Membrum Virile (Neufassung)

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majissa

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Membrum Virile

Meine Geburt stand unter einem schlechten Stern. Kurz bevor ich zum ersten Mal nach Luft rang, ertränkte sich Mr. Tripps, der Familiensittich, im Badehäuschen und Oma Fine brach sich den Hals beim Versuch, ihn davon abzuhalten.

Es gab keine Abschiedsbriefe, die mich entlastet hätten. Überzeugt davon, mit meiner Geburt das Ableben seiner Mutter forciert zu haben, bestritt Vater a priori jede Beteiligung an meinem Dasein. Er hielt mich für das teuflische Produkt eines wollüstigen Elementargeistes, der es Nacht für Nacht meiner Mutter besorgt hatte, während er in fremden Städten Konzerte gab, um die Familie zu ernähren. Ein nach Schwefel stinkender Incubus, der mich in seine Frau pflanzte, um später mit meiner Hilfe die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dabei lag die nach Überzeugung meiner Mutter schon in Oma Fines Händen. Sie war der "Don" der Familie und führte häufig vom Keller aus Ferngespräche nach Saudi-Arabien.

Die Nachricht von den Todesfällen ereilte meinen Vater, noch bevor sich die Tür zum Kreißsaal öffnete. Eine waschmaschinengroße Hebamme mit Pianistenhänden trat in den Warteraum und rief:
"Wer ist der Glückliche?"
"Ein Incubus!", schluchzte mein Vater und rannte nach Hause.

Um ihn in seinem albernen Dämonenglauben nicht zu bestärken, verschwiegen wir ihm die näheren Umstände meiner Geburt. Ich kam völlig schweigsam zur Welt und auch meine Mutter machte keinen Mucks. Sie war stinksauer, weil ich ihr in eine Doppelfolge des Denver Clans geplatzt war. Und wenn sie stinksauer war, schwieg sie oder rauchte Kette. Sie hätte auch während der Entbindung gern geraucht, um nicht schweigen zu müssen, erklärte sie später. Besonders während der Presswehen. So aber ging ich als die stillste Geburt in die Geschichte des Severinsklösterchens ein.

Als Tante Luise "Der Don ist tot!", in den Hörer brüllte, war die Sache mit dem Denver Clan vergessen und ich verließ als Tochter einer euphorischen Mutter das Krankenhaus.

Eine handtellergroße Delle im Grammofondeckel, ein tiefgefrorener Hüftknochen und zwei Zähne in einem Samtkästchen erinnern noch heute an den Todestag von Oma Fine. Das Grammofon ist aus Mooreiche und der Gedanke, dass Fines Kopf den schweren Deckel so eindellen konnte, half meinem Vater schließlich über den Verlust hinweg.
"Sie hatte die härteste Hirnschale der Welt", verkündete er jedes Mal stolz beim Entstauben und Polieren der Delle.
"Ja, sie hat dem Ding so richtig eingeheizt!", versicherten wir ihm, hielten den Daumen hoch und tauschten im Keller den ekligen Hüftknochen des "Don" gegen ein Modell aus Ton aus.

Trotz des schlechten Starts fehlte es mir nicht an mütterlicher Zuwendung. Schon früh wälzte ich mit meiner Mutter medizinische Schmöker, die sich mit seltenen, dermatologischen Krankheiten befaßten. Die Faszination am Greuel hielt uns bis in die Nachtstunden wach. Warzenübersäte Gesichter, eitrige Flechten, chronische Ausschläge und interessante Beulenbildungen an den undenkbarsten Stellen des menschlichen Körpers waren meine bevorzugten, nächtlichen Begleiter. Es gab da die dreibrüstige Tibetanerin. Sie war mein Favorit. Frau Holle und Peter Pan kamen einfach nicht gegen den wohlgeformten dritten Busen an, der da aus ihrer Stirn wuchs und das rechte Auge überdeckte. Bei Vollmond schwoll er angeblich an. Über die Beschaffenheit des Busens bei Neumond schwieg sich die tibetanische Frau aus. Das machte mich fertig.

Meine Mutter quälte sich mit der Frage nach der Körbchengröße.
"Sie hat dort oben doch mindestens 50 D?!“
„Nein, sie hat Cup C, aber der 50er-Umfang dürfte hinhauen“, behauptete ich.

Dank Madame Camille kannte ich mich mit BH-Größen bestens aus. So oft ich konnte, lungerte ich in ihrem Dessous-Lädchen herum und ließ mir alles Wissenswerte über den weiblichen Busen erklären. Madame Camille erkannte sehr schnell meine Leidenschaft und nannte mich ihre „petite élève“. Ich lernte spielerisch mit Früchten. Cup A stand für Mandarinen, Cup B für mittelgroße Äpfelchen, Cup C für Pampelmusen und Cup D für Honigmelonen. Weiter ging’s mit Wassermelonen und Kürbissen. Die Früchte für Cup G – Z mussten noch erfunden werden. Die weibliche Bevölkerung meiner Stadt war für mich ein einziges großes Obstsortiment.

Mein Vater versuchte, mir die schönen Künste näherzubringen. Er lehrte mich das Komponieren und Singen, steckte mich in einen Malkurs und nahm mich wutschnaubend wieder heraus, als ich ihm die "Warzenschulter eines sumatranischen Jünglings" in Öl präsentierte. Es war ein schönes Gemälde. Meine Mutter hängte es in den Keller zu den anderen Bildern. Es gab da das "Dorf jungfräulicher Elefantenfrauen", die "Tibetanische Brust bei Neumond", "Herbstflechten" und "Membrum Virile", das einen überglücklichen Mexikaner mit 2 Schwänzen zeigte. "Membrum Virile" bekam mein Vater auf dem Kopf stehend zu sehen. "Das nenn ich doch mal Kunst!", rief er begeistert aus. "Aber warum spielt der Flötist auf zwei Instrumenten gleichzeitig? Außerdem könnte er sich mal den Bart schneiden. Wer ist denn das überhaupt?" Es war stets ein schlechtes Zeichen, wenn mein Vater anfing, die Gemälde hin- und herzudrehen. Meine Kindheit führte mich allzu oft in den Keller mit dem Hinweis So läuft das nicht!

