Ruedipferd
Mitglied
Marielena legt ihr Englischbuch zur Seite. Ihre Hausaufgaben hat sie nun alle gemacht und ihre Eltern kommen erst heute Abend nach Hause. Sie hat Langeweile und während sie ihre blonden halblangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet, überlegt das kleine neunjährige schlanke Mädchen, wie es den Nachmittag verbringen will.
Sie könnte eigentlich wieder zu dem verlassenen Haus gehen.
Es ist halbverfallen und der Garten verwildert.
Richtig unheimlich ist es dort, aber Marielena hat keine Angst.
Gleich hinter ihrem Elternhaus führt ein kleiner schmaler Pfad in den Wald. Nach 500 Metern führt der Weg wieder auf eine enge Straße. An dessen Ende steht das alte einsame, verlassene Hexenhaus.
Marielena liebt die Spaziergänge durch das Dickicht, obwohl sie weiß, dass es ihre Mutter verboten hat. Langsam geht sie zur Gartenpforte. Sie ist schon oft durch ein kaputtes Kellerfenster in das Haus eingedrungen.
Es inspiriert sie, denn Marielenas Leidenschaft sind Krimis. Immer wieder denkt sie sich Geschichten aus.
Auf ihrem Computer sind inzwischen schon viele erfundene
Kriminalgeschichten entstanden.
Marielena ist trotz ihres jugendlichen Alters fasziniert von Verbrechen.
Natürlich geht sie regelmäßig in den Kindergottesdienst und in ihrer Kinderbibel steht unter dem 7. Gebot: Du sollst nicht stehlen. Sie selbst hat auch noch nie etwas Unrechtes getan. Aber es drängt sie immer wieder, sich in die Welt eines Diebes hinein zu versetzen.
In ihrer Phantasie sind es auch keine Erwachsenen, die dunkel gekleidet mit Strumpfmasken über dem Kopf in Häuser einbrechen oder Gegenstände aus Autos stehlen. Es sind Kinder wie sie, meistens Jungen.
Marielena wäre viel lieber ein Junge geworden. Sie dürfen alles, haben viel mehr Freiheiten als Mädchen.
In ihrer Phantasiewelt träumt sie sich in andere Charaktere.
Sie erlebt ihre eigenen Geschichten. Dann lebt sie ein ganz anderes Leben und vor allem darf sie im Traum auch Verbotenes tun.
Die Jungen in ihren Geschichten brechen in Häuser ein, lassen sich nachts in Kaufhäuser einschließen und nehmen sich, was sie wollen: Süßigkeiten, Cola, Spielzeug.
Und natürlich stehlen sie Portemonnaies aus den Handtaschen unaufmerksamer Frauen.
Nichts ist vor ihnen sicher. Es ist spannend, etwas Verbotenes zu tun.
Das Wichtigste aber dabei ist, nicht erwischt zu werden.
Niemand darf das Diebesgut bei ihnen finden oder etwas bemerken. Sie gar fotografieren oder anhand einer Überwachungskamera identifizieren können. Auf ihre Helden darf niemals ein Verdacht fallen.
In Marielenas Kopf formt sich wieder eine Geschichte. Diesmal soll sie noch spannender werden, als diejenigen, die sie sich bisher ausdachte.
Sie öffnet die Gartenpforte und mit einem raschen Blick vergewissert sie sich, dass sie niemand gesehen hat. Dann verschwindet sie auf dem Waldweg. Ihre Schritte führen sie direkt zu dem alten Haus.
Plötzlich stockt ihr der Atem.
In der Einfahrt steht ein Auto. Es ist ein altes klappriges rotes Gefährt, mit einer Beule am rechten Kotflügel.
Das Glas des Abblendlichtes ist geborsten.
Marielenas Herz schlägt schneller. Sie versteckt sich wieder im Wald und kriecht durch das Unterholz.
Dann hat sie das Haus erreicht und schleicht zum Kellerfenster. Sie klettert hinein und geht leise die Treppe hoch. Von drinnen sind Männerstimmen zu hören.
Sie erstarrt.
