Mindblowing Poems

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T

Trainee

Gast
Etwas o.t.: Tschuldigung

0 göttlicher Willibald,

endlich findet unser bayrisches Urgestein seinen leichtfüßigen Meister! :D
Dein letzter Kommentar bescherte mir frühmorgendliche Lachtränen, Erinnerungen an Margaret Mead, eine treue Begleiterin meiner Orchideenfächer, vor allem aber die zuvor unbekannten Bartlschen Alpin Drummer (fäääsch!) und Herrn Gaga drei Fragezeichen.
Wenn das nix ist ...

Pfüat di
Trainee
 
A

aligaga

Gast
Was hat diese Hetz- und Hass-Trulle mit ihrem Geifer in diesem Thread verloren?

Schade, o @Willi. Dann führ mal deinen Dialog mit der weiter. @ali ist raus.

eom

aligaga
 

Willibald

Mitglied
Mindblowing Poems
(ziemlich lang, diese short story)


http://up.picr.de/33984247an.jpg

Rezzo

Mittwochs diese Doppelstunde Leistungskurs Deutsch beim Doc Schneider, Abiturtraining: Ein barockes Sonett von Gryphius im Vergleich mit einem Gedicht von Trakl. In Baden-Würtemberg gestellt. Schnarchig, aber nicht ganz schnarchig.

Dann stehen wir zusammen im Chemiehof, fünf Minuten für die Zigarettenpause, Rezzo tippt mir an die Stirn, an die Brust: „Was Lyrisches, was Poetisches, Sven!”
"Hä?"
„Was Lyrisches, was Poetisches brauch ich von dir, Du komischer Vogel, für die Schülerzeitung. Du versteckst doch immer deine Songtexte hinten im Ordner. Manche sagen, du machst doofe Gedichte. Ich sage: Du machst Wortgeschenke. Du stellst dich den Anforderungen, in Lyrik und in Prosa. Stinklangweilige Kommentare und Berichte haben wir genug auf Lager.”

Er gluckst, der Blödmann, dann fächelt er mit der Hand vor meinem Gesicht: Einfach drauflos schreiben. Den Alltag skizzieren, eine Szene aus der - er kichert - Adoleszenz. Auch im Leben von öden Langweilern stecke Poesie.
"Wie witzig", sage ich.
"Nö", meint er, „ist ernst, probier es. Vielleicht ein Gedicht, vielleicht eine short story.”
"Ok, mal gucken."
„Guck mal nicht so lang, Sven. Das Leben vor dem Abitur gleicht einer Rennebahn.”
O ja", knurre ich, „aber immerhin mit Zäsur, vor gleicht.” Und gucke verstohlen, ob Mirjam das gehört hat. Sie hat.
„Schon, schon“, sagte Rezzo, „aber" - er hebt den Zeigefinger leererlike - "die Zäsur" - er spitzt den Mund, das Frettchen, und dann reimt er auch noch - "kommt nach Abitur.“ Mirjam grinst.

Nachmittags ging´s zum Aldi, wollte eine Flasche Kentucky Bourbon Whiskey kaufen. Rezzo sagt, Whiskey inspiriere ihn, da schreiben sich seine Sachen für die Schülerzeitung wie von selbst. Rezzo feiert sich dann: Er speichert seinen Text ab, fährt den Computer runter, macht in seinem Zimmer ein Feuer, tanzt darum herum, singt „loved” und die Nachbarn klopfen an die Wände den Rhythmus.


Rezzo, der Große. Er ist wirklich groß. Key Account Manager sozusagen. Wer kam auf die Idee, die Schülerzeitung "JBB-Jetzt” ins Netz zu stellen undden Direktor zu überzeugen? Eine aktuelle Johannes-Butzbach-Gymnasium-Zeitung mit Forum? Betreuungslehrer und Schüler stellen jeden Monat eine neue Ausgabe ins Netz. Beim Forum geht man ähnlich vor: Ein Gremium überprüft, ob die Einsendungen und Zuschriften publiziert werden können. Wer ist der geniale Ober-Macher? Rezzo. Chefredakteur, flache Mimik, effizient. Seine Redakteure schreiben, wenn sie inspiriert sind. Und die Leser können Leserbriefe direkt in die Forum-Kontaktbox schicken, wenn sie beim Lesen inspiriert wurden. Bloß, dass kaum einer schreibt. Low Performer, mentale Selbstaktivierung gleich Null.


Auf schwarzen Eulenschwingen

Beim Aldi guckte mich die Kassiererin an, kaum älter als ich, ich gucke sie an.
„Du bist schon über sechzehn? Whiskey an Jugendliche, das ist nicht drin.”
"Ich bin Sven. Sven Rappe. Achtzehn. Du kennst mich doch vom Sehen. Du gehst öfters mit Mirjam zum `Da Toni´."
Sie lächelt: "Klar, aber ich will deinen Ausweis trotzdem. Das macht sich gut beim Chef. Er beobachtet durch den Spiegel die Kasse, Probleme mit dem Aufsichtsamt. Du glaubst gar nicht, wieviel Jungs von fünfzehn oder sechzehn hier Alkohol holen wollen. Zum Mädchen Anbaggern. “

„Oh, wie blöd”, sagte ich gedehnt-ironisch, und schaute verstohlen in den Einwegspiegel, zeigte ihr meinen Ausweis und zog mit meiner Flasche in der Plastik-Tüte ab. Zuhause setzte ich mich rezzo-like in die Nähe des Computers an den Schreibtisch. Mineralwasser, Glas, Whiskey-Flasche.