Meine Neigung zum Experimentieren zeigte sich früh. Im zarten Alter von vier begann ich, die ersten Pflanzen anzunagen und auf die Nebenwirkungen zu warten. Die leicht säuerlichen, durchaus bekömmlichen Butterblumen in unserem Garten bildeten den Anfang. Der Löwenzahn auf dem Nachbargrundstück verursachte leichte Atembeschwerden. Aber die köstliche Milch der meisten Pflanzenstengel berauschte mich. Ich erweiterte mein Territorium, fraß mich durch wilde Gärten, weidete an grasbewachsenen Hügeln und machte selbst vor den saftigen Wiesen, die den Fußballplatz umgaben, nicht Halt.

"Dein Kind grast die ganze, verdammte Stadt ab!", schrie mein Vater die Mutter an.
"Ach ja? Wer sagt das?"
Gerade lief ein Double-Feature von Reich und Schön.
"Unser Nachbar möchte sie zum Heckenstutzen mieten!"
"Frag ihn, was dabei herausspringt und vergiss‘ auf dem Rückweg meine Zigaretten nicht!", schnitt meine Mutter ihm und Seifenoperkönigin Stefanie Forrester das Wort ab.

Meine Tage verbrachte ich hauptsächlich damit, das Fassungsvermögen meiner Blase auf natürliche Weise zu erweitern. Ich ging nicht mehr auf dieToilette. Das führte neben einem verkniffenen Gesichtsausdruck zu übersteigerten Aggressionen.

Als ich von der Existenz des Sandmanns erfuhr, bekam ich panische Angst.
"Er streut dir doch nur Traumkörnchen in die Augen, damit du einschläfst", sagte meine Mutter.
"Ach ja? Nenn’ mir einen, der schmerzlos einschläft, wenn er die Augen voller Sand hat!"
Ich fand das krank. Was waren die Beweggründe dieses Mannes? Und warum hatte er nichts Besseres zu tun, als mit Sack und Schaufel bewaffnet in die Schlafzimmer fremder Menschen einzudringen? Für mich war die Sache klar: Der Sandmann war gefährlich und stand dem debilen Hasen, der die Haushalte in nur einer Nacht ungefragt mit Eiern überschwemmte, in nichts nach. Ich ließ meine Eltern auf "Die Haut und ihre Anhangsgebilde" von Georg Deutschmann schwören, dass es keinen Streichholzmann gab, der in Vollmondnächten die Fußsohlen junger Mädchen ansengte, damit sie besser laufen konnten.

Alles, was es im Überfluss gab, machte mich misstrauisch. So übte ich mich kurz vor der Einschulung in exzessivem Atmen. Schuld daran war mein Vater. "Es gibt nichts umsonst, merk’ dir das! Wenn es was umsonst gibt, hat es einen Haken. Spare in der Zeit, so hast du in der Not!", predigte er bei jeder Gelegenheit. Ich sparte Sauerstoff. Für schlechte Zeiten hortete ich frische Luft in Tüten und Dosen und eignete mir die Atemtechnik unseres Hundes an. "Warum hechelt das Kind so?" fragte Tante Luise, die als Schwester meiner Mutter, Geschiedene meines Onkels und in der gesamten Nachbarschaft als "die Besoffene aus dem Bushäuschen" bekannt war. Volltrunken zog es Tante Luise in die Ferne. Meist schaffte sie es bis zum Bushäuschen, wo wir sie oft aus einem Bierflaschenteppich herausschälen mussten.
"Na, sie sammelt Sauerstoff", brummte mein Vater unwillig.
"Ja weißt du denn auch, Kleines", hob Luise an, "daß die Haut mitatmet?" Dabei beugte sie sich so weit vor, daß sie mir mit der rotfarbenen Spitze ihrer Haarpyramide ins Auge stach. "Nein!" rief ich erstaunt aus, entledigte mich aber augenblicklich all meiner Kleidung. Lange Zeit war ich ein nacktes, sauerstoffdurchtränktes Kind.

Mit der Einschulung begannen die ersten zwanghaften Verhaltensweisen.
"Halt’ bloß die Augen offen. Dann verpaßt du nichts!", rief mir meine Mutter am ersten Schultag zu, nachdem man mich gewaltsam, Finger für Finger, von ihr losgerissen hatte. Ich hielt die Augen offen. Nach ein paar Tagen gelang es mir, das Zwinkern völlig einzustellen. Meine Augen lagen auf Trockendock, doch dafür nahm ich täglich wesentlich mehr Eindrücke in mich auf als meine zwinkernden Mitschüler, denen ich bald meine nutzlosen Lider zum Verkauf anbot.
"Ihr Kind starrt", sagte man meiner Mutter beim ersten Elternsprechtag. "Es starrt?" "Nun, es bewegt seine Lider nicht", erklärte mein Klassenlehrer mit einem raschen Seitenblick auf mich. Er mied mich. Mein Glotzen hatte ihn mit der Zeit nervös gemacht.

Ich wurde zu einem guten Therapeuten geschickt, der mich von der Notwendigkeit des Zwinkerns zu überzeugen suchte. Stundenlang saß ich in einem abgedunkeltem Zimmer und beobachtete, wie Herr Hänse demonstrativ seine Augen vor mir auf- und zuschlug. Als mir die Sache zu albern wurde, blinzelte ich einmal heftig mit dem rechten Augenlid. Es quietschte dankbar. Hänse knuffte mich wie verrückt und entließ mich als geheilt in die Welt der Zwinkernden. Mein Tick war damit nicht etwa verschwunden. Ich verfeinerte ihn, indem ich drei Tage mit dem rechten, drei Tage mit dem linken Auge zwinkerte. Sonntags guckte ich gar nicht. Das glotzende Auge richtete ich nach wie vor auf meinen Klassenlehrer, der seinerseits ein nervöses Zucken entwickelte.

