Mörderisches Mutterherz, Teil 1

Baxi

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Mörderisches Mutterherz

So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Da hatte sie gerade mal eine Woche Urlaub gehabt und alles sah aus, wie bei Hempels untern Sofa. Die Schreibtische wiesen etliche Ringe von abgestellten Kaffeetassen auf, auf den Bildschirmen der Computer hatte sich ein Staubfilm gelegt und die Papierkörbe quollen nur so über. Hatte ihre Vertretung denn gar nichts gemacht? Eiligst begann Uschi mit der Arbeit. Heute würde sie mehr als die üblichen drei Stunden brauchen, um alles wieder auf Vordermann zu bringen. Sie füllte sich Putzmittel und Wasser in den Eimer, stellte den Wischer bereit und schnappte sich die Mikrofaserlappen von ihrem kleinen Handwagen. Dann streifte sie sich ihre Gummihandschuhe über. Energisch fing sie an, mit dem nassen Lappen über die Schreibtische zu wischen. Wenigstens war sie alleine hier. Keiner störte sie bei der Arbeit. Wenn sie um 17 Uhr kam, waren die Büroleute der Firma Strunz Food alle oft schon zu Hause. Nur gelegentlich war noch jemand neben der Chefin anwesend. Doch heute hatte auch sie schon Feierabend gemacht.

Nach fast vier Stunden glänzten alle Büros und Toilettenräume wieder wie neu. Uschi wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie brauchte nur noch den Flur samt Treppenhaus und Eingangsbereich bohnern und dann ihre Arbeitsgeräte wieder sauber im Serviceraum verstauen. Aber sicher würde es nicht lange dauern, bis morgen wieder die ersten Krümel auf der Tastatur von Alina Strunz landeten. Oder Kaffeeränder auf dem Schreibtisch von Jens Holtmann. Der plemerte immer. Wenn sie Glück hatte, stapelten sie wenigstens ihr benutztes Geschirr in der kleinen Küche, anstatt es noch verteilt auf allen Tischen rumzustehen zu lassen.

Wie konnte sie nur in diesem bescheuerten Job landen? dachte Uschi frustriert. Damals, mit Zwanzig hatte sie noch Pläne, wollte die ganze Welt erobern. Einige Jahre hatte sie als Technische Zeichnerin auch in so einem Büro gearbeitet, wie sie sie jetzt putzte. Doch dann hatte sie Wilfried kennen gelernt, hatte geheiratet und zwei Kinder bekommen. Einer musste zu Hause bleiben. Und das war natürlich sie gewesen. Wilfried verdiente damals schon mehr als sie und hatte zudem noch gute Aufstiegschancen. Schließlich brachte er es zum leitenden Angestellten mit einem dreizehnten Gehalt. Als sie nach zehn Jahren Kinderbetreuung und Erziehung wieder zurück in ihren Beruf wollte, hatte sich durch die Digitalisierung so viel verändert, dass sie den Anschluss verpasst hatte. Keiner wollte sie mehr einstellen. Und eine Umschulung kam für sie nicht in Frage. Die liefen immer ganztags und sie konnte wegen der Kinder nur halbtags. So tingelte sie von Aushilfsjob zu Aushilfsjob, bis sie mit Ende Vierzig hier als Reinigungskraft fest beschäftigt wurde. Was für eine steile Karriere.

Aber eigentlich träumte Uschi schon seit Jahren davon, einen Roman zu schreiben. Bücher waren schon immer ihre Leidenschaft. Und ein ganzes Buch, mit ihrem Namen darauf. Was für ein tