wiegenden Hüften. Die Bushaltestelle liegt am Fuße des Hügels, sie hat es also nicht weit. Unten grenzt das große rote Backsteinhaus an ein verputztes dreistöckiges Mehrfamilienhaus. In einem der Fenster, direkt an der Bushaltestelle, liegt eine schwarze Katze auf der Fensterbank und beobachtet die Ankommende aufmerksam aus gelben Augen. Anita zieht ihr eine Grimasse, weil die Katze so einen Nimbus von höherem Wissen ausstrahlt, von dem sie sich provoziert fühlt.
[ 5]Zehn Meter weiter geht eine Nebenstraße ab, aus der gerade jemand um die Ecke kommt. Anita neutralisiert ihre Gesichtszüge und sieht einen Mann mittleren Alters von gedrungenem Wuchs. Sein ockerfarbener Cordanzug scheint aus einer anderen Zeit zu stammen, erst recht die rote Fliege, die er zu einem weißen Hemd trägt. Wegen seines eigentümlichen Aussehens zwingt Anita sich, ihn nicht anzustarren. Sie guckt auf die Straße, dann auf die andere Seite des Gehwegs und ist sich doch ganz gewiss, wo er sich gerade befindet. Sie zweifelt nicht daran, dass er sehen kann, dass sie absichtlich wegsieht und hört ihn kraftvoll ausschreiten und schnell näherkommen. Am liebsten würde sie weglaufen. Als er sie erreicht, hört sie, dass er stehenbleibt!
[ 5]Sie versucht, sich damit zu beruhigen, dass er wahrscheinlich wie sie mit dem Bus fahren will. Dass es ganz normal ist, wenn Leute hier an der Haltestelle stehenbleiben. Aber der Aufruhr in ihrem Inneren bleibt. Vorsichtig wendet sie den Kopf zu ihm hin. Er steht gut Armeslänge von ihr entfernt und blickt zu ihr hoch. Dass ein Mann zu ihr aufblicken muss, ist sie nicht gewohnt und dass ein Fremder sie so ausdrücklich ansieht ist auch nicht normal. Instinktiv weicht sie ein paar Schritte zurück. Er folgt ihr vorsichtig, lächelt freundlich und sie versucht, zurückzulächeln, hat aber das Gefühl, dass es ihr nicht recht gelingen will.
[ 5]›Der Bus wird sicherlich bald kommen‹, sagt sie, um die Situation zu entschärfen. – Wenn er doch einfach käme, dann könnte sie schnell einsteigen und sich auf einen Platz setzen, der keinen freien daneben hat! Oder wenn wenigstens die Erde sich auftäte und sie verschlingen würde!«


»So weit, so gut« sagt Roberta. Du beschreibst eine ganz alltägliche Begebenheit. Zugegeben, dieser Mann ist ein wenig gruselig, daraus ließe sich vielleicht etwas machen. Es muss aber richtig außergewöhnlich sein für eine Novelle, steht hier: ›Eine normale Alltagssituation ist […] nie Inhalt einer Novelle‹.« – Ludger weiß sich zu helfen:

[ 5]»Der Mann sagt zu Anita: ›Ich gewähre dir drei Wünsche. Du kannst dir alles wüschen, aber nicht mehr Wünsche, nur die drei.‹«

[ 5]»Nein, nein, so nicht!« unterbricht ihn Roberta, die inzwischen weitergelesen hat, ungeduldig. »Zum einen sind Drei-Wünsche-Geschichten nun wirklich ein alter Hut und zum anderen muss die unerhörte Begebenheit zwar ungeheuerlich, aber glaubhaft, nachvollziehbar, natürlich sein: Du sollst hier kein Märchen erzählen!«
[ 5]»Nun warte doch erst einmal ab, was passiert« beschwichtigt Ludger sie. Noch ist das doch alles ganz nachvollziehbar und natürlich. Es gibt schon manchmal komische Käuze, die einem auf der Straße begegnen.«
[ 5]»Na gut«, lenkt Roberta ein, »ich lass' mich überraschen. Erzähl' weiter.«

[ 5]»Anita, der die ganze Sache ohnehin schon unheimlich ist, sieht sich nun in beide Richtungen um und muss zu ihrem Entsetzen feststellen, dass weit und breit kein Mensch in Sicht ist, nur der gleichmäßig fließende Feierabendverkehr auf der Straße. Selbst die Katze hat ihren Platz auf der Fensterbank verlassen.
[ 5]›Wieso tun Sie das?‹ fragt sie beklommen, um Zeit zu gewinnen.
[ 5]›Weil ich es kann‹ ist seine lapidare Antwort. Anita sieht ihre einzige Chance in der so genannten ›Flucht nach vorn‹ und sagt beherzt zu dem Mann:
[ 5]›Dann wünsche ich mir einen Apfelsaft.‹
[ 5]Er läuft ohne zu zögern über die Straße. Es kommt ihr so vor, als machten die Autos ihm Platz. Auf jeden Fall ist er sehr geschickt darin, die Lücken zu nutzen. Gegenüber sieht sie ihn auf Zehenspitzen am Kiosk stehen, beide Hände auf der Theke. Die Verkäuferin lächelt freundlich-nachsichtig, wie man ein Kind anlächelt. Sie händigt ihm ein Fläschchen aus und nimmt das Geld entgegen. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie ihm den Kopf getätschelt hätte. Anita sinniert, dass sie es als Frau weit weniger schwer hat mit ihrem kleinen Wuchs als dieser Mann. Er jedoch scheint davon unbeeindruckt, kommt ebenso geschickt zurück auf Anitas Straßenseite und überreicht ihr den Apfelsaft.
[ 5]Sie ringt um Fassung, dankt ihm verblüfft, öffnet die Flasche und trinkt. In ihrem Hirn beginnt es zu arbeiten: Was wäre, wenn er mir tatsächlich jeden Wunsch erfüllen könnte? Dann hätte ich bereits einen vergeudet an eine Flasche Apfelsaft, die zwar lecker ist, die ich mir aber ebenso gut hätte selbst kaufen können. – Nein, sowas gibt es nur in Märchen, ermahnt sie sich zur Vernunft. Aber einen Versuch macht sie trotzdem noch, dieses Mal kühner:
[ 5]›Ich wünsche mir eine Million.‹
[ 5]›Kein Problem.‹ Er greift in seine Tasche und holt mit triumphierendem Blick einen Beutel Sand heraus:
[ 5]›Zähl' ruhig nach: Es sind etwas mehr als eine Million.‹«