Durch die geöffnete Küchentür sieht sie zwei Männer auf Küchenstühlen sitzen. Sie tragen verwaschene Jeans und Hemden. Der eine scheint schon sehr alt zu sein. Der Jüngere blutet an der rechten Hand. Der alte Mann hat einen Autoverbandskasten vor sich auf dem Küchentisch liegen und verbindet ihn.
„Wir müssen vorsichtig sein, der Unfall war nicht geplant.
Aber wieso musste die alte Kuh auch ihren Wagen so blöd parken!"presst der junge Mann hervor.
„Hauptsache, es ist nichts weiter passiert und uns hat niemand gesehen. Die Kiste ist doch geklaut. Wir müssen aber gleich wieder die Handschuhe anziehen und das Blut und die Fingerabdrücke hier im Haus und im Auto entfernen.
Nichts darf uns in Verdacht bringen!"
Der Ältere begutachtet zufrieden sein Werk.
Dann zieht er sich lederne Handschuhe an und gibt auch dem Jüngeren das Paar, welches auf dem Tisch lag. Er geht zum Waschbecken, greift einen alten Lappen und wischt sorgfältig alle Spuren fort.
„Wann kommt Georgio heute Nacht?" fragt der Jüngere.
„Ich weiß nicht, Raphaelo meinte, er wird so gegen Null Uhr hier sein. Wir werden unseren Anteil im Garten vergraben.
Lass uns nun warten, bis es dunkel ist. Aber erst muss die alte Karre verschwinden.
Ich öffne gleich das Tor und du fährst sie hinten auf den Hof in den Schuppen, ja!"
Die Stimme des Alten hat einen befehlenden Ton angenommen und duldet keinen Widerspruch.
„OK, du bist der Boss!
He, Clemenzo, was machst du mit deinem Anteil?"
Der schlanke dunkelhaarige Mann in der abgewetzten Jeans und dem schmutzigen gelben Hemd sieht den angesprochenen aufmerksam an.
„Äh, ich fahre wieder nach Sizilien und lebe bei meinem Sohn. Er hat eine Autowerkstatt und er kennt die
Regeln. Ich werde ihn mit dem Geld unterstützen. Er fragt nicht, woher die Kohle kommt. Und du, wolltest du nicht auch wieder nach Hause? Du bist doch Jugoslawe?"
„Ich bin Kroate. Wir wohnten in der Kraijna, nahe der serbischen Grenze. Meine Eltern sind mit mir nach
Deutschland geflüchtet, als der Krieg dort ausbrach. Wir hatten Verwandte hier. Ich kenne dort nicht mehr
soviel, aber du hast recht. Ich werde auch verschwinden. Mit dem Geld kann man in meiner Heimat gut leben!"
Der Mann lacht heiser.
Dann verlassen sie die Küche und gehen nach draußen.
Auch Marielena schleicht auf Zehenspitzen wieder in den Keller zurück. Sie klettert aus dem Fenster und versteckt sich im Gebüsch. Die beiden Männer kommen aus dem Schuppen, den sie sorgfältig verschließen.
Mit Reisig verwischen sie alle Spuren auf dem Sandboden.
„Es gibt heute Nacht Regen", meint Clemenzo.
„Dann sieht man nicht mehr, dass wir hier waren."
„Und das Haus gehört deinem Freund?"
„Ja, er hat es von seiner Tante geerbt, aber er kann nichts damit anfangen. Er lebt auf Sizilien, deshalb verfällt es. Er sucht einen Käufer."
Clemenzo blickt sich plötzlich um. Er sieht in Marielenas Richtung. Einen Moment lang scheint es, als suchen seine Augen die Gegend ab.
„Hauptsache, wir können unseren Anteil hier solange lagern, bis Gras über die Sache gewachsen ist." Der Jüngere grinst.
Clemenzo zeigt auf den Garten.
„Komm, lass uns einen guten Platz für unsere Altersversorgung finden. Da drüben werden wir es vergraben.
Hol eine Schaufel aus dem Keller, Drako.
Wir können schon ein Loch buddeln und bedecken es erst einmal mit Laub." Der angesprochene kehrt einen Augenblick später mit einem Spaten zurück.
Marielena hat alles ganz genau beobachtet. Ihr war das Herz stehen geblieben, als Clemenzo zu dem Brombeerbusch sah, hinter den sie sich gekauert hatte.Erleichtert, dass sie niemand gesehen hat, schleicht sie sich davon.