Mein Schulweg war langweilig. Also begann ich, meine Schritte bis nach Hause zu zählen. Ich kam auf 1216. Mal versuchte ich, die Zahl zu halbieren, mal zu verdoppeln, mal schritt ich aus wie ein Soldat, mal wie eine Spitzentänzerin. Die Langeweile blieb. Der Heimweg wurde zum Hindernisparcours, den ich in drei Etappen einteilte, die jeweils mit einer streng vorgegebenen Anzahl an Bodenberührungen zu bewältigen waren. Der erste Streckenabschnitt begann vor dem Schultor und endete unmittelbar dahinter, mußte aber mit 35 Bodenberührungen zurückgelegt werden. Auf der Stelle zu laufen war nicht erlaubt. Die zweite Etappe war die gefährlichste. Sie führte über eine große Kreuzung, die mit geschlossenen Augen zu bewältigen war. Der letzte Abschnitt begann am Stamm einer Eiche aus Tante Luises Garten und endete vor der elterlichen Türschwelle. Mit 16 Schritten und vier Flugrollen war er zu schaffen. Versagte ich auf einer Etappe, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder ich begann wieder am Schultor oder ich erteilte mir Absolution durch die Abbüßung sorgfältig erdachter Strafen. Unterlief mir ein Fehler beim letzten Abschnitt, konnte ich ihn durch eine innige Umarmung mit Tante Luises Jägerzaun ausmerzen. Öffnete ich versehentlich auf Etappe drei ein Auge, mußte ich den Rest der Strecke ohne T-Shirt zurücklegen. Das entband mich nicht etwa von den Flugrollen.

"Das ist nicht unser leibliches Kind!" riefen meine Eltern oft wie aus einem Munde zu den gaffenden Nachbarn, wenn ich mit entblößtem Oberkörper zum Mittagessen auf der Türschwelle aufschlug.
Tante Luise war es peinlich, wenn sie mich dabei erwischte, wie ich ihren Jägerzaun umarmte. "Was machst du da nur?" fragte sie und zerrte mich ins Haus. "Du solltest dich was schämen!" "Wenn du mich ihn jetzt nicht umarmen lässt, komme ich vielleicht in einer halben Stunde ohne Shirt vorbei und knuddel ihn trotzdem", entgegnete ich trotzig.

"Dein Kind ist gänzlich aus der Art geschlagen!" ereiferte sich mein Vater.
"Ach ja? Und was meinst du, woher es seine Macken hat? Na?", schrie meine Mutter aufgebracht.
"Vom Incubus?!"

Auch ich dachte über diese Angelegenheit nach, während ich oben in meinem Zimmer saß, mit dem linken Auge zuckte und versuchte, Bleistifte mit meinen Lippen zu spitzen.

Auf dem erzbischöflichen Gymnasium für Mädchen entdeckte ich schnell, daß Schwester Leoni soff wie ein Loch. Sie gab Kunstunterricht. Ich brachte ihr hochprozentigen Stoff von zu Hause mit. Dafür ließ sie mich in Ruhe. Ich hatte keine Zeit, stundenlang auf Bildkompositionen verstorbener Künstler zu starren. Das wollte ich mir für die Zeit auf dem Sterbebett aufheben. Als 14jähriger Teenager interessierte mich der Umgang mit Ton und was sich aus ihm formen ließ. Es entstanden einige Kunstwerke, die mein Vater zu den Gemälden in den Keller verbannte:

Das blutende Ohr Van Goghs
Vagina einer Übergewichtigen
Rabelais bei der Sezierung an einem Gehängten
Komplettes Werkzeug des Rippers
Ein Jungfrauenopfer zu Ehren der Göttin Kali

Die "Zeugung Mose" stieß auf großes Interesse. "Schön, wirklich schön. Ein religiöses Motiv, sagtest du? Was stellt es dar?", fragte mein Vater und betrachtete ehrfürchtig das tönerne Gebilde in seinen Händen. "Na, einen hebräischen Bauern und ein Pharaonenflittchen beim Akt."
Wortlos und mit hängenden Schultern trug er die Zeugung in den Keller. Er sprach zwei Wochen lang nicht mit mir. Zur Besänftigung töpferte ich ihm die "Papagena" aus Mozarts "Zauberflöte". Mein Vater weinte vor Rührung. Als er sich beruhigt hatte, fragte er, was es mit dem seltsamen Hubbel auf Papagenas Stirn auf sich habe. „Schau, das ist eine Pampel...“, hob ich an, wurde aber von einem kräftigen Tritt meiner Mutter zum Schweigen gebracht.

Als ich erfuhr, daß Gehirnzellen absterben, traf ich den Entschluss, all die nutzlosen Lehren und Eindrücke, die täglich auf mich eindrangen, abzublocken. Ich teilte mein Gehirn in Sektoren ein und führte meinen geistigen Beeten fest entschlossen nur das zu, was ich als erachtenswert betrachtete. Albert Camus Erkenntnis der Sinnlosigkeit aller Dinge kam mir bei dem Versuch zupass, bereits gespeicherte, jedoch hartnäckig auf ihren Platz beharrende, Daten zu löschen.

Die tibetanische Brust erhielt einen Ehrenplatz neben der Erinnerung an eine Feuersbrunst, während der Sandmann und die Knallgasprobe rausflogen. Die chronologische Abfolge der Ereignisse während der französischen Revolution ließ mich kalt. Doch die freizügige Oberbekleidungsmode des weiblichen französischen Pöbels speicherte ich gleich unter der naturgetreuen Abbildung einer blutverschmierten Guillotine.

Aus Angst, meine grauen Zellen versehentlich mit Schrott zu füllen, schwänzte ich den Lateinunterricht. Unter der Doppelbelastung einer toten Sprache und eines nervtötenden Sprachfehlers der Lateinlehrerin, Frau Schopp, befürchtete ich die totale Verwüstung meiner sorgfältig angelegten Sektoren.

