Mit jedem Schritt ins Meer

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen
Ich kam im Abstieg
durch Kiefernhaine
zum Strand.
Der Tag verschwand
in meiner aufgehenden Hand,
und das Schweigen der Steine
bekam einen
Herzschlag.

Der Sand –
derselbe Sand, in den
Gott seine Müdigkeit grub –
trug nun auch meine.
Und meine Beine
fallen.
Das Meer legt seine Stirn
an meine.

Ich möchte mich ins Blaue krallen,
schwirren durch seine
dunkelblauen Hallen,
alleine,
leer und doch so voller
Gestirn.

Ich trete in das Blau, das keine
Richtung kennt, das meine
Strandung Heimkehr nennt.
Und eine dunkelbraune, kleine
Strandfrau kennt mich besser,
als mein Vater
mich je kannte.

Hier sind sie alle nahe Verwandte,
und sie kennen dich
in- und auswendig.
Bloß die Welt verlernt mich
gänzlich
mit jedem Schritt ins Meer.

Text DvE
Musik Ki

 

Frodomir

Mitglied
Hallo Dionysos von Enno,

ein extrem bildgewaltiges Gedicht hast du hier geschrieben. Mit einer Nuance Melancholie verbunden schaffen es deine Zeilen, mich tief in sich zu saugen, sodass ich mich tatsächlich auf dem Weg zum Strand wähne und das Harz der Kiefern riechen kann.

Herausragend finde ich dazu folgende Passagen:

Der Tag verschwand
in meiner aufgehenden Hand,
und

Das Meer legt seine Stirn
an meine.
Würden wir in einer Zeit leben, in der die anspruchsvolle Buchkultur bestimmend wäre, würden diese Verse mit Sicherheit ob ihrer Schönheit und Größe im literarischen Diskurs außerordentlich gewürdigt werden. Ich versuche es zumindest mit diesem Kommentar ein bisschen und kann mich vor dieser Lyrik nur verneigen.

Eine kleine Irritation möchte ich allerdings noch äußern. Und zwar kam mir der Wechsel von der Strandfrau zum Vater in der vorletzten Strophe sehr überraschend und ehrlichgesagt auch ein bisschen störend vor. Mir hat sich nicht erschlossen, wieso auf einmal der Vater die Bühne des Gedichtes betritt? Ist das eine Metapher, für Gott vielleicht und soll den Wert des Irdischen und Lebendigen gegenüber der Jenseitshoffnung betonen?

Diese Stelle tut meinem Lesevergnügen aber keinen Abbruch. In meinen Augen ein unglaublich starkes Gedicht mit einigen Bildern, die Ihresgleichen suchen - und nicht finden - weil sie so groß sind.

Liebe Grüße
Frodomir
 
Lieber @Frodomir

was für ein schöner und tiefgreifender Kommentar. Merci !

Du hast eine faszinierende Lesart entwickelt, die die Vater-Verlassenheit ins Zentrum nimmt. Die Rückmeldung, dass es einen "Wechsel" von Strandfrau zu Vater gibt ist für mich wertvoll. Hatte ich so selber nicht gespürt.

Für mich vollzieht das lyrische Ich hier eine spirituelle Regression ins Pränatale - : "Abstieg durch Kiefernhaine" als Abstieg durch vertikale, mütterliche Strukturen. Die Kiefern sind wie ein Geburtskanal rückwärts durchschritten. Das Ich kehrt zurück zum Ursprung, aber nicht zum persönlichen, sondern zum kosmischen.

"Der Tag verschwand in meiner aufgehenden Hand" - das ist ja auch keine normale Zeitwahrnehmung mehr. Die Hand wird zum Horizont, das Ich verschmilzt mit der Landschaft. Das ist der Moment, wo das Ego seine Grenzen verliert. Und dann: "das Schweigen der Steine bekam einen Herzschlag" - die tote Materie beginnt zu leben, oder besser: Das Ich projiziert sein eigenes pochendes Herz in die Welt hinein, kann nicht mehr unterscheiden zwischen Innen und Außen.

Der Gott, der seine Müdigkeit in den Sand grub - damit ist kein christlicher Vatergott gemeint gewesen, sondern der erschöpfte Demiurg, der nach der Schöpfung selbst zur Schöpfung wurde. Das lyrische Ich legt seine Müdigkeit in dieselbe Vertiefung - wird selbst zum Schöpfer-Geschöpf.

Die Strandfrau ist dann auch keine Ersatzmutter, an der sich ein Wechsel vollziehen sollte. Sie ist, wenn du so willst, die anima mundi, die Weltseele in ihrer erdverbundenen Form. "Dunkelbraun, klein" - sie ist geduckt, demütig, erdig. Sie kennt das Ich "in- und auswendig" weil sie das Unbewusste selbst ist, das Wissen jenseits des Wissens.

Der Vater taucht auf als das abgespaltene Über-Ich, die Instanz des Gesetzes, der Trennung, der Individuation. Er konnte das Kind nie "kennen", weil Kennen in seinem System immer Objekthaftigkeit bedeutet. Die Strandfrau aber kennt durch Partizipation, durch mystische Teilhabe.

"Bloß die Welt verlernt mich gänzlich / mit jedem Schritt ins Meer" - hiermit wollte ich den mystischen Tod, die endgültige Auflösung des sozialisierten Selbst, ausdrücken. Das Meer wird zum Fruchtwasser eines zweiten, diesmal bewussten Nicht-Geboren-Werdens. Das Ich stirbt in seine eigene Vorgeburtlichkeit hinein. Das Gedicht endet also nicht mit Ankunft, sondern mit fortschreitender Auflösung - eine Via Negativa, ein Weg der Verneinung, der alle Identität abstreift. Der Vater musste erscheinen als das, was zurückgelassen wird - die letzte Bindung an die Welt der Namen und Genealogien, bevor das namenlose Blau alles verschluckt. Und das ist nicht beliebig oder auswechselbar !! Die Mutter durfte hier ja gerade nicht erscheinen, weil das gesamte Gedicht bereits eine Rückkehr zur Großen Mutter ist - zum Meer, zur Strandfrau, zum mütterlichen Prinzip selbst. Eine konkrete Mutter zu nennen würde diese kosmische Bewegung profanisieren und verkleinern.