Bin schon längst nicht mehr sechzehn, weiß aber noch gut, wie das ist. Du gehst an den Mädchen vorbei, die kichern plötzlich, kriegen Schluckauf, verdrehen die Augen. Du wirst rot. – Du gehst in den Supermarkt. Die Kassiererin mustert schweigend die Flasche in deiner Hand. Du ziehst belämmert ab. Und die Damen in der Kassenschlange gucken dir nach, fixieren deine rosa Ohren und du spürst, wie sie rot und röter werden. „Adoleszenz”, hatte unser Biologielehrer Peter Wissmattinger doziert, „das ist: Hormonrasen, kordiale Mikro-Spasmen, rosa Ohrwascheln.” "Ohrwascheln" - aus Oberbayern der Mann, in Unterfranken aufgeschlagen. Hat eine Sportlerlaufbahn, hinter sich, sieht man ihm noch an.

Ich schenkte mir ein, schaute in das Glas, 1 ccm Whiskey und 5 ccm Selters mischten sich. Und da kam es rabenschwarz und rosa über mich: Solo sein, der Main, ein lyrisches Ich, Sätze wie „Mag uns wer?”, Verszeilen, richtige, mit Rhythmus und Reim. Clemens Brentano, Freiherr von Eichendorff, der barocke Gryphius, ein schlanker Heine, die ganzen Kerle aus dem Kursordner, blickten aus dem Glas, zwinkerten.

Ich brauchte eine Stunde, Rohentwurf, dann Feilen und Polieren; dann war es vorläufig fertig. Ich lud den Text ins offene Rezzo-Netz, Lyrik ist unbedenklich, Sparte "Mind-blowing Poems" und las ihn mit Vergnügen, meinen Text.

Sterne, dünn glitzernd

Ich blicke in die weite Ferne,
am Himmel glitzern dünn die Sterne,
Ganz solo sitze ich am Main.
Mag mich wer? Ich glaube: nein.

Und auf schwarzen Eulenschwingen
fällt die Traurigkeit mich an
will mir in die Schläfe dringen.
Fluch Dir, Vogel, bist kein Wahn!

O Du, der diese Zeilen liest,
Und schwarze Wesen vor Dir siehst.
Du fühlst wie ich, hörst Klagerufe?
Dein Lächeln stellt mich auf die Hufe!
S. R.


Kopfkino

Hufe und R., Rappe, gut was? Ich schaute mir eine halbe Stunde die drei Strophen auf dem Bildschirm an, von oben nach unten, von unten nach oben: „Lyrisches Ich”, melancholisch, sitzt am Main. Eulenvogelattacke, richtig trist, irgenwie metaphorisch. Männliche Kadenz, weibliche Kadenz, raffiniertes Reimschema, weitgehend Jambus als metrisches Gitter, aber zweimal Akzentakkumulation (ähä: Hebungsprall. Sagt Schneider. Heiterkeit.) - bei "Mag mich wer" und "O Du". In der dritten Strophe dann die Leseranrede. Witziger, ironischer Touch, dieser Heinrich Heine hat sowas drauf, also vergleichbar nur, natürlich: setze mich um Gotteswillen nicht gleich, auch wenn Größenwahnsinn angesagt ist, Tanz den Rezzo.

So ein brillantes Gedicht! Muss man feiern! Party! Also: Eiswürfel aus dem Kühlfach holen, ins Glas füllen, klickern lassen, über dem Text den Kopf senken, meditieren. Ab einem bestimmten Punkt kommt die Trance. Das Kopfkino beginnt zu laufen, die Zimmerwände öffnen sich und du kannst plötzlich alles sehen. Da sitzen sie, surfen im Internet und klicken spontan unsere Zeitung an. Mundwinkel nach unten, die Augenbrauen nach oben, zappen weg, leicht verächtlich, weiter im Netz, unberührt von Poesie. Low Performer, sagt mein Vater, Bildungsforscher mit Arbeitsstelle in Würzburg.

Aber da sitzt Mirjam. Hat viermal in München die Rocky Horror Picture Show angeschaut. Da gibt es, sagt sie, ein Kino an der Isar. Spielt das seit vielen Jahren. Und die Leute singen mit. Time Warp, RiffRaff und das alles. Auch im Leistungskurs Deutsch, hohe Stirn, lacht über meine Jokes, weil: Sie ist intelligent, sie ist schlau, sie ist schön. Lyrik ist wie „lyrics”, sagt sie, tanzende Worte und Sätze, tanzende Texte, sagt sie. Musik. Die liest das genau, die anderen sind spätestens bei der zweiten Strophe mit den Eulenschwingen ausgestiegen. Aber Mirjam, also Mirjam, die liest den Text bis zum Ende. Und dann noch einmal.

Sie kann in dem Stil schreiben. Der Vater hat wahnsinnig viel Bücher im Wohnzimmer, Germanist und Linguist. Heute morgen im LK war sie auf die Takte von Andreas Gryphius doch tatsächlich abgefahren, Alexandriner mit Zäsuren: „Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn/Laß, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten …” Der Doc hatte die Stimmung genutzt, hatte eine kreative Schreibübung eingeschoben und wir probierten den Gryphius-Stil.

Rezzo trug etwas vor von Gleitflügen. In den Tälern Bourbon-Kentuckys. Es wurde sehr lustig. Von nebenan der Französischlehrer steckte den Kopf rein, was da los ist. Und: Wir bereiten doch gerade die Klausur vor, Herr Kollege Doktor Schneider. Auf dem Heimweg wollte Mirjam gleich nach Hause. Niente "Da Toni". Matheklausur am Donnerstag. Der Grundkurs.

Amors gefiederte Axt

Kreisende Eiswürfel im Glas, ziemlich klein, klickern nicht mehr, sirren kreiselnd. Ab und zu ein Blick in den Mail-Ordner auf der unteren Leiste meines Bildschirms. Puh, wenn überhaupt von jemandem, dann könnte von Mirjam eine Antwort kommen, nicht jetzt, natürlich nicht jetzt, irgendwann.

