Lieber
@Frodomir
was für ein schöner und tiefgreifender Kommentar. Merci !
Du hast eine faszinierende Lesart entwickelt, die die Vater-Verlassenheit ins Zentrum nimmt. Die Rückmeldung, dass es einen "Wechsel" von Strandfrau zu Vater gibt ist für mich wertvoll. Hatte ich so selber nicht gespürt.
Für mich vollzieht das lyrische Ich hier eine spirituelle Regression ins Pränatale - : "Abstieg durch Kiefernhaine" als Abstieg durch vertikale, mütterliche Strukturen. Die Kiefern sind wie ein Geburtskanal rückwärts durchschritten. Das Ich kehrt zurück zum Ursprung, aber nicht zum persönlichen, sondern zum kosmischen.
"Der Tag verschwand in meiner aufgehenden Hand" - das ist ja auch keine normale Zeitwahrnehmung mehr. Die Hand wird zum Horizont, das Ich verschmilzt mit der Landschaft. Das ist der Moment, wo das Ego seine Grenzen verliert. Und dann: "das Schweigen der Steine bekam einen Herzschlag" - die tote Materie beginnt zu leben, oder besser: Das Ich projiziert sein eigenes pochendes Herz in die Welt hinein, kann nicht mehr unterscheiden zwischen Innen und Außen.
Der Gott, der seine Müdigkeit in den Sand grub - damit ist kein christlicher Vatergott gemeint gewesen, sondern der erschöpfte Demiurg, der nach der Schöpfung selbst zur Schöpfung wurde. Das lyrische Ich legt seine Müdigkeit in dieselbe Vertiefung - wird selbst zum Schöpfer-Geschöpf.
Die Strandfrau ist dann auch keine Ersatzmutter, an der sich ein Wechsel vollziehen
sollte. Sie ist, wenn du so willst, die anima mundi, die Weltseele in ihrer erdverbundenen Form. "Dunkelbraun, klein" - sie ist geduckt, demütig, erdig. Sie kennt das Ich "in- und auswendig" weil sie das Unbewusste selbst ist, das Wissen jenseits des Wissens.
Der Vater taucht auf als das abgespaltene Über-Ich, die Instanz des Gesetzes, der Trennung, der Individuation. Er konnte das Kind nie "kennen", weil Kennen in seinem System immer Objekthaftigkeit bedeutet. Die Strandfrau aber kennt durch Partizipation, durch mystische Teilhabe.
"Bloß die Welt verlernt mich gänzlich / mit jedem Schritt ins Meer" - hiermit wollte ich den mystischen Tod, die endgültige Auflösung des sozialisierten Selbst, ausdrücken. Das Meer wird zum Fruchtwasser eines zweiten, diesmal bewussten Nicht-Geboren-Werdens. Das Ich stirbt in seine eigene Vorgeburtlichkeit hinein. Das Gedicht endet also nicht mit Ankunft, sondern mit fortschreitender Auflösung - eine Via Negativa, ein Weg der Verneinung, der alle Identität abstreift. Der Vater musste erscheinen als das, was zurückgelassen wird - die letzte Bindung an die Welt der Namen und Genealogien, bevor das namenlose Blau alles verschluckt. Und das ist nicht beliebig oder auswechselbar !! Die Mutter durfte hier ja gerade nicht erscheinen, weil das gesamte Gedicht bereits eine Rückkehr zur Großen Mutter ist - zum Meer, zur Strandfrau, zum mütterlichen Prinzip selbst. Eine konkrete Mutter zu nennen würde diese kosmische Bewegung profanisieren und verkleinern.
Das lyrische Ich bewegt sich ja bereits im Mütterlichen - der Sand, das Meer, die aufnehmende Strandfrau. All das ist durchtränkt vom Weiblich-Bergenden. Hätte das Gedicht gesagt "kennt mich besser als meine Mutter", wäre das eine Konkurrenz zwischen zwei mütterlichen Prinzipien - eine banale Ersetzung, eine Alternativmutter. So klein habe ich dieses Gedicht nicht empfunden. Wäre die Mutter genannt worden, hätte das Gedicht sein mystisches Paradox verloren: Man kann nicht gleichzeitig zur Mutter zurückkehren und in ihr aufgehen. Der Vater aber, der kann und muss als Kontrastfolie erscheinen - als das, was zurückgelassen wird auf dem Weg ins namenlose mütterliche Blau, das "keine Richtung kennt" weil es vor aller Orientierung liegt, vor der ersten Trennung, vor dem ersten Schnitt.
Der Vater repräsentiert also im Endeffekt das ganz Andere: das Prinzip der Trennung, der Individuation, des Gesetzes, der symbolischen Ordnung. Er ist das Messer, das die Nabelschnur durchschnitt, die Instanz, die das Kind aus der mütterlichen Symbiose herausriss und "Ich" zu sagen zwang. Darum konnte er nie "kennen" im Sinne der Strandfrau - sein Kennen war immer ein Benennen, Einordnen, Abgrenzen.
Das lyrische Ich durchläuft also rückwärts den ödipalen Prozess. Es verlässt die väterliche Ordnung (die Welt der Sprache, der Gesetze, der Identität) und sinkt zurück in den präödipalen Ozean, wo es noch keine Trennung zwischen Ich und Du, zwischen Kind und Mutter gab. So ist auch "Die Welt verlernt mich" gemeint - das ist die Welt des Vaters, die Welt der Namen und sozialen Positionen. Die Mutter hingegen vergisst nicht, sie ist das, wohinein man sich auflöst. Das Meer "legt seine Stirn an meine" - diese zärtliche Geste ist bereits mütterlich, aber entpersonalisiert, kosmisch geweitet. Schön, dass Sie so bei Dir nachwirkt. Ich habe gerade auf diese Zeile auch anderswo so eine wunderschöne Reaktion erhalten.
mes compliments
Dionysos