Frau Schopp begann ihren Unterricht mit einer Drohung: "Sie alle werden, mäh, das große mäh, Latinum unter meiner mäh, Leitung schaffen. Mäh?" Ihr Latein hörte sich nicht besser an: "Ego cecidi mäh, unum porcum et mäh ego habeo bonum mäh vinum. Mäh?" (Ich habe geschlachtet mäh ein Schwein und mäh ich habe guten mäh Wein. Mäh?)
Ich schaffte weder das kleine, noch das große Latinum, gewann aber dafür einen großen, freien Sektor für zukünftigen Drogenmißbrauch.

Während einer Klausur zu Stefan Zweigs "Schachnovelle" entdeckte ich Kira, eine Gleichgesinnte. Ausdruckslos saß sie vor ihren leeren Blättern und sinnierte. Gelegentlich ging ein Ruck durch ihren Körper, woraufhin sie erschrocken zur "Schachnovelle" griff und heftig darin herumblätterte. Sie tat das mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens. Wie ein junger Welpe, der seine tapsige Pfote zum ersten Mal in tiefen Schnee taucht. Dann – womöglich zur Beruhigung – wandte sie sich einem Haufen bunter Radiergummis zu, den sie vor sich ausgebreitet hatte. Sie radierte mit einer Inbrunst, daß es eine Lust war, ihr dabei zuzuschauen. Die Schnipsel sortierte sie nach Farben und deponierte sie in einem eigens dafür vorgesehenen Kästchen.
Wir wurden Freunde.

Kira brachte mir bei, Joints zu drehen und die Muskulatur der Oberschenkel so weit anzuspannen, daß sie nahezu jedes Gewicht aushielten. Als uns das Stemmen kleinerer Krafträder zu langweilig wurde, legten wir unsere Beine unter das Auto ihres Bruders, der dann zwei-, dreimal über uns hinweg fuhr. Als mein Vater davon erfuhr, war er außer sich. Meine Mutter war begeistert und ließ sich zusammen mit uns überfahren.

Kira soff mit der gleichen Inbrunst wie sie radierte. Wir verbrachten viel Zeit in zwielichtigen Bars, in denen man schon breit war, wenn man nur einmal tief durchatmete. Als entschiedene Gegner der Mittelmäßigkeit kifften und soffen wir uns durch die gesamte Stadt bis in die Notaufnahme des Krankenhauses. Wir kamen ins gleiche Zimmer und erhielten die gleiche, knappe Genesungskarte:
"In vino mäh veritas. Ibi jacet mäh lepus. Mäh?"
(Im Wein mäh liegt die Wahrheit. Da liegt mäh der Hase [im Pfeffer]. Mäh?)
Selbst von meinem Vater erhielt ich einen Genesungswunsch. Er schickte mir den Holzschnitt eines gefallenen Engels und unterschrieb mit "Incubus“.

Die Zeit kurz vor den Abiturprüfungen verbrachte ich vor dem Fernseher. Mit halbgeschlossenen Augen und verzücktem Gesichtsausdruck erforschte ich die Welt der Seifenopern. Meine ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem Modehaus Forrester aus Reich und Schön Die Dialoge waren von simpler Schönheit:

Ein Büro in LA
Ridge Forrester: "Mutter, wo haben wir noch gleich die Stoffe für die Frühjahrskollektion?"
Stefanie Forrester: "Na, die hat sich Brooke, dein kleines Flittchen, unter den Nagel gerissen!"
Brooke Logan: "Stefanie! Ich werde deinen Sohn heiraten. Du kannst es nicht verhindern.

Ein anderes Büro in LA
Thorn Forrester: "Vater, wo haben wir noch gleich die Mappe für die Winterkollektion?"
Eric Forrester: "Na, die hat Clarke, der kleine Emporkömmling, gestohlen!"
Clarke: "Eric! Ich werde deinen Sohn heiraten. Du wirst mich nicht daran hindern können.

Strandhaus in LA
Taylor Hayse: [blickt versonnen auf den Wehenschreiber] Oh Ridge! Wie wirst du reagieren, wenn du erfährst, daß ich dein Kind unter meinem Herzen trage?"

Das Problem war, daß Taylor nie mit der Sprache herausrückte. Bis heute warte ich darauf, wie Ridge reagieren wird. Taylor war verdammt nah dran, es ihm zu beichten. Doch immer kam Brooke dazwischen. Ich lernte den Satz auswendig. Bald konnte ich ihn flöten wie die Hayse und trug den gleichen sehnsuchtsvollen Ausdruck in den Augen.
"Oh, Ridge! Wie wirst du reagieren, wenn du erfährst, daß ich dein Kind unter meinem Herzen trage?" sagte ich beim Frühstück zu meiner Mutter. Als ich meinen Vater mit der Stimme von Thorn Forrester fragte, wo er noch gleich die Mappe für die Winterkollektion habe, zertrümmerte er den Fernseher und trug ihn in den Keller zu den Bildern und der "Zeugung Mose".

Aus mir ist etwas geworden.

Ich studierte Medizin und habe heute mein Auskommen als glückliche Besitzerin einer kleinen Praxis im Süden der Stadt. Die Kunstwerke aus dem Keller meines Vaters schmücken nun die Wände meines Behandlungszimmers. "Sie ist völlig aus der Art geschlagen", behauptet einer meiner Kollegen, der mich zufällig dabei beobachtete, wie ich zuerst in einen Knöterich biss und mich dann in einer rasanten Spagatabfolge durch eine prächtige Allee nach Hause schob.
 

majissa

Mitglied
Lieber Josh,

danke für deinen ausführlichen Kommentar, der mir doch tatsächlich ein "Aha-Erlebnis" beschert hat. Ha!!Das "Joshgefühl" hat mich auf die Übeltäter im Text hingewiesen. Die Autoepisode kommt schlicht und einfach zu plump daher. Der knappe Hinweis, dass die Protagonistin ihre Oberschenkelmuskulatur trainiert, ist da als Begründung für ein Überfahrenlassen zu unglaubwürdig. Die Witzelei ist allzu eindeutig. Woody Allen beispielsweise macht das viel feiner:

"Als er fünf war, bemalte er seinem Bruder den Kopf, obwohl sein Vater, Anstreicher von Beruf, mehr von der Tatsache aus der Fassung gebracht war, dass er den Jungen nur einmal gestrichen hatte."