Und was soll ich sagen? Um 21.00 Uhr erscheint dieser Text, DER TEXT, auf dem Screen:

Am Main
(Dem rappenschwarzen Melancholicus zugeeignet)

I've got to keep control
I remember doing the time-warp
Drinking those moments when
The Blackness would hit me

Am Main, da wächst der Rebensaft,
er wird mit Fleiß gepfleget.
Ach, süß und köstlich wirkt die Kraft
Von Traubenhaut umheget.

Nach Glück ein jeder Mensch verlangt
Wer einsam ist, der fluchet.
Und wo ein Fluch im Netze prangt
verstehst du gleich: man suchet.

Hinweg mit dir, du Eulen-Nacht,
Dein Flügel wird gestutzet.
Der Fluss, der Sommer, alles lacht.
Die Au ist grün geputzet.


P.S.
Gruß von der S. übrigens.
(Seit wann dürfen die bei Aldi mit 17 an die Kasse?)
Wir sehen uns morgen nach der Matheklausur, muss jetzt unbedingt schlafen.
M.



Tja, das hat Mirjam geschrieben. Erschütternd. Bin seit zwei Stunden so was von erschüttert, musste alles aufschreiben, im Tagebuch festhalten, fiebrig, heiß die Stirn. Hab an Mirjam gemailt. Vielleicht ist sie doch noch wach und liest es. Wenn nicht, spätestens morgen.

Jetzt um 0.30 hör ich auf, bin voll von zwei kleinen Gläsern Whiskey ohne Kohlensäure, bin gestreift von Amors gefiederter Axt, behämmert von Amors Flügelschlag, von Mirjams Hammertext beflügelt. Loved. Die Flasche stell ich besser weg, weg in die Küche.

Wär ja blöd, ich sehe Mirjam morgen vor der Klausur auf dem Gang und bin im Tran, mir fällt nix ein, dann räuspere ich mich und sage unsicher zuerst „Guten Morgen“ und dann gleich hinterher, weil sie aus München zu uns nach Unterfranken kam: „Grüß Gott!“ Stilsicher, poly-glott. Und bisschen peinlich. Und sie lächelt ein bisschen stolz und sagt vielleicht: „Mei, ich bin´s doch nur.“

Anmerkung:

Mirjams Lieblingslied in der Rocky-Horror-Picture-Show
https://www.youtube.com/watch?v=umj0gu5nEGs]RiffRaffs
Time-Warp

Der Treff "Da Toni" (Eisdiele und mehr)
http://up.picr.de/33990951xs.jpg
 

minitaurus

Mitglied
Eine Kleinigkeit am Rande:
Mag mich wer? Ich glaube: nein.
Die Zeile hat mich in Bann geschlagen: Wie muss man beschaffen sein, um so etwas so sagen zu können?
Das [blue]wer[/blue] mag reimtechnisch bedingt sein, [blue]jemand[/blue] würde jedenfalls holpern. Aber ist da nicht auch schon ein Hauch von darüber Stehen enthalten? Mag mich jemand wäre nicht mehr als eine depressive Standardgrübelei. Mag mich wer dagegen ist irgendwie frech. Vielleicht nur eine kontraphobische Frechheit, aber es geht ja noch weiter: Da ist nicht von Furcht die Rede, was zur Depression passen würde, sondern von Glaube, und das wirkt stark, wirkt souverän.
Also ich glaube, man muss ziemlich stark sein, um so über sich sprechen zu können...
Das passt scheinbar nicht in den Kontext, aber vielleicht ja doch?
 

Willibald

Mitglied
Schön, wen jemand/wer auf Zwischentöne und Subtexte resoniert (sic!).

Mir scheint auch, unser jugendlicher Held zelebriert ein bisschen Gebrochenheit und hofft, man werde seine Kunstfertigkeit augenzwinkernd erkennen und damit darauf reagieren. Gewiss hat er sich - mit einer gewissen Sprachbegabung bestückt und von DocSchneider angeregt - in einen Flow begeben, gebeamt, in dem anthropogene Resilienz tröstlicherweise ihre Energie entfalten kann.

So schreibt er denn eine shortstory und implantiert darin
altvordere Gedichte und anderes.

Eines von vielen den Schreiber anregenden Beispielen - aligaga meinte einmal bei "Sophies Geheimnis, man müsse als Leser über gewissen Grundkenntnisse verfügen und von der aktuellen Literatur samt feuil·le·tons was wissen - hier ein schönes Beispiel. Junger Mann, sehr viel jünger als Kipper versucht schönes Mädchen mittels Sprache zu bezirzen:

Als Micha bei Miriam am Bett saß, wurde ihm ganz anders. Er kannte die Geschichten von Leuten, die in diesem Land kaputtgehn, und er hatte nur einen Wunsch: Daß er Miriam retten wird. Er wollte sie schon immer retten. Manchmal wünschte er sich, daß ein Feuer oder sogar ein Krieg ausbricht, aus dem er sie retten kann – aber jetzt spürte er, daß jemand kommen und sie retten muß. Und dieser Jemand wollte er sein.

Er beugte sich zu ihr hinunter und sagte: »Weißt du, mir geht es oft so wie dir, und dann schreibe ich das immer in mein Tagebuch. Aber du bist nicht allein, wirklich nicht. Du bist nicht allein.« Miriam zeigte keine Reaktion, auch nicht, als Micha ihr versprach: »Ich kann sie dir ja morgen vorlesen, meine Tagebücher.« Und dann verabschiedete er sich und stürmte in seine Wohnung, verhängte ein Betreten verboten über sein Zimmer und begann mit der Arbeit.

Das Problem war nämlich, daß Micha nie Tagebuch geführt hat. Und jetzt mußte er. Das erste Tagebuch war am schwersten, denn Micha mußte es mit links schreiben, damit die Schrift noch ungeübt aussieht. Die Wirkung seiner Tagebücher auf Miriam würde um so größer sein, je länger er Tagebuch führt, kalkulierte Micha. Die ganze Nacht saß Micha an seinen Tagebüchern und überlegte, was es bedeutet, hier am kürzeren Ende der Sonnenallee zu leben, wo die Dinge laufen, wie sie laufen. Und er schrieb, daß er sie schon immer liebte, weil er gespürt hat, daß sie etwas Besonderes ist und daß etwas in ihr lebt, das über sie hinausgeht, und daß sie ihm immer Hoffnung gegeben hat und er ihr wünscht, alles, alles, alles möge ihr gelingen.