Das lyrische Ich bewegt sich ja bereits im Mütterlichen - der Sand, das Meer, die aufnehmende Strandfrau. All das ist durchtränkt vom Weiblich-Bergenden. Hätte das Gedicht gesagt "kennt mich besser als meine Mutter", wäre das eine Konkurrenz zwischen zwei mütterlichen Prinzipien - eine banale Ersetzung, eine Alternativmutter. So klein habe ich dieses Gedicht nicht empfunden. Wäre die Mutter genannt worden, hätte das Gedicht sein mystisches Paradox verloren: Man kann nicht gleichzeitig zur Mutter zurückkehren und in ihr aufgehen. Der Vater aber, der kann und muss als Kontrastfolie erscheinen - als das, was zurückgelassen wird auf dem Weg ins namenlose mütterliche Blau, das "keine Richtung kennt" weil es vor aller Orientierung liegt, vor der ersten Trennung, vor dem ersten Schnitt.

Der Vater repräsentiert also im Endeffekt das ganz Andere: das Prinzip der Trennung, der Individuation, des Gesetzes, der symbolischen Ordnung. Er ist das Messer, das die Nabelschnur durchschnitt, die Instanz, die das Kind aus der mütterlichen Symbiose herausriss und "Ich" zu sagen zwang. Darum konnte er nie "kennen" im Sinne der Strandfrau - sein Kennen war immer ein Benennen, Einordnen, Abgrenzen.

Das lyrische Ich durchläuft also rückwärts den ödipalen Prozess. Es verlässt die väterliche Ordnung (die Welt der Sprache, der Gesetze, der Identität) und sinkt zurück in den präödipalen Ozean, wo es noch keine Trennung zwischen Ich und Du, zwischen Kind und Mutter gab. So ist auch "Die Welt verlernt mich" gemeint - das ist die Welt des Vaters, die Welt der Namen und sozialen Positionen. Die Mutter hingegen vergisst nicht, sie ist das, wohinein man sich auflöst. Das Meer "legt seine Stirn an meine" - diese zärtliche Geste ist bereits mütterlich, aber entpersonalisiert, kosmisch geweitet. Schön, dass Sie so bei Dir nachwirkt. Ich habe gerade auf diese Zeile auch anderswo so eine wunderschöne Reaktion erhalten.

mes compliments

Dionysos
 

sufnus

Mitglied
Hey Dio!
Ich habe Deine und Frodomirs Analysen mit wirklich großem Vergnügen und das Gedicht selbst mit Bewunderung gelesen! :) Ganz bestimmt hat dabei das Vomsitzgerissenwerden mit der logischen Folge des Hinundwegseins mein sachliches Analysevermögen stark getrübt, weshalb ich tatsächlich dieses wunderbare Gedicht erotisch gelesen habe - vermutlich hab ich mich dabei ordentlich vergaloppiert, aber mein etwas fantasiedurchgängiger Leseritt war dennoch höchst wonniglich. :)
LG!
S.
 

Frodomir

Mitglied
Lieber Dionysos,

ich bin von deiner Erklärung gleichermaßen begeistert wie von deinem Gedicht. Ich habe dem Gedicht bereits so einiges zugetraut, aber eher auf der Bildebene und seine reine Schönheit betreffend. Dass es aber in dieser Art tiefgehend ist, war mir beim Lesen nicht bewusst und erst jetzt mit Hilfe deiner Antwort erkenne ich, was ich davor nur oberflächlich erahnen konnte. Jetzt weiß ich wieder, warum ich einer der wahrscheinlich Wenigen bin, die sich dafür interessieren, was sich der Autor beim Schreiben gedacht hat.

Offensichtlich haben wir gerade ähnliche Gedanken, denn auch bei meinem Gedicht Rosalie hat das Thema der Auflösung ins Namenlose die tragende Rolle gespielt. Als ich deine Erklärung las, musste ich außerdem an Hermann Hesses Meisterwerk Siddhartha denken und seinen Weg, den er bei den Samanas bestritten hat. Doch während er dort seine Erlösung nicht erreichte, schafft es dein Lyrisches Ich letztlich, zurückzufinden hinter die Sagbarkeit der Phänomene.

Was die Stelle mit dem Vater betrifft, kann ich mir allerdings vorstellen, dass der geneigte Leser ohne deine Erklärung möglicherweise vor ähnliche Schwierigkeiten gestellt wird wie ich. Ohne Zweifel wird die Wichtigkeit dieses Wortes nun deutlich und es wäre in meinen Augen deshalb nicht ratsam, darauf zu verzichten - aber du solltest für die kommenden Generationen der Literaturinteressierten deine Erklärung ebenfalls zugänglich machen, da sie dem ein oder anderen sicherlich über dein Gedicht die Augen öffnen kann - so wie es bei mir war :)

Insgesamt kann ich sagen, dass du mich nun noch mehr beeindruckt hast: Eine solche Mischung als Bildung, Intellekt und Sinn für die Schönheit der Sprache, so wie sie in deinem Gedicht präsentiert wird, finde ich ... ich finde es so unglaublich gut, dass ich leider keine richtigen Worte dafür finde...

Mit größter Anerkennung
Frodomir
 



 
Oben Unten