Genauso verhält es sich mit den Joint- und Sauforgien. Sie kommen zu plötzlich. Gut - dass die Protagonistin gerne experimentiert und Drogen sich da geradezu anbieten, ist schon klar. Aber es müsste doch möglich sein, den Humor feinsinniger zu gestalten. Sag mal, kritisiere ich mich gerade selbst? ;)

Jedenfalls lagst du mit deinem Gespür genau richtig.

"Spare in der Zeit, so hast du in der Not" kenne ich nur ohne "es". Vorsichtshalber habe ich aber mal nachgeschaut, kam aber auf das gleiche Ergebnis. Mein Geheimrat rät mir hier ab, ein "es" einzufügen, aber ich denke trotzdem noch darüber nach.

Nancy Spungen? Ich habe nie von ihr gehört, recherchierte aber und fand eine Nancy Spungen, die an einer Überdosis Heroin starb. Oh Gott! Vielleicht sollte ich doch lieber romantische Geschichten schreiben. Zum besseren Verständnis sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass nur die Neigung zum Pflanzenverzehr und sporadisch auftauchende Experimentierlust autobiographischen Hintergrund haben.

Ich habe mich sehr über dein Lob gefreut, zumal ich weiss, wie gnadenlos du kritisierst.

Sollte dir noch etwas auffallen...nur zu!

Liebe Grüße
Majissa
 

JoshHalick

Mitglied
Hallo Majissa,

ja… ja doch, das wars! Es kam etwas plötzlich zum Schluss!
Ich grübel schon die ganze Zeit nach Fehlern, kann aber keine ausmachen.
Aber was mir noch einfiel. Also was mir am besten gefiel war das Zwinkern… das heißt das Nichtzwinkern! Sehs deutlich vor mir!
Ach ja und Kiras sortierte Schnipsel … Die kamen zwar nur kurz dran aber die sind hängen geblieben.

Ich hab mir Anhand deines Beispiels noch mal den ein oder anderen Satz angesehen… Empfinde sie aber schon als richtig gedeichselt. Vor allem, da es ja nicht gerade ein kurzer Text ist, ist es schon beachtlich, das du es geschafft hast so viel darein zu stecken, ohne das es überladen oder unglaubwürdig wirkt.
Na ja sicher ist manches ganz gaaaanz leicht unglaubwürdig. Aber man kaufts dir eben ab. Was ja auch die eigentliche Kunst ist.

Ach ja und was ich grad noch lese. Du hast am Ende geschrieben:

Aus mir ist etwas geworden.

Und ich finde es sehr gut, das da nicht stand:

Trotzdem ist aus mir etwas geworden.

Denn diese winzige Kleinigkeit hätte den Text um etwas gebracht, was ich persönlich großartig finde. Ja, das hat mir gefallen.

Wenn ich jetzt noch mal ganz genau nachdenke… dann kommt Oma Fine vielleicht etwas lang oder kurz.
Wie mans nimmt… Ja na ja sie erfüllt ihren Zweck wegen der Geburt und dem schlechten Stern und so… Aber irgendwie hat sie doch Potenzial. Ich seh sie.. frag mich nicht warum… da sitzen mit dem Knochen in der einen Hand … wie eben son Zepter … und den Hörer in der anderen.
Also wirklich kein Wunder, dass das Kind später Medizin studiert hat. Seh grad vor mir wie Finchen ihr im Meskalinrausch begegnet… den Hüftknochen schwingend um den sich eine Schlange windet… wie sonen Äskulapstab… das hat was sehr prophetisches…
Aber meine Phantasie geht mit mir durch…

Also na ja, an Nancy Spungen erinnerte es mich nur, weil das auch son verrücktes Kind war. In dem Falle wars natürlich eher eine sehr sehr dramatische Geschichte. Nichts worüber man lachen mag. Aber die verrückten Ideen, das erinnerte mich dann doch…

Was fehlt denn noch? Ach ja, das „es“. Na gut, das akzeptiere ich. Macht sich auch nicht gut dem Geheimrat zu widersprechen. Bei Gott ja, mit dem muß man sich gut stellen! Versteh das also :eek:P

Hm… fällt mir noch was ein?... Nein, nö, ne jetzt hab ich mich erstmal wieder leer geschrieben…

Die besten Grüße
Josh
 

Petra

Mitglied
Liebe majissa,

spitzenmäßig! Jedes weitere Wort dazu wäre eines zu viel!

Lediglich eine Bemerkung am Rande:
Das Sprichwort lautet schon richtig - "Sparst Du in der Zeit, dann hast Du in der Not".

Ach, und es fällt mir ein:
Die Autoepisode kommt nicht zu schlicht und plump daher, sondern gerade schlicht genug! Du überlädst nicht, und das ist - meines Erachtens - gut so!

Fazit: Höchst gelungen!

Viele Grüße.
Petra
 

majissa

Mitglied
Der schwingende Äskulapstab hat was

Ja, Josh, ich glaube auch an Fines Potential. Eigentlich hatte ich sie widerwillig eingebaut, weil Mr. Tripps Ableben als alleiniger Grund für die Ablehnung des Vaters nicht ausreichte. Während des Schreibens wurde sie mir dann immer lieber. Als Familiendrachen mit kriminellen Neigungen und einem gewissen Hang zur schwarzen Magie hätte sie eine gute Figur abgegeben. Ich sehe sie jetzt auch vor mir, wie sie, Senilität vortäuschend, auf den Rasen des Nachbarn pullert und sich unter wilden Flüchen von ihm nachhause schleifen lässt und als Kopf einer Geheimorganisation zur Befreiung Palästinas nicht nur Ferngespräche führt, sondern auch heimlich Reisen in den nahen Osten unternimmt, wo sie -unter ihrem Gewand - bis auf die Zähne bewaffnet arabische Teehäuser aufmischt und Konkubinate stürmt...
Nun ja, auch mit mir geht die Phantasie durch.