Er wußte, daß er ihr all seine Bekenntnisse vorlesen wird, aber das machte ihm nichts aus. Um Miriam aufzumöbeln, um sie zu retten, war ihm jedes Mittel recht. Jedes. Am nächsten Morgen wurde Micha von Frau Kuppisch gefunden, wie er über dem letzten Tagebuch eingeschlafen war. Michas Kopf lag auf dem aufgeschlagenen Tagebuch, seine Pfoten waren tintenverschmiert, und sieben leergeschriebene Tintenpatronen lagen auf dem Tisch. Jawohl, sieben! Dshingis-Khan zeugte in einer Nacht sieben Kinder, aber Micha verschrieb in einer Nacht sieben Patronen.

Als Micha mit seinen Tagebüchern zu Miriam kam, lag sie genauso apathisch im Bett wie an den Tagen zuvor, die Augen starr auf die Zimmerdecke gerichtet. Micha nahm sich das erste Tagebuch vor und zeigte es ihr: »Hier, siehst du«, sagte er, »damals habe ich mehr gekrakelt als geschrieben.« Miriam zeigte nicht die geringste Reaktion. »Ja, also«, sagte Micha und räusperte sich, »ich lese jetzt mal vor: Liebes Tagebuch! Heute war ein wichtiger Tag, denn wir haben heute das ß gelernt. Jetzt lohnt es sich, mit dem Tagebuch anzufangen, weil ich jetzt endlich ein ganz wichtiges Wort schreiben kann, das ich bis jetzt immer nur denken konnte: SCHEIßE!«

Thomas Brussig: Am kürzeren Ende der Sonnenallee.FISCHER Frankfurt, 2006, S. 97f.
Beste Grüße an Miniaturtaurus

ww
 

Willibald

Mitglied
Mindblowing Poems
(ziemlich lang, diese short story)


http://up.picr.de/33984247an.jpg

Rezzo

Mittwochs immer diese Doppelstunde Leistungskurs Deutsch beim Doc Schneider, Abiturtraining: Diesmal ein barockes Sonett von Gryphius im Vergleich mit einem Gedicht von Trakl. In Baden-Würtemberg gestellt. Schnarchig, aber nicht ganz übermäßig schnarchig.

Dann stehen wir zusammen im Chemiehof, fünf Minuten für die Zigarettenpause, Rezzo tippt mir an die Stirn, an die Brust: „Was Lyrisches, was Poetisches, Sven!”
"Hä?"
„Was Lyrisches, was Poetisches brauch ich von dir, Du komischer Vogel. Für die Schülerzeitung. Du versteckst doch immer deine Songtexte hinten im Ordner. Manche sagen, du machst doofe Gedichte. Ich sage wie Doc Schneider: Du machst Wortgeschenke. Sven stellt sich. Den Anforderungen, in Lyrik und in Prosa. Stinklangweilige Kommentare und Berichte haben wir genug auf Lager.”

Er gluckst, der Blödmann, dann fächelt er mit der Hand vor meinem Gesicht: Einfach drauflos schreiben. Den Alltag skizzieren, eine Szene aus der - er kichert - Adoleszenz. Auch im Leben von öden Langweilern stecke Poesie.
"Wie witzig", sage ich.
"Nö", meint er, „ist ernst, probier es. Vielleicht ein Gedicht, vielleicht eine short story.”
"Ok, mal gucken."
„Guck mal nicht so lang, Sven. Das Leben vor dem Abitur gleicht einer Rennebahn.”
O ja", knurre ich, „aber immerhin mit Zäsur, vor gleicht.” Und gucke verstohlen, ob Mirjam das gehört hat. Sie hat.
„Schon, schon“, sagte Rezzo, „aber" - er hebt den Zeigefinger leererlike - "die Zäsur" - er spitzt den Mund, das Frettchen, und dann reimt er auch noch - "kommt nach Abitur.“ Mirjam grinst.

Nachmittags ging´s zum Aldi, wollte eine Flasche Kentucky Bourbon Whiskey kaufen. Rezzo sagt, Whiskey inspiriere ihn, da schreiben sich seine Sachen für die Schülerzeitung wie von selbst. Rezzo feiert sich dann fertig: Speichert seinen Text ab, fährt den Computer runter, macht in seinem Zimmer ein Feuer, tanzt darum herum, singt „loved” und die Nachbarn klopfen an die Wände den Rhythmus.

Rezzo, der Große. Er ist wirklich groß. Key Account Manager sozusagen. Wer kam auf die Idee, die Schülerzeitung "JBB-Jetzt” ins Netz zu stellen und den Direktor zu überzeugen? Wer hat das Konzept hingelegt? Eine aktuelle Johannes-Butzbach-Gymnasium-Zeitung mit Forum. Betreuungslehrer und Schüler stellen jeden Monat eine Ausgabe ins Netz. Ins Forum kann man direkt in die Kontaktbox reinschreiben, wir Redakteure haben direkten Zugang und lesen, was reinkommt. Dann wird entschieden, was veröffentlicht wird.

Wer ist der geniale Ober-Macher? Rezzo. Chefredakteur, flache Mimik, effizient, redegewandt, damals bei der Sitzung mit dem Direktor: Die Redakteure schreiben, wenn sie inspiriert sind. Und die Leser können Leserbriefe direkt in die Forum-Kontaktbox schicken, wenn sie beim Lesen inspiriert wurden. Direktor Wolff war beeindruckt.

Bloß, dass kaum einer schreibt. Low Performer, mentale Selbstaktivierung gleich Null.