Zuhause setzt sie sich sofort an ihren Computer und beginnt, ihre Geschichte aufzuschreiben.
Ihre Helden sind allerdings Jungen. Drako zählt 12 Lenze und Clemenzo ist bereits 14 Jahre alt. Auch sie ist ein Junge von 10 Jahren.
Wie soll die Geschichte ausgehen? Marielena überlegt kurz.
Sie wird in den nächsten Tagen sehr sorgfältig auf die Nachrichten achten. Wenn von einem Banküberfall oder Ähnlichem berichtet wird, muss sie der Polizei einen Tipp geben. Aber dann würden ihre Eltern auch erfahren, dass sie wieder bei dem alten Haus gewesen ist.
Nein, sie muss schweigen. Aber das kostet einiges.
Sie wird warten, bis die Männer fort sind. Dann wird sie nach der Beute suchen. Sie wird das Geld in drei gleiche Teile aufteilen und ihr Schweigegeld mitnehmen.
Gleich neben dem Gartenhaus durfte sie sich einen kleinen Blumengarten anlegen.Dort wird sie es vergraben.
3/6
Marielena träumt.
Sie ist nun ein Teil ihrer Geschichte geworden. Wirklichkeit und Traumwelt verschmelzen miteinander.
Emsig schreibt sie weiter.
So vergehen fünf Jahre.
Sie hat viele kleine Kriminalgeschichten geschrieben. Auch Drako und sein Freund Clemenzo kommen darin vor.
In dem verfallenen Haus ist sie seit damals nie mehr gewesen.
Es ist Sommer.
Marielenas Eltern haben keinen Urlaub bekommen.
Doch ihre Mutter weiß Rat. Eine kirchliche Jugendgruppe bietet eine Freizeit nach Sizilien an und Marielena
wurde kurzerhand angemeldet. Sie hat Italienisch in der Schule gelernt und ist fasziniert von dem Land.
Zusammen mit 15 anderen Jugendlichen tritt sie die Busreise an.
Sizilien!
Es war seit jeher ihr Traum, einmal dort hinzufahren. Sie liebt diese Insel, hat alles darüber gelesen.
Die Camorra!
Marielena läuft es eiskalt den Rücken herunter. Sizilien ist natürlich auch die Heimat Clemenzos!
Doch im nächsten Augenblick schilt sie sich selbst.
Niemand hat sie vor fünf Jahren gesehen, niemand kennt die Verbindung zwischen ihr, Clemenzo und dem
alten Haus. Und wo ist Clemenzo jetzt? Lebt er überhaupt noch?
Die Chance, ihn hier auf Sizilien anzutreffen beträgt wohl 1 zu 1 Million.
Marielena beruhigt sich.
Vom Schiffsanleger fährt der Bus auf die Insel.
Alle Jugendlichen sind überwältigt von der Schönheit der Landschaft und genießen den Ausblick auf das blaue
Meer mit den vielen Booten darauf.
Dann erreichen sie ihren Ferienort.
„Appartements Clemenzo Rosa " steht auf dem Schild vor ihrem Hotel.
Nein!!
Marielena erstarrt vor Schreck. Ein alter Mann kommt langsam auf den Bus zu. Marielena sieht ihn mit weit
aufgerissenen Augen an.
Als er sie erblickt, huscht ein merkwürdiges, geheimnisvolles Lächeln über sein sonnengebräuntes Gesicht.
Er wendet sich dem Fahrer zu und begrüßt seine jugendlichen Gäste.
Wieder kreuzen sich ihre Blicke.
Doch Marielena wird plötzlich von einem Gefühl der Ruhe und Sicherheit getragen. Sie weiß, dass sie hierher gehört.
Hier wird sie leben und hier wird sie, wenn es denn sein muss, auch sterben.
Diese Insel und Italien sind ihr Schicksal.
Am nächsten Morgen sitzt sie allein neben der Veranda unter einer Palme und schaut verträumt aufs blaue Meer hinaus.
Ein leichter Wind weht vom Strand herüber und bringt etwas Kühlung in das Dorf.
Unbemerkt nähert sich Clemenzo.