Wirklich nett, dass du dir noch mal Gedanken über den Text gemacht hast. Dein Lob hat mich gefreut, zumal ich schon dachte, der Text gerät mir wirklich ZU unglaubwürdig. Es ist also noch im grünen Bereich. Fein...:)

Die Schnipsel und das Augenzwinkern fand ich gar nicht so berauschend. Da sieht man mal wieder, wie wichtig die Lesermeinung doch sein kann. Fast hätte ich Kira nämlich ganz gestrichen.

Danke nochmal und liebe Grüße
Majissa

P.S. Mein Geheimrat ist furchtbar gnadenlos mit meinen Texten.
 

majissa

Mitglied
Liebe Petra,

ich habe mich wahnsinnig über dein Lob gefreut und wurde geradezu verlegen. Du hast also tatsächlich nichts zu bemängeln und die Autoepisode kommt dir nicht zu abrupt? Hm...ich dachte, an dieser Stelle doch ein wenig zu plump, zu konstruiert an die Sache herangegangen zu sein. Aber gut, du magst es so. Ich werde nochmal gründlich über die Sache nachdenken.

Liebe Grüße
Majissa
 

majissa

Mitglied
*RÄUSPER*

Himmel Herrgott!

Da komme ich mißmutig nach Hause, checke müde mein Postfach, erhalte eine Mitteilung der Leselupe und reiße in ungläubigem Staunen meine Augen auf:

"Pleistoneun hat auf Membrum Virile geantwortet!"

Du hast es tatsächlich getan und bist auch sonst fleißig dabei, wie ich sehe. Die Fremdtextschutzrüstung leistet also ganze Arbeit. Danke für das große Lob. Da du ja noch um einiges skurriler schreibst, hätte ich nicht mit solcher Begeisterung gerechnet. Toll, ich freue mich. Danke dir.

Liebe Grüße
Majissa (jetzt hellwach)
 
D

dubidu

Gast
Liebe majissa,

ein langer Text, der, sobald jemand darauf aufmerksam geworden ist, von dieser Person auch bis zum Ende gelesen wird. Ganz bestimmt!

Das hat folgenden Günde:

- du bedienst dich einer Sprache, die nicht mit Bildern geizt und die sehr leicht verstanden werden kann

- du schreibst sehr witzig und die Protagonistin wirkt ausgesprochen "sympathisch"

- die (ironische) Selbstreflexion der Protagonistin auf ihren Lebenslauf wirkt nicht nur im hohen Maße authentisch, sondern fordert den Leser auf, sein Leben auch einmal von diesem Blickwinkel aus zu betrachten.

Schönen Wochenende.
gez. das dubidu
 

majissa

Mitglied
Liebes Dubidu,

danke fürs Lesen und Loben. Ich glaubte die Geschichte schon für immer in der Versenkung verschwunden. Du siehst mich erfreut. Deiner Antwort entnehme ich, dass dich der Text kurzzeitig den Blickwinkel ändern ließ und du vielleicht sogar geneigt warst, auch mal in einen Knöterich zu beissen? Warum die Story - auch über lange Strecken - so authentisch wirkt, ist mir ein Rätsel, geschahen doch wirklich nur das zaghafte Nagen an Blütenstengeln und die phasenweise auftauchende Lust am Experimentieren tatsächlich. Alles andere entsprang der Phantasie. Wie schön aber zu wissen, dass es mitreißt. Was will ich mehr?

Auch dir ein schönes Wochenende
LG Majissa
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
prust,

kicher, lach!
gewöhnlich ziehe ich mir geschichten von der länge erstmal aufe festplatte, aber ick konnte einfach nich uffhörn mit lesen. ganz große klasse! mehr davon wünscht sich
 

majissa

Mitglied
Liebe Flammarion,

danke für die Blumen. Du konntest nicht auhören zu lesen...was will ich als Autorin mehr? Hat mich ja echt gefreut, dass du das lange Aas durchgelesen hast.

Liebe Inu,

damit hätte ich ja gar nicht gerechnet. Immer, wenn meine Geschichten schon mit halbem Bein im Archiv sthen, kommt dann doch noch mal ein Kommentar. Das ist eine schöne Überraschung, zumal du die Story so klasse findest. Puh, da bin ich ja holde errötet. Aber sag mal...gab's denn gar nichts zu mäkeln? Vielleicht findest du die Frage seltsam, aber ich glaube, du verstehst, was ich meine. Man traut dem Braten nie ganz. Aber gut; da sonne ich mich mal ganz sorglos im Lob :)

Liebe Grüße euch Beiden
Majissa
 

Inu

Mitglied
Hallo majissa

Beim Suchen danach gibts bestimmt immer Kleinigkeiten zu bemäkeln.:) Aber hier sind sie nicht der Rede wert. Nein, die Geschichte hat mich ganz und gar überzeugt.

Inu
 

Gorgonski

Mitglied
Danke schön für die Story

Also- man möchte glauben (und vielleicht isses ja auch so) hier hat ein Profi geschrieben.
Die Story als Lebenslauf (nach dem "Otto"- Muster) finde ich bemerkenswert. Die Fülle an
kleinen Geschichten in der Geschichte erinnert mich an Stephen King's Abrisse, wenn er aus der
Kindheit und den Faxen/Phantasien von Kindern berichtet.
Es bleibt mir ein dickes Lob auszusprechen und fast schon Neid. Nun werde ich aber Deine anderen
Geschichten mal antesten, um Deine Vielfältigkeit zu ergründen.
 

majissa

Mitglied
Lieber Gorgonski,

Gott bewahre! Hier schrieb kein Profi, nur jemand, der beim Schreiben Spaß hatte und dem das Thema lag. Es waren tatsächlich erst kleine Geschichten, Ideen und Gedankenfetzen, die ich später zu einem Ganzen vereinte und dabei wohl ein glückliches Händchen hatte. Aber bitte keinen Neid! Ich schreib auch oft den letzten Mist. Über dein Lob habe ich mich sehr gefreut. Danke dir fürs Lesen.