Auf schwarzen Eulenschwingen

Beim Aldi guckte mich die Kassiererin an, kaum älter als ich, ich gucke sie an.
„Du bist schon über sechzehn? Whiskey an Jugendliche, das ist nicht drin.”
"Ich bin Sven. Sven Rappe. Achtzehn. Du kennst mich doch vom Sehen. Du gehst öfters mit Mirjam zum `Da Toni´."
Sie lächelt: "Klar, aber ich will deinen Ausweis trotzdem. Das macht sich gut beim Chef. Er beobachtet durch den Spiegel die Kasse, Probleme mit dem Aufsichtsamt. Du glaubst gar nicht, wieviel Jungs von fünfzehn oder sechzehn hier Alkohol holen wollen. Zum Mädchen Anbaggern. “

„Oh, wie blöd”, sagte ich gedehnt-ironisch, und schaute verstohlen in den Einwegspiegel, zeigte ihr meinen Ausweis und zog mit meiner Flasche in der Plastik-Tüte ab. Zuhause setzte ich mich rezzo-like in die Nähe des Computers an den Schreibtisch. Mineralwasser, Glas, Whiskey-Flasche.

Bin schon längst nicht mehr sechzehn, weiß aber noch gut, wie das ist. Du gehst an den Mädchen vorbei, die kichern plötzlich, kriegen Schluckauf, verdrehen die Augen. Du wirst rot. – Du gehst in den Supermarkt. Die Kassiererin mustert schweigend die Flasche in deiner Hand. Du ziehst belämmert ab. Und die Damen in der Kassenschlange gucken dir nach, fixieren deine rosa Ohren und du spürst, wie sie rot und röter werden. „Adoleszenz”, hatte unser Biologielehrer Peter Wissmattinger doziert, „das ist: Hormonrasen, kordiale Mikro-Spasmen, rosa Ohrwascheln.” "Ohrwascheln" - aus Oberbayern der Mann, in Unterfranken aufgeschlagen. Hat eine Sportlerlaufbahn, hinter sich, sieht man ihm noch an, dem Body-Builder.

Ich schenkte mir ein, schaute in das Glas, zwei ccm Whiskey und fünf ccm Selters mischten sich. Und da kam es rabenschwarz und rosa über mich: Solo sein, der Main, ein lyrisches Ich, Sätze wie „Mag uns wer?”, Verszeilen, richtige, mit Rhythmus und Reim. Clemens Brentano, Freiherr von Eichendorff, der barocke Gryphius, ein schlanker Heine, die ganzen Kerle aus dem Kursordner, blickten aus dem Glas, zwinkerten mir zu.

Ich brauchte eine Stunde, Rohentwurf, dann Feilen und Polieren; dann war es vorläufig fertig. Ich lud den Text ins offene Rezzo-Netz zur sofortigen Lektüre (Lyrik von Redakteuren ist unbedenklich), Sparte "Mind-blowing Poems" und las ihn mit Vergnügen, meinen Text.

Sterne, dünn glitzernd

Ich blicke in die weite Ferne,
am Himmel glitzern dünn die Sterne,
Ganz solo sitze ich am Main.
Mag mich wer? Ich glaube: nein.

Und auf schwarzen Eulenschwingen
fällt die Traurigkeit mich an
will mir in die Schläfe dringen.
Fluch Dir, Vogel, bist kein Wahn!

O Du, der diese Zeilen liest,
Und schwarze Wesen vor Dir siehst.
Du fühlst wie ich, hörst Klagerufe?
Dein Lächeln stellt mich auf die Hufe!
S. R.


Kopfkino

Hufe und R., Rappe, gut was? Ich schaute mir eine halbe Stunde die drei Strophen auf dem Bildschirm an, von oben nach unten, von unten nach oben:
„Lyrisches Ich”, melancholisch, sitzt am Main. Eulenvogelattacke, richtig trist, irgendwie metaphorisch. Männliche Kadenz, weibliche Kadenz, raffiniertes Reimschema, weitgehend Jambus als metrisches Gitter, aber zweimal Akzentakkumulation (ähä: Hebungsprall. Sagt Schneider. Heiterkeit.) - bei "Mag mich wer" und "O Du".
In der dritten Strophe dann die Leseranrede. Witziger, ironischer Touch, dieser Heinrich Heine hat sowas drauf, also vergleichbar nur, natürlich: Setze mich um Gotteswillen nicht gleich, auch wenn Größenwahnsinn angesagt ist, Tanz den Rezzo.

So ein brillantes Gedicht! Muss man feiern! Party! Also: Eiswürfel aus dem Kühlfach holen, ins Glas füllen, klickern lassen, über dem Text den Kopf senken, meditieren. Ab einem bestimmten Punkt kommt die Trance. Das Kopfkino beginnt zu laufen, die Zimmerwände öffnen sich und du kannst plötzlich alles sehen. Da sitzen sie, surfen im Internet und klicken spontan unsere Zeitung an. Mundwinkel nach unten, die Augenbrauen nach oben, zappen weg, leicht verächtlich, weiter im Netz, unberührt von Poesie. Low Performer, sagt mein Vater, Bildungsforscher mit Arbeitsstelle in Würzburg.

Aber da sitzt Mirjam. Hat viermal in München die Rocky Horror Picture Show angeschaut. Da gibt es, sagt sie, ein Kino an der Isar. Spielt das seit vielen Jahren. Und die Leute singen mit. Time Warp, RiffRaff und das alles. Auch im Leistungskurs Deutsch, hohe Stirn, lacht über meine Jokes, weil: Sie ist intelligent, sie ist schlau, sie ist schön. Lyrik ist wie „lyrics”, sagt sie, tanzende Worte und Sätze, tanzende Texte, sagt sie. Musik. Die liest das genau, die anderen sind spätestens bei der zweiten Strophe mit den Eulenschwingen ausgestiegen. Aber Mirjam, also Mirjam, die liest den Text bis zum Ende. Und dann noch einmal.