„Ich weiß, wer du bist, ich habe dich damals in Deutschland im Garten spielen sehen."
4/6
„Ich weiß auch, wer du bist.
Wie geht es Drako?" Marielena spürt, dass sie ihren geheimnisvollen Weg zu Ende gehen muss.
Clemenzo setzt sich schwerfällig zu ihr auf die Bank.
„Er ist wieder in Kroatien.
Wir haben das Geld geteilt und sind dann jeder in eine andere Richtung gefahren."
Marielena sieht ihn von der Seite an.
„Woher stammt es? Ich habe damals immer in den Nachrichten aufgepasst. Aber es wurde nie von einem
Banküberfall berichtet."
Clemenzo streicht ihr zärtlich über das blonde Haar.
Dann fährt seine Hand zu ihrem Hals.
Seine knöchernen Finger halten ihren Nacken fest umschlossen. Er blickt sich aufmerksam um.
Dann entspannt sich das alte zerfurchte Männergesicht und seine wachsamen Augen blinzeln durch die Sonne
aufs tiefblaue Meer.
„Du bist ein hübsches und sehr kluges Mädchen.
Hast du Italienisch in der Schule gelernt?"
„Ja", antwortet sie leise. Italien hat mich seit dem Erlebnis damals nicht mehr losgelassen.
Ich liebe dieses Land und seine Menschen."
Sie sieht ihn liebevoll an und lehnt voller Vertrauen ihre schmalen Schultern an seine Brust.
„Ich wollte so gerne einmal hierher fahren, aber ich hatte natürlich Angst vor euch."
„Das brauchst du jetzt nicht mehr.
Aber es hat Augenblicke gegeben, da hätte ich dir diesen schönen kleinen Hals liebend gerne umgedreht.
Die Kohle war plötzlich nur noch als Drittel da. 1,2 Millionen Euro sind kein Pappenstiel.
Und jeder von uns sollte 600 000 haben. Wenn dann nur noch 800 000 übrig sind, kommt man schon ins
Grübeln. Es war unser Anteil an einem besonderen Geschäft, das wir für unseren damaligen Boss abgewickelt hatten.
Ich wusste gleich, dass sich da jemand sein Schweigen hat bezahlen lassen.
Oder sollte es der selbst ernannte Finderlohn sein?
Wir hatten also einen Komplicen!
Nun, ich bin heute zu alt und inzwischen bin ich sogar sehr froh darüber, dass du eine so hübsche und kluge kleine
Komplicin bist. Du kommst mir nämlich wie gerufen.
Du liebst Italien und willst Sizilianerin werden?
Dann schlage ich dir ein Geschäft vor.
Du lernst ganz zwanglos meinen 17jährigen Enkel Stephano kennen. Ich würde mich freuen, wenn du dann nach
deinem Abitur hier in Italien studieren würdest. Vielleicht verliebt ihr euch ja ineinander.
Er ist ein netter Bursche—eben mein Lieblingsenkel.
Du hast das Geld noch?"
Seine Stimme klang wie damals, als er Drako die Anweisungen gab. Er duldete keinen Widerspruch.
„Ja sicher, ich habe mir nur mal etwas für Kleinigkeiten genommen.
Der größte Teil ist da und liegt an einem sicheren Ort.
Meine Eltern haben mir ein Schließfach bei der Bank besorgt, weil ich etwas Schmuck von meiner Oma
geerbt habe. Ich kann frei über das Fach verfügen und habe auch nur allein den Schlüssel.
5/6
Wie sieht Stephano aus? Hast du ein Bild von ihm? Was machen seine Eltern?"
Der alte Sizilianer Clemenzo steht auf und fasst sie bei der Hand.
„Komm", er führt das zarte junge Mädchen an Palmen entlang zum Strand.
„Ich zeige ihn dir, er ist am Wasser, bei seinem Boot.
Mein Sohn hat eine Autowerkstatt und ist nun auch in der Touristikbranche und im Immobiliengeschäft
tätig. Durch meinen Anteil haben wir etwas Wohlstand erworben.
Er wird sich über seine künftige Schwiegertochter sehr freuen.
Auf diese Weise bekommen wir nämlich unser Geld zurück und gleichzeitig noch eine hübsche und kluge Frau für
unseren Sohn und Enkel dazu.