LG
Majissa
 
Hallo Majissa!

Ich bin zwar etwas spät dran, aber ich konnte es mir nicht verkneifen, Deine Geschichte zu lesen. So was würde ich gern auch mal gedruckt sehen. Vielleicht würden dann wieder mehr Leute in die Buchhandlung gehen und lesen wollen...
Nun gebe ich noch meinen Senf dazu. Fast alles Kleinigkeiten um nicht zu sagen Nichtigkeiten:
(...)Dabei lag die nach Überzeugung meiner Mutter schon in Oma Fines Händen. Sie war der [red]"Don"[/red] [blue]wirklich 'Herr?', oder lieber: Donna, 'die Herrin'... [/blue] (...)
Als Tante Luise "[red]Der Don[/red] [blue]s.o.[/blue]ist tot!", in den Hörer brüllte, war die Sache mit dem Denver Clan vergessen und ich verließ als Tochter einer euphorischen Mutter das Krankenhaus. (...)
Eine handtellergroße Delle im Grammo[red][strike]ph[/strike][/red][blue]f[/blue]ondeckel, ein tiefgefrorener Hüftknochen und zwei Zähne in einem Samtkästchen erinnern noch heute an den Todestag von Oma Fine. Das Grammo[red][strike]ph[/strike][/red][blue]f[/blue]on ist aus Mooreiche und der Gedanke, (...)
"Sie hatte die härteste Hirnschale der Welt", verkündete er jedes Mal stolz beim Entstauben und Polieren der Delle.
"Ja, sie hat dem Ding so richtig eingeheizt!", versicherten wir ihm, hielten den Daumen hoch und tauschten im Keller den ekligen Hüftknochen [red]des "Don"[/red] [blue]s.o.[/blue]gegen ein Modell aus Ton aus. (...)
"Dein Kind grast die ganze, verdammte Stadt ab!", schrie mein Vater [red][strike]meine[/strike][/red] [blue]die[/blue] Mutter an.
"Ach ja? Wer sagt das?"
Gerade lief ein Double-Feature von Reich und Schön.
"Unser Nachbar möchte sie zum Heckenstutzen mieten!"
"Frag ihn, was dabei herausspringt und vergiss‘ auf dem Rückweg meine Zigaretten nicht!", schnitt meine Mutter ihm [red][strike]und Seifenoperkönigin Stefanie Forrester[/strike][/red] [blue]a bisserl zu viele Wörter zwischen 'schnitt' und 'ab'[/blue] das Wort ab. (...)

(...)"Er streut dir doch nur Traumkörnchen in die Augen, damit du einschläfst", sagte meine Mutter.
[red]"Ach ja? Nenn’ mir einen, der schmerzlos einschläft, wenn er die Augen voller Sand hat!"[/red] [blue]Hmm, ein kleines Mädel würde sich wohl wesentlich einfacher ausdrücken...[/blue] (...)
Alles, was es im Überflu[red][strike]ß[/red][/strike][blue]ss[/blue] gab, machte mich mi[red][strike]ß[/red][/strike][blue]ss[/blue]trauisch. (...) Tante Luise war es peinlich, wenn sie mich dabei erwischte, wie ich ihren Jägerzaun umarmte. "Was machst du da nur?" fragte sie und zerrte mich ins Haus. "Du solltest dich was schämen!" "Wenn du mich ihn jetzt nicht umarmen lä[red][strike]ß[/red][/strike][blue]ss[/blue]t, (...)

[blue]"[/blue]Das blutende Ohr Van Goghs[blue]",[/blue]
[blue]"[/blue]Vagina einer Übergewichtigen[blue]",[/blue]
[blue]"[/blue]Rabelais bei der Sezierung an einem Gehängten
Komplettes Werkzeug des Rippers[blue]",[/blue]
[blue]"[/blue]Ein Jungfrauenopfer zu Ehren der Göttin Kali[blue]"[/blue] (...)

Wortlos und mit hängenden Schultern trug er die [blue]"[/blue]Zeugung[blue]"[/blue] in den Keller. (...)
Als ich erfuhr, daß Gehirnzellen absterben, traf ich den Entschlu[red][strike]ß[/red][/strike][blue]ss[/blue], all die nutzlosen Lehren und Eindrücke, die täglich auf mich eindrangen, abzublocken. (...) Albert Camus Erkenntnis der Sinnlosigkeit aller Dinge kam mir bei dem Versuch zupa[red][strike]ß[/red][/strike][blue]ss[/blue], bereits gespeicherte, jedoch hartnäckig auf ihren Platz beharrende, Daten zu löschen. (...)

Als ich meinen Vater mit der Stimme von Thorn Forrester fragte, wo er noch gleich die Mappe für die Winterkollektion habe, zertrümmerte er den Fernseher und trug ihn in den Keller zu den Bildern und der [blue]"[/blue]Zeugung Mose[blue]"[/blue].
Hoffentlich bringst Du noch die Welt durcheinander.
Liebe Grüße,
Alexander
 

majissa

Mitglied
Oh!

Hallo Alexander,

das ist ja eine Überraschung, dass sich noch mal wer auf diesen Text hin meldet. Dein Lob hat mich riesig gefreut. Besonders, dass du die Geschichte gern gedruckt sehen würdest und mir zutraust, die Welt durcheinander zu bringen. Bisher beschränkt sich das nämlich nur auf meinen Schreibtisch. Aber auch die sogenannten "Nichtigkeiten" sind mir sehr wichtig. Die Rechtschreibfehler werden gleich am Wochenende verbessert. Auf die Seifenkönigin kann ich jedoch nicht verzichten. Dass da doch noch etliche Fehlerchen vor sich hinschlummern, hätte ich ja nun nicht vermutet. Du hast ein gutes Auge.

Danke und lieben Gruß
Majissa
 

Bonnie Darko

Mitglied
Nein, nein, nein! Das muß unbedingt "der Don" bleiben!!!

