Lieber Ralf,
dein Gedicht spricht mich auf ganz eigentümliche, persönliche Art an. Deshalb werde ich mich im Folgenden etwas näher damit befassen.
Das Geschehen des Gedichts ist in die nahe Zukunft gelegt, in die Phase, in der jedwede Erinnerung an einen geliebten Menschen zu schwinden beginnt. Es handelt sich augenscheinlich um eine Selbstreflexion, die ungemein authentisch wirkt.
Thematisch geht es um Gedankenlyrik mit stark naturlyrischen Effekten. Anhand freier, gut aus- und durchgearbeiteter Verse schilderst du eine leidvolle Erfahrung, die viele von uns schon machen mussten und immer wieder machen werden.
Form und Inhalt schmiegen sich ineinander.
Zudem gibt es eine gelungene Verknüpfung von Titel und Schluss. Auch binnenversig gibt es deutliche Zusammenhänge, die von dir separiert ausgewiesen werden.
Es naht der Tag
so narrt der Tag
(die erinnerung)
es stürzt ins Meer
es schwindet
Sprachlich wirkt das Gedicht elegant und musikalisch auf mich
Dunkle und helle Vokale lösen sich auf ansprechende Weise ab, der Rhythmus ist gut.
Bezogen auf die Tropik bedienst du dich einer bild- und symbolhaften Sprache, die die größte Stärke des Gedichts ausmachen.
Dazu fällt mir die Häufung origineller Metaphern auf, die ich teilweise nie zuvor las: das
Kalben der Bilder, der erinnerten Töne, das Heuten etc.
Das Gedicht regt zum Nachdenken und zur eigenen Reflexion an.
Ich kann nur sagen - und hier fängt mein starkes persönliches Interesse an - dass sich derlei genau wie beschrieben verhält. Das Schwinden der Erinnerung und die Scham darüber, das Suchen nach eigenen Fehlern (die Selbstpfählung) und das Gefühl des Versagens. [Wäre dies alles nicht vermeidbar gewesen, wenn ich ...?]
Im positiven Sinn wird das Vergangene durch diesen schmerzlichen Vorgang ins Heute zurückgeholt; doch
so narrt der Tag
den Eindruck
Aus eigenem Erleben kann ich dir berichten, dass bei mir nach ca. 5 Jahren ein Loslassen erfolgte. Und zwar beidseitig. ---
Den Text finde ich in seiner jetzigen, überarbeiteten Form großArtig.
Verändern könntest du bei Bedarf:
so narrt der Tag
den Eindruck
Vergangenes hätt sich geheutet
[strike]und[/strike] ein Herz befreit
- das sich doch nur
nicht mehr erinnert
wann das Vergessen [blue](wann dieses Schwinden?) [/blue]begann -
streicht wieder über's Kartendeck
auf Pfählersuche
Herzliche Grüße
Heidrun