Marielena und Stephano wurden tatsächlich ein Paar und heirateten acht Jahre später auf Sizilien.
Sie könnte eigentlich wieder zu dem verlassenen Haus gehen.
Es ist halbverfallen und der Garten verwildert.
Richtig unheimlich ist es dort, aber Marielena hat keine Angst.
Gleich hinter ihrem Elternhaus führt ein kleiner schmaler Pfad in den Wald. Nach 500 Metern führt der Weg wieder auf eine enge Straße. An dessen Ende steht das alte einsame, verlassene Hexenhaus.
Marielena liebt die Spaziergänge durch das Dickicht, obwohl sie weiß, dass es ihre Mutter verboten hat. Langsam geht sie zur Gartenpforte. Sie ist schon oft durch ein kaputtes Kellerfenster in das Haus eingedrungen.
Es inspiriert sie, denn Marielenas Leidenschaft sind Krimis. Immer wieder denkt sie sich Geschichten aus.
Auf ihrem Computer sind inzwischen schon viele erfundene
Kriminalgeschichten entstanden.
Marielena ist trotz ihres jugendlichen Alters fasziniert von Verbrechen.
Natürlich geht sie regelmäßig in den Kindergottesdienst und in ihrer Kinderbibel steht unter dem 7. Gebot: Du sollst nicht stehlen. Sie selbst hat auch noch nie etwas Unrechtes getan. Aber es drängt sie immer wieder, sich in die Welt eines Diebes hinein zu versetzen.
In ihrer Phantasie sind es auch keine Erwachsenen, die dunkel gekleidet mit Strumpfmasken über dem Kopf in Häuser einbrechen oder Gegenstände aus Autos stehlen. Es sind Kinder wie sie, meistens Jungen.
Marielena wäre viel lieber ein Junge geworden. Sie dürfen alles, haben viel mehr Freiheiten als Mädchen.
In ihrer Phantasiewelt träumt sie sich in andere Charaktere.
Sie erlebt ihre eigenen Geschichten. Dann lebt sie ein ganz anderes Leben und vor allem darf sie im Traum auch Verbotenes tun.
Die Jungen in ihren Geschichten brechen in Häuser ein, lassen sich nachts in Kaufhäuser einschließen und nehmen sich, was sie wollen: Süßigkeiten, Cola, Spielzeug.
Und natürlich stehlen sie Portemonnaies aus den Handtaschen unaufmerksamer Frauen.
Nichts ist vor ihnen sicher. Es ist spannend, etwas Verbotenes zu tun.
Das Wichtigste aber dabei ist, nicht erwischt zu werden.
Niemand darf das Diebesgut bei ihnen finden oder etwas bemerken. Sie gar fotografieren oder anhand einer Überwachungskamera identifizieren können. Auf ihre Helden darf niemals ein Verdacht fallen.
In Marielenas Kopf formt sich wieder eine Geschichte. Diesmal soll sie noch spannender werden, als diejenigen, die sie sich bisher ausdachte.
Sie öffnet die Gartenpforte und mit einem raschen Blick vergewissert sie sich, dass sie niemand gesehen hat. Dann verschwindet sie auf dem Waldweg. Ihre Schritte führen sie direkt zu dem alten Haus.
Plötzlich stockt ihr der Atem.
In der Einfahrt steht ein Auto. Es ist ein altes klappriges rotes Gefährt, mit einer Beule am rechten Kotflügel.
Das Glas des Abblendlichtes ist geborsten.
Marielenas Herz schlägt schneller. Sie versteckt sich wieder im Wald und kriecht durch das Unterholz.
Dann hat sie das Haus erreicht und schleicht zum Kellerfenster. Sie klettert hinein und geht leise die Treppe hoch. Von drinnen sind Männerstimmen zu hören.
Sie erstarrt.
Durch die geöffnete Küchentür sieht sie zwei Männer auf Küchenstühlen sitzen. Sie tragen verwaschene Jeans und Hemden. Der eine scheint schon sehr alt zu sein. Der Jüngere blutet an der rechten Hand. Der alte Mann hat einen Autoverbandskasten vor sich auf dem Küchentisch liegen und verbindet ihn.