Erstens würde ein "Donna" den Sinn verfälschen, und zweitens ist gerade die Kombination alte Frau="Don der Familie" witzig.

Ich liebe diese Geschichte und lese sie immer wieder gerne.

Schönen Kronkorken noch,
BD
 

majissa

Mitglied
So, nun habe ich den Text auf Alexanders Vorschläge hin nochmals überprüft und einiges übernommen. An der Sandmann-Stelle feile ich noch herum. Die Protagonistin ist ja nun mal etwas altklug, ein absonderliches Kind mit ganz konkreten Vorstellungen, Zielen und einer großen Portion Eigenwilligkeit. So gehört es zu seiner Persönlichkeit, sich zuweilen altklug auszudrücken. Vielleicht ist der erwähnte Satz aber tatsächlich eine Spur zu übertrieben geraten. Mal sehen, was mir dazu einfällt. Den „Don“ lasse ich aus den von Bonnies angeführten Gründen stehen. „Donna“ würde tatsächlich das Bild meiner Oma Fine verfälschen.

Schönen Dank noch mal für das Lektorat, Alexander und dir Bonnie, fürs Lob. Hat mich sehr gefreut.

Lieben Gruß
Majissa
 

GabiSils

Mitglied
Ist doch toll, majissa, wenn immer mal wieder Kommentare kommen, dann habe ich einen Grund, es nochmal zu lesen :)

Mein Lieblingssatz ist "Mit der Einschulung begannen die ersten zwanghaften Verhaltensweisen."
Ach.

Einen Fehler habe ich wahrhaftig noch gefunden:

Meine Mutter hing es in den Keller zu den anderen Bildern
Es muß "hängte" heißen. "Das Bild hing an der Wand" wäre richtig.


Liebe Grüße,
Gabi
 
Hallo Majissa!

Wie gesagt, ich habe mir jetzt MV noch mal gründlich durchgelesen. Tatsächlich habe noch ein paar Sachen gefunden. Einige Formulierungen finde ich etwas seltsam. Vielleicht kannst Du ja drüber noch mal nachdenken:

1. Gleich zu Beginn ist von der Don die Rede, die dem Grammofon "so richtig eingeheizt hat". Irgendwie passt das nicht zu einem toten Gegenstand. Die Stimmung kann man einheizen, einen Menschen Arsch unterm Feuer machen, okay, mit einem Auto kann man rumheizen, aber Grammofon? Ich würde vorschlagen: "Ja, sie hat es dem Ding so richtig gezeigt!"

2. Später heißt es, dass sie mit ihrer Mutter medizinische Schmöker wälzt, "die sich mit (...) dermatologischen [red]Beschwerden[/red] befassen". Das glaube ich so nicht: Medizinische Schmöker befassen sich in erster Linie mit Krankheiten, die bestimmte Beschwerden verursachen, auf eine bestimmte Weise kuriert werden können etc. D.h. die Beschwerde ist der Teil, die Krankheit ist das Ganze, wenn Du verstehst, was ich meine (ich verstehe mich selbst kaum...). Deswegen schlage ich vor: "die sich mit (...) dermatologischen [blue]Krankheiten[/blue] befassen".

3. Irgendwann später taucht der "[red]debile[/red] Hase" auf. Das klingt mir zu "medizinisch". Es gibt doch das schöne deutsche Wort "blöd". Warum nicht der "[blue]blöde[/blue] Hase"?

4. Die arme Tante wird aus einem "[red]Bierflaschenteppich herausgeschält[/red]". Irgendwie ist diese Formulierung so bizarr, dass man sie fast beibehalten müsste. Die Gefahr aber ist, dass man an solch extremen Formulierungen "kleben" bleibt und somit der ganze Leselfluss ins Stocken gerät. Ich hätte anstelle dessen geschrieben: "wo wir sie oft aus einem [blue]Bierflaschenmeer herausfischen[/blue] mussten".

5. "Die Augen lagen auf [red]dem[/red] Trockendock." Besser: "Die Augen lagen auf Trockendock."

6. "Stundenlang saß ich in einem abgedunkeltem Zimmer und schaute [red][strike]mir an[/strike][/red] [blue]dabei zu[/blue], wie Herr Hänse demonstrativ seine Augen [red][strike]vor mir[/strike][/red] auf- und zuschlug."

7. "Die Langeweile blieb. [blue]Also[/blue] machte ich den Heimweg zu einem Hindernisparcours, [strike][red]als ich ihn[/strike][/red] [blue]den ich mir[/blue] in drei Etappen einteilte,..." Ein Temporalsatz erscheint mir unlogisch. => Relativsatz.

8. "Auf der Stelle [blue]zu[/blue] laufen war nicht erlaubt." Ein "zu" vergessen.

9. "Er sprach zwei Wochen [blue]lang[/blue] nicht mit mir." Ein "lang" vergessen.

10. Sektoren können nicht total abstürzen. Ich empfehle: "[Ich] befürchtete (...) [blue]eine totale Verwüstung[/blue] meiner sorgfältig angelegten Sektoren."

11. Das Latein von Frau Schopp ist nicht korrekt. Richtig müsste der Satz lauten: "Ego [blue]cecidi[/blue] mäh, unum porcum et mäh habe[blue]o[/blue] bon[blue]um[/blue] vin[blue]um[/blue]. Mäh?"

12. Die Prot. und Kira haben zusammengenommen mehr als einen Oberschenkel, deswegen: "Kira brachte mir bei, (...) die Muskulatur der Oberschenkel so weit anzuspannen, dass sie nahezu jedes Gewicht aushielt[blue]en[/blue]."

Zum Schluss:
Mich würde es noch brennend interessieren, warum die Prot. das Fassungsvermögen ihrer Blase trainiert. Sonst bringst Du doch immer so tolle Erklärungen. Hier aber nicht. Vielleicht könntest Du Dir da noch was einfallen lassen.
Dann würde ich gern noch wissen, was ein "Wehenschreiber" ist.

Viele Grüße,
Alexander
 



 
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