[ 5]Roberta lacht: »Ja, du bist auf einem guten Weg. In einer Novelle gibt es übrigens oft auch eine Rahmenhandlung.«
[ 5]»So wie uns beide, die wir uns über die Literaturgattung der Novelle unterhalten?« freut sich Ludger.
[ 5]»Genau so«, muss Roberta zugeben, »aber jetzt bin ich neugierig, was der dritte Wunsch sein wird. – Es wird doch einen dritten Wunsch geben?« drängt Roberta ihn. Ludger lächelt vielsagend und fährt fort:

[ 5]»Anita ist ein wenig ärgerlich, dass der seltsame Mann sie so hereingelegt hat. Andererseits ist sie beeindruckt: Er konnte doch nicht wissen, was sie sich wünschen würde, wieso hat er einen Beutel Sand in der Tasche? Oder hatte er den gar nicht dabei und hat ihn herbei gezaubert? Sie muss unbedingt mit dem dritten Wunsch herausfinden, was es mit diesem Mann auf sich hat! Der Wunsch soll, wenn er erfüllt wird, beweisen, dass dieser Mann tatsächlich zaubern kann. Es darf keine Ausflüchte geben wie bei dem zweiten Wunsch, sie wird sich ganz genau überlegen, wie sie es formuliert. Der Mann steht mit dem Rücken zur Hauswand und sieht erwartungsvoll in selbstzufriedener Pose zu ihr hoch. Fast könnte man meinen, er erwarte Applaus.
[ 5]Auf der Straße gibt es keinen Verkehr mehr bergauf. Anita sieht, dass von links ein roter Traktor herantuckert, hinter dem sich wohl ein Stau gebildet hat. Der Traktor zieht mehrere Wagen und dahinter kommen weitere Zugmaschinen mit weiteren Wagen. – Ein Zirkus! Anita überlegt, ob das vielleicht die seltsame Kleidung dieses Mannes erklärt. Sie liest: ›Zirkus Antonelli‹ in großen roten Lettern auf dem gelben Anhänger. Kein Bus in Sicht. Immer noch keine Idee, was sie sich wünschen soll. Weitere Wagen fahren an der Haltestelle vorbei. Es gibt Wohnwagen und Anhänger mit Gitterfenstern, in denen wohl Tiere transportiert werden. Schwer schleppen sie sich den Berg hinauf. Anita stellt sich in einem flüchtigen Anflug von Sensationslust vor, dass ein Wagen, der den Hang hinunterrollte, sie unweigerlich an der Hauswand zerquetschen würde wie eine Fliege an der Fensterscheibe. Ein kleiner blauer Laster mit zwei großen Anhängern scheint Anlauf nehmen zu wollen, denn er lässt eine große Lücke zu dem Wagen davor, der bereits fast oben auf dem Hügel ist.
[ 5]Anita grübelt, während sie den Wagen zusieht: Saubere Flüsse? – Ende der globalen Erwärmung? – Weltfrieden? – Keine Zigaretten, Autos und Flugzeuge mehr, die mir die Atemluft verpesten? – Sie kann sich nicht entscheiden.
[ 5]Der Motor des blauen Lasters heult auf, als er sich wieder in Bewegung setzt und seine zwei Anhänger mit größtmöglicher Beschleunigung zu dem Hügel zieht, wo er an der Steigung bald wieder merklich langsamer wird.
[ 5]›Soll ich dich beraten?‹ fragt der Mann listig.
[ 5]Der Laster erreicht oben den nächsten Wagen und bremst abrupt ab. Seine beiden Anhänger rasseln.
[ 5]Danach hört man sie rückwärts den Hügel hinuntersausen, aber Anita achtet nicht auf das Geräusch. Sie wendet sich zu dem Mann um und wehrt empört ab: ›Das könnte Ihnen so passen, um mich noch einmal hereinlegen zu können! – Nein, ich weiß jetzt, was ich mir wünsche: ‹«


[ 5]Nach einer bedeutungsvollen Pause, die dazu dienen soll, das soeben Erlebte wirken zu lassen, bemerkt Ludger: »Da hätte sie sich wohl beraten lassen sollen: ›Ein langes Leben‹ wäre ein nützlicher Wunsch gewesen.«
[ 5]Fast mechanisch, mit zitternder Stimme, doziert Roberta: »Die Novelle endet meist mit einem Ergebnis oder auch Resultat. Das muss keine Moral beinhalten, verleiht der gesamten Erzählung aber rückwirkend eine Bedeutung. – Sag' mal, du hast doch in Theoretischer Physik promoviert, oder?«
 

xavia

Mitglied
Hallo GR, danke schön für deine Rückmeldung! Die Kategorie war in diesem Fall entscheidend dafür, dass mir diese Geschichte eingefallen ist (da war zuerst Novelle und dann kamen erst die drei Wünsche), in sofern hatte sie dann doch etwas für sich :) LG Xavia.
 



 
Oben Unten