„Wir müssen vorsichtig sein, der Unfall war nicht geplant.
Aber wieso musste die alte Kuh auch ihren Wagen so blöd parken!"presst der junge Mann hervor.
„Hauptsache, es ist nichts weiter passiert und uns hat niemand gesehen. Die Kiste ist doch geklaut. Wir müssen aber gleich wieder die Handschuhe anziehen und das Blut und die Fingerabdrücke hier im Haus und im Auto entfernen.
Nichts darf uns in Verdacht bringen!"
Der Ältere begutachtet zufrieden sein Werk.
Dann zieht er sich lederne Handschuhe an und gibt auch dem Jüngeren das Paar, welches auf dem Tisch lag. Er geht zum Waschbecken, greift einen alten Lappen und wischt sorgfältig alle Spuren fort.
„Wann kommt Georgio heute Nacht?" fragt der Jüngere.
„Ich weiß nicht, Raphaelo meinte, er wird so gegen Null Uhr hier sein. Wir werden unseren Anteil im Garten vergraben.
Lass uns nun warten, bis es dunkel ist. Aber erst muss die alte Karre verschwinden.
Ich öffne gleich das Tor und du fährst sie hinten auf den Hof in den Schuppen, ja!"
Die Stimme des Alten hat einen befehlenden Ton angenommen und duldet keinen Widerspruch.
„OK, du bist der Boss!
He, Clemenzo, was machst du mit deinem Anteil?"
Der schlanke dunkelhaarige Mann in der abgewetzten Jeans und dem schmutzigen gelben Hemd sieht den angesprochenen aufmerksam an.
„Äh, ich fahre wieder nach Sizilien und lebe bei meinem Sohn. Er hat eine Autowerkstatt und er kennt die
Regeln. Ich werde ihn mit dem Geld unterstützen. Er fragt nicht, woher die Kohle kommt. Und du, wolltest du nicht auch wieder nach Hause? Du bist doch Jugoslawe?"
„Ich bin Kroate. Wir wohnten in der Kraijna, nahe der serbischen Grenze. Meine Eltern sind mit mir nach
Deutschland geflüchtet, als der Krieg dort ausbrach. Wir hatten Verwandte hier. Ich kenne dort nicht mehr
soviel, aber du hast recht. Ich werde auch verschwinden. Mit dem Geld kann man in meiner Heimat gut leben!"
Der Mann lacht heiser.
Dann verlassen sie die Küche und gehen nach draußen.
Auch Marielena schleicht auf Zehenspitzen wieder in den Keller zurück. Sie klettert aus dem Fenster und versteckt sich im Gebüsch. Die beiden Männer kommen aus dem Schuppen, den sie sorgfältig verschließen.
Mit Reisig verwischen sie alle Spuren auf dem Sandboden.
„Es gibt heute Nacht Regen", meint Clemenzo.
„Dann sieht man nicht mehr, dass wir hier waren."
„Und das Haus gehört deinem Freund?"
„Ja, er hat es von seiner Tante geerbt, aber er kann nichts damit anfangen. Er lebt auf Sizilien, deshalb verfällt es. Er sucht einen Käufer."
Clemenzo blickt sich plötzlich um. Er sieht in Marielenas Richtung. Einen Moment lang scheint es, als suchen seine Augen die Gegend ab.
„Hauptsache, wir können unseren Anteil hier solange lagern, bis Gras über die Sache gewachsen ist." Der Jüngere grinst.
Clemenzo zeigt auf den Garten.
„Komm, lass uns einen guten Platz für unsere Altersversorgung finden. Da drüben werden wir es vergraben.
Hol eine Schaufel aus dem Keller, Drako.
Wir können schon ein Loch buddeln und bedecken es erst einmal mit Laub." Der angesprochene kehrt einen Augenblick später mit einem Spaten zurück.
Marielena hat alles ganz genau beobachtet. Ihr war das Herz stehen geblieben, als Clemenzo zu dem Brombeerbusch sah, hinter den sie sich gekauert hatte.Erleichtert, dass sie niemand gesehen hat, schleicht sie sich davon.
Zuhause setzt sie sich sofort an ihren Computer und beginnt, ihre Geschichte aufzuschreiben.