Sie kann in dem Stil schreiben. Der Vater hat wahnsinnig viel Bücher im Wohnzimmer, Germanist und Linguist. Heute morgen im LK war sie auf die Takte von Andreas Gryphius doch tatsächlich abgefahren, Alexandriner mit Zäsuren: „Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn/Laß, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten …” Der Doc hatte die Stimmung genutzt, hatte eine kreative Schreibübung eingeschoben und wir probierten den Gryphius-Stil.

Rezzo trug etwas vor von Gleitflügen. In den Tälern Bourbon-Kentuckys. Es wurde sehr lustig. Von nebenan der Französischlehrer steckte den Kopf rein, was da los ist. Und: Wir bereiten doch gerade die Klausur vor, Herr Kollege Doktor Schneider. Auf dem Heimweg wollte Mirjam gleich nach Hause. Niente "Da Toni". Matheklausur am Donnerstag. Der Grundkurs.

Amors gefiederte Axt

Kreisende Eiswürfel im Glas, ziemlich klein, klickern nicht mehr, sirren kreiselnd. Ab und zu ein Blick in den Mail-Ordner Kontakt-Box auf der unteren Leiste meines Bildschirms. Puh, wenn überhaupt von jemandem, dann könnte von Mirjam eine Antwort kommen, nicht jetzt, natürlich nicht jetzt, irgendwann.

Und was soll ich sagen? Um 21.00 Uhr erscheint dieser Text, DER TEXT, auf dem Screen:

Am Main
(Dem rappenschwarzen Melancholicus zugeeignet)

I've got to keep control
I remember doing the time-warp
Drinking those moments when
The Blackness would hit me

Am Main, da wächst der Rebensaft,
er wird mit Fleiß gepfleget.
Ach, süß und köstlich wirkt die Kraft
Von Traubenhaut umheget.

Nach Glück ein jeder Mensch verlangt
Wer einsam ist, der fluchet.
Und wo ein Fluch im Netze prangt
verstehst du gleich: man suchet.

Hinweg mit dir, du Eulen-Nacht,
Dein Flügel wird gestutzet.
Der Fluss, der Sommer, alles lacht.
Die Au ist grün geputzet.


P.S.
Gruß von der S. übrigens.
(Seit wann dürfen die bei Aldi mit 17 an die Kasse?)
Wir sehen uns morgen nach der Matheklausur, muss jetzt unbedingt schlafen.
M.



Tja, das hat Mirjam geschrieben. Erschütternd. Bin seit zwei Stunden so was von erschüttert, musste alles aufschreiben, im Tagebuch festhalten, fiebrig, heiß die Stirn. Hab an Mirjam gemailt. Vielleicht ist sie doch noch wach und liest es. Wenn nicht, spätestens morgen.

Jetzt um 0.30 hör ich auf, bin voll von zwei kleinen Gläsern Whiskey ohne Kohlensäure, bin gestreift von Amors gefiederter Axt, behämmert von Amors Flügelschlag, von Mirjams Hammertext beflügelt. Loved. Die Flasche stell ich besser weg, weg in die Küche.

Wär ja blöd, ich sehe Mirjam morgen vor der Klausur auf dem Gang und bin im Tran, mir fällt nix ein, dann räuspere ich mich und sage unsicher zuerst „Guten Morgen“ und dann gleich hinterher, weil sie aus München zu uns nach Unterfranken kam: „Grüß Gott!“ Stilsicher, poly-glott. Und bisschen peinlich. Und sie lächelt ein bisschen stolz und sagt vielleicht: „Mei, ich bin´s doch nur.“

Anmerkung:

Mirjams Lieblingslied in der Rocky-Horror-Picture-Show
https://www.youtube.com/watch?v=umj0gu5nEGs]RiffRaffs
Time-Warp

Der Treff "Da Toni" (Eisdiele und mehr)
http://up.picr.de/33990951xs.jpg
 

Willibald

Mitglied
Mindblowing Poems
(ziemlich lang, diese short story)


http://up.picr.de/33984247an.jpg

Rezzo

Mittwochs immer diese Doppelstunde Leistungskurs Deutsch beim Doc Schneider. Diesmal Abiturtraining: ein barockes Sonett von Gryphius im Vergleich mit einem Gedicht von Trakl. In Baden-Würtemberg als Abitur-Thema gestellt. Schnarchig, aber nicht ganz übermäßig schnarchig.

Dann stehen wir zusammen im Chemiehof, fünf Minuten für die Zigarettenpause neben der Kippen-Schale, Rezzo tippt mir an die Stirn, an die Brust: „Was Lyrisches, was Poetisches, Sven!”
"Hä?"
„Was Lyrisches, was Poetisches brauch ich von dir, Du komischer Vogel. Für die Schülerzeitung. Du versteckst doch immer deine Songtexte hinten im Ordner. Manche sagen, du machst doofe Gedichte. Ich sage wie Doc Schneider: Der Dichter macht Wortgeschenke. Er stellt sich. Den Anforderungen, in Lyrik und in Prosa. Stinklangweilige Kommentare und Berichte haben wir genug auf Lager.”

Er gluckst, der Blödmann, dann fächelt er mit der Hand vor meinem Gesicht: Einfach drauflos schreiben. Den Alltag skizzieren, eine Szene aus der - er kichert - Adoleszenz. Auch im Leben von öden Langweilern stecke Poesie.
"Oh, du Brausekopf", sage ich, "wie witzig du doch bist."
"Nö", meint er, „im Ernst, probier es. Vielleicht ein Gedicht, vielleicht eine short story.”
"Ok, mal gucken."
„Guck mal nicht so lang, Sven. Das Leben vor dem Abitur gleicht einer Rennebahn.”
O ja", knurre ich, „aber immerhin mit Zäsur, vor gleicht.” Und gucke verstohlen, ob Mirjam das gehört hat. Sie hat.
„Schon, schon“, sagte Rezzo, „aber" - er hebt den Zeigefinger leererlike - "die Zäsur" - er spitzt den Mund, das Frettchen, und dann reimt er auch noch - "kommt nach Abitur.“ Mirjam grinst.