Ihre Helden sind allerdings Jungen. Drako zählt 12 Lenze und Clemenzo ist bereits 14 Jahre alt. Auch sie ist ein Junge von 10 Jahren.
Wie soll die Geschichte ausgehen? Marielena überlegt kurz.
Sie wird in den nächsten Tagen sehr sorgfältig auf die Nachrichten achten. Wenn von einem Banküberfall oder Ähnlichem berichtet wird, muss sie der Polizei einen Tipp geben. Aber dann würden ihre Eltern auch erfahren, dass sie wieder bei dem alten Haus gewesen ist.
Nein, sie muss schweigen. Aber das kostet einiges.
Sie wird warten, bis die Männer fort sind. Dann wird sie nach der Beute suchen. Sie wird das Geld in drei gleiche Teile aufteilen und ihr Schweigegeld mitnehmen.
Gleich neben dem Gartenhaus durfte sie sich einen kleinen Blumengarten anlegen.Dort wird sie es vergraben.
3/6
Marielena träumt.
Sie ist nun ein Teil ihrer Geschichte geworden. Wirklichkeit und Traumwelt verschmelzen miteinander.
Emsig schreibt sie weiter.
So vergehen fünf Jahre.
Sie hat viele kleine Kriminalgeschichten geschrieben. Auch Drako und sein Freund Clemenzo kommen darin vor.
In dem verfallenen Haus ist sie seit damals nie mehr gewesen.
Es ist Sommer.
Marielenas Eltern haben keinen Urlaub bekommen.
Doch ihre Mutter weiß Rat. Eine kirchliche Jugendgruppe bietet eine Freizeit nach Sizilien an und Marielena
wurde kurzerhand angemeldet. Sie hat Italienisch in der Schule gelernt und ist fasziniert von dem Land.
Zusammen mit 15 anderen Jugendlichen tritt sie die Busreise an.
Sizilien!
Es war seit jeher ihr Traum, einmal dort hinzufahren. Sie liebt diese Insel, hat alles darüber gelesen.
Die Camorra!
Marielena läuft es eiskalt den Rücken herunter. Sizilien ist natürlich auch die Heimat Clemenzos!
Doch im nächsten Augenblick schilt sie sich selbst.
Niemand hat sie vor fünf Jahren gesehen, niemand kennt die Verbindung zwischen ihr, Clemenzo und dem
alten Haus. Und wo ist Clemenzo jetzt? Lebt er überhaupt noch?
Die Chance, ihn hier auf Sizilien anzutreffen beträgt wohl 1 zu 1 Million.
Marielena beruhigt sich.
Vom Schiffsanleger fährt der Bus auf die Insel.
Alle Jugendlichen sind überwältigt von der Schönheit der Landschaft und genießen den Ausblick auf das blaue
Meer mit den vielen Booten darauf.
Dann erreichen sie ihren Ferienort.
„Appartements Clemenzo Rosa " steht auf dem Schild vor ihrem Hotel.
Nein!!
Marielena erstarrt vor Schreck. Ein alter Mann kommt langsam auf den Bus zu. Marielena sieht ihn mit weit
aufgerissenen Augen an.
Als er sie erblickt, huscht ein merkwürdiges, geheimnisvolles Lächeln über sein sonnengebräuntes Gesicht.
Er wendet sich dem Fahrer zu und begrüßt seine jugendlichen Gäste.
Wieder kreuzen sich ihre Blicke.
Doch Marielena wird plötzlich von einem Gefühl der Ruhe und Sicherheit getragen. Sie weiß, dass sie hierher gehört.
Hier wird sie leben und hier wird sie, wenn es denn sein muss, auch sterben.
Diese Insel und Italien sind ihr Schicksal.
Am nächsten Morgen sitzt sie allein neben der Veranda unter einer Palme und schaut verträumt aufs blaue Meer hinaus.
Ein leichter Wind weht vom Strand herüber und bringt etwas Kühlung in das Dorf.
Unbemerkt nähert sich Clemenzo.
„Ich weiß, wer du bist, ich habe dich damals in Deutschland im Garten spielen sehen."
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„Ich weiß auch, wer du bist.