Nachmittags ging´s zum Aldi, wollte eine Flasche Kentucky Bourbon Whiskey kaufen. Rezzo sagt, Whiskey inspiriere ihn, da schreiben sich seine Sachen für die Schülerzeitung wie von selbst. Rezzo feiert sich dann fertig: Speichert seinen Text ab, fährt den Computer runter, macht in seinem Zimmer ein Feuer, tanzt darum herum, singt „loved” und die Nachbarn klopfen an die Wände den Rhythmus.

Rezzo, der Große. Er ist wirklich groß. Key Account Manager sozusagen. Wer kam auf die Idee, die Schülerzeitung "JBB-Jetzt” ins Netz zu stellen und den Direktor zu überzeugen? Wer hat das Konzept hingelegt? Eine aktuelle Johannes-Butzbach-Gymnasium-Zeitung mit Forum. Betreuungslehrer und Schüler stellen jeden Monat eine Ausgabe ins Netz. Im Forum kann man direkt in die Kontaktbox reinschreiben, wir Redakteure haben direkten Zugang und lesen, was reinkommt. Dann wird entschieden, was veröffentlicht wird.

Wer ist der geniale Ober-Macher? Rezzo. Chefredakteur, flache Mimik, effizient, redegewandt. Wow, damals bei der Sitzung mit dem Direktor: Die Redakteure schreiben, wenn sie inspiriert sind. Und die Leser können Leserbriefe direkt in die Forum-Kontaktbox schicken, wenn sie beim Lesen inspiriert wurden. Direktor Wolff war beeindruckt.

Bloß, dass kaum einer schreibt. Low Performer, mentale Selbstaktivierung gleich Null.

Auf schwarzen Eulenschwingen

Beim Aldi guckte mich die Kassiererin an, kaum älter als ich, ich gucke sie an.
„Du bist schon über sechzehn? Whiskey an Jugendliche, das ist nicht drin.”
"Ich bin Sven. Sven Rappe. Achtzehn. Du kennst mich doch vom Sehen. Du gehst öfters mit Mirjam zum `Da Toni´."
Sie lächelt: "Klar, aber ich will deinen Ausweis trotzdem. Das macht sich gut beim Chef. Er beobachtet durch den Spiegel die Kasse, Probleme mit dem Aufsichtsamt. Du glaubst gar nicht, wieviel Jungs von fünfzehn oder sechzehn hier Alkohol holen wollen. Zum Mädchen Anbaggern. “

„Oh, wie blöd”, sagte ich gedehnt-ironisch, und schaute verstohlen in den Einwegspiegel, zeigte ihr meinen Ausweis und zog mit meiner Flasche in der Plastik-Tüte ab. Zuhause setzte ich mich rezzo-like in die Nähe des Computers an den Schreibtisch. Mineralwasser, Glas, Whiskey-Flasche.

Bin schon längst nicht mehr sechzehn, weiß aber noch gut, wie das ist. Du gehst an den Mädchen vorbei, die kichern plötzlich, kriegen Schluckauf, verdrehen die Augen. Du wirst rot. – Du gehst in den Supermarkt. Die Kassiererin mustert schweigend die Flasche in deiner Hand. Du ziehst belämmert ab. Und die Damen in der Kassenschlange gucken dir nach, fixieren deine rosa Ohren und du spürst, wie sie rot und röter werden. „Adoleszenz”, hatte unser Biologielehrer Peter Wissmattinger doziert, „das ist: Hormonrasen, kordiale Mikro-Spasmen, rosa Ohrwascheln.” "Ohrwascheln" - aus Oberbayern der Mann, in Unterfranken aufgeschlagen. Hat eine Sportlerlaufbahn, hinter sich, sieht man ihm noch an, dem Body-Builder.

Ich schenkte mir ein, schaute in das Glas, zwei ccm Whiskey und fünf ccm Selters mischten sich. Und da kam es rabenschwarz und rosa über mich: Solo sein, der Main, ein lyrisches Ich, Sätze wie „Mag uns wer?”, Verszeilen, richtige, mit Rhythmus und Reim. Clemens Brentano, Freiherr von Eichendorff, der barocke Gryphius, ein schlanker Heine, die ganzen Kerle aus dem Kursordner, blickten aus dem Glas, zwinkerten mir zu.

Ich brauchte eine Stunde, Rohentwurf, dann Feilen und Polieren; dann war es vorläufig fertig. Ich lud den Text ins offene Rezzo-Netz zur sofortigen Lektüre (Lyrik von Redakteuren ist unbedenklich), Sparte "Mind-blowing Poems" und las ihn mit Vergnügen, meinen Text.

Sterne, dünn glitzernd

Ich blicke in die weite Ferne,
am Himmel glitzern dünn die Sterne,
Ganz solo sitze ich am Main.
Mag mich wer? Ich glaube: nein.

Und auf schwarzen Eulenschwingen
fällt die Traurigkeit mich an
will mir in die Schläfe dringen.
Fluch Dir, Vogel, bist kein Wahn!

O Du, der diese Zeilen liest,
Und schwarze Wesen vor Dir siehst.
Du fühlst wie ich, hörst Klagerufe?
Dein Lächeln stellt mich auf die Hufe!
S. R.


Kopfkino

Hufe und Rpunkt, Rappe, gut was? Ich schaute mir eine halbe Stunde die drei Strophen auf dem Bildschirm an, von oben nach unten, von unten nach oben:
„Lyrisches Ich”, melancholisch, sitzt am Main. Eulenvogelattacke, richtig trist, irgendwie metaphorisch. Männliche Kadenz, weibliche Kadenz, raffiniertes Reimschema, weitgehend Jambus als metrisches Gitter, aber zweimal Akzentakkumulation (ähä: Hebungsprall. Sagt Schneider. Heiterkeit.) - bei "Mag mich wer" und "O Du".
In der dritten Strophe dann die Leseranrede. Witziger, ironischer Touch, dieser Heinrich Heine hat sowas drauf, also vergleichbar nur, natürlich: Setze mich um Gotteswillen nicht gleich, auch wenn Größenwahnsinn angesagt ist, Tanz den Rezzo.

So ein brillantes Gedicht! Muss man feiern! Party! Also: Eiswürfel aus dem Kühlfach holen, ins Glas füllen, klickern lassen, über dem Text den Kopf senken, meditieren. Ab einem bestimmten Punkt kommt die Trance. Das Kopfkino beginnt zu laufen, die Zimmerwände öffnen sich und du kannst plötzlich alles sehen. Da sitzen sie, surfen im Internet und klicken spontan unsere Zeitung an. Mundwinkel nach unten, die Augenbrauen nach oben, zappen weg, leicht verächtlich, weiter im Netz, unberührt von Poesie. Low Performer, sagt mein Vater, Bildungsforscher mit Arbeitsstelle in Würzburg.

Aber da sitzt Mirjam. Hat viermal in München die Rocky Horror Picture Show angeschaut. Da gibt es, sagt sie, ein Kino an der Isar. Spielt das seit vielen Jahren. Und die Leute singen mit. Time Warp, RiffRaff und das alles. Auch im Leistungskurs Deutsch, hohe Stirn, lacht über meine Jokes, weil: Sie ist intelligent, sie ist schlau, sie ist schön. Lyrik ist wie „lyrics”, sagt sie, tanzende Worte und Sätze, tanzende Texte, sagt sie. Musik. Die liest das genau, die anderen sind spätestens bei der zweiten Strophe mit den Eulenschwingen ausgestiegen. Aber Mirjam, also Mirjam, die liest den Text bis zum Ende. Und dann noch einmal.

Sie kann in dem Stil schreiben. Der Vater hat wahnsinnig viel Bücher im Wohnzimmer, Germanist und Linguist. Heute morgen im LK war sie auf die Takte von Andreas Gryphius doch tatsächlich abgefahren, Alexandriner mit Zäsuren: „Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn/Laß, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten …” Der Doc hatte die Stimmung genutzt, hatte eine kreative Schreibübung eingeschoben und wir probierten den Gryphius-Stil.

Rezzo trug etwas vor von Gleitflügen. In den Tälern Bourbon-Kentuckys. Es wurde sehr lustig. Von nebenan der Französischlehrer steckte den Kopf rein, was da los ist. Und: Wir bereiten doch gerade die Klausur vor, Herr Kollege Doktor Schneider. Auf dem Heimweg wollte Mirjam gleich nach Hause. Niente "Da Toni". Matheklausur am Donnerstag. Der Grundkurs.

Amors gefiederte Axt

Kreisende Eiswürfel im Glas, ziemlich klein, klickern nicht mehr, sirren kreiselnd. Ab und zu ein Blick in den Mail-Ordner Kontakt-Box auf der unteren Leiste meines Bildschirms. Puh, wenn überhaupt von jemandem, dann könnte von Mirjam eine Antwort kommen, nicht jetzt, natürlich nicht jetzt, irgendwann.

Und was soll ich sagen? Um 21.00 Uhr erscheint dieser Text, DER TEXT, auf dem Screen:

Am Main
(Dem rappenschwarzen Melancholicus zugeeignet)

I've got to keep control
I remember doing the time-warp
Drinking those moments when
The Blackness would hit me

Am Main, da wächst der Rebensaft,
er wird mit Fleiß gepfleget.
Ach, süß und köstlich wirkt die Kraft
Von Traubenhaut umheget.

Nach Glück ein jeder Mensch verlangt
Wer einsam ist, der fluchet.
Und wo ein Fluch im Netze prangt
verstehst du gleich: man suchet.

Hinweg mit dir, du Eulen-Nacht,
Dein Flügel wird gestutzet.
Der Fluss, der Sommer, alles lacht.
Die Au ist grün geputzet.


P.S.
Gruß von der S. übrigens.
(Seit wann dürfen die bei Aldi mit 17 an die Kasse?)
Wir sehen uns morgen nach der Matheklausur, muss jetzt unbedingt schlafen.
M.



Tja, das hat Mirjam geschrieben. Erschütternd. Bin seit zwei Stunden so was von erschüttert, musste alles aufschreiben, im Tagebuch festhalten, fiebrig, heiß die Stirn. Hab an Mirjam gemailt. Vielleicht ist sie doch noch wach und liest es. Wenn nicht, spätestens morgen.

Jetzt um 0.30 hör ich auf, bin voll von zwei kleinen Gläsern Whiskey ohne Kohlensäure, bin gestreift von Amors gefiederter Axt, behämmert von Amors Flügelschlag, von Mirjams Hammertext beflügelt. Loved. Die Flasche stell ich besser weg, weg in die Küche.

Wär ja blöd, ich sehe Mirjam morgen vor der Klausur auf dem Gang und bin im Tran, mir fällt nix ein, dann räuspere ich mich und sage unsicher zuerst „Guten Morgen“ und dann gleich hinterher, weil sie aus München zu uns nach Unterfranken kam: „Grüß Gott!“ Stilsicher, poly-glott. Und bisschen peinlich. Und sie lächelt ein bisschen stolz und sagt vielleicht: „Mei, ich bin´s doch nur.“

Anmerkung:

Mirjams Lieblingslied in der Rocky-Horror-Picture-Show
https://www.youtube.com/watch?v=umj0gu5nEGs]RiffRaffs
Time-Warp

Der Treff "Da Toni" (Eisdiele und mehr)
http://up.picr.de/33990951xs.jpg
 



 
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