Wie geht es Drako?" Marielena spürt, dass sie ihren geheimnisvollen Weg zu Ende gehen muss.
Clemenzo setzt sich schwerfällig zu ihr auf die Bank.
„Er ist wieder in Kroatien.
Wir haben das Geld geteilt und sind dann jeder in eine andere Richtung gefahren."
Marielena sieht ihn von der Seite an.
„Woher stammt es? Ich habe damals immer in den Nachrichten aufgepasst. Aber es wurde nie von einem
Banküberfall berichtet."
Clemenzo streicht ihr zärtlich über das blonde Haar.
Dann fährt seine Hand zu ihrem Hals.
Seine knöchernen Finger halten ihren Nacken fest umschlossen. Er blickt sich aufmerksam um.
Dann entspannt sich das alte zerfurchte Männergesicht und seine wachsamen Augen blinzeln durch die Sonne
aufs tiefblaue Meer.
„Du bist ein hübsches und sehr kluges Mädchen.
Hast du Italienisch in der Schule gelernt?"
„Ja", antwortet sie leise. Italien hat mich seit dem Erlebnis damals nicht mehr losgelassen.
Ich liebe dieses Land und seine Menschen."
Sie sieht ihn liebevoll an und lehnt voller Vertrauen ihre schmalen Schultern an seine Brust.
„Ich wollte so gerne einmal hierher fahren, aber ich hatte natürlich Angst vor euch."
„Das brauchst du jetzt nicht mehr.
Aber es hat Augenblicke gegeben, da hätte ich dir diesen schönen kleinen Hals liebend gerne umgedreht.
Die Kohle war plötzlich nur noch als Drittel da. 1,2 Millionen Euro sind kein Pappenstiel.
Und jeder von uns sollte 600 000 haben. Wenn dann nur noch 800 000 übrig sind, kommt man schon ins
Grübeln. Es war unser Anteil an einem besonderen Geschäft, das wir für unseren damaligen Boss abgewickelt hatten.
Ich wusste gleich, dass sich da jemand sein Schweigen hat bezahlen lassen.
Oder sollte es der selbst ernannte Finderlohn sein?
Wir hatten also einen Komplicen!
Nun, ich bin heute zu alt und inzwischen bin ich sogar sehr froh darüber, dass du eine so hübsche und kluge kleine
Komplicin bist. Du kommst mir nämlich wie gerufen.
Du liebst Italien und willst Sizilianerin werden?
Dann schlage ich dir ein Geschäft vor.
Du lernst ganz zwanglos meinen 17jährigen Enkel Stephano kennen. Ich würde mich freuen, wenn du dann nach
deinem Abitur hier in Italien studieren würdest. Vielleicht verliebt ihr euch ja ineinander.
Er ist ein netter Bursche—eben mein Lieblingsenkel.
Du hast das Geld noch?"
Seine Stimme klang wie damals, als er Drako die Anweisungen gab. Er duldete keinen Widerspruch.
„Ja sicher, ich habe mir nur mal etwas für Kleinigkeiten genommen.
Der größte Teil ist da und liegt an einem sicheren Ort.
Meine Eltern haben mir ein Schließfach bei der Bank besorgt, weil ich etwas Schmuck von meiner Oma
geerbt habe. Ich kann frei über das Fach verfügen und habe auch nur allein den Schlüssel.
5/6
Wie sieht Stephano aus? Hast du ein Bild von ihm? Was machen seine Eltern?"
Der alte Sizilianer Clemenzo steht auf und fasst sie bei der Hand.
„Komm", er führt das zarte junge Mädchen an Palmen entlang zum Strand.
„Ich zeige ihn dir, er ist am Wasser, bei seinem Boot.
Mein Sohn hat eine Autowerkstatt und ist nun auch in der Touristikbranche und im Immobiliengeschäft
tätig. Durch meinen Anteil haben wir etwas Wohlstand erworben.
Er wird sich über seine künftige Schwiegertochter sehr freuen.
Auf diese Weise bekommen wir nämlich unser Geld zurück und gleichzeitig noch eine hübsche und kluge Frau für
unseren Sohn und Enkel dazu.
Marielena und Stephano wurden tatsächlich ein Paar und heirateten acht Jahre später auf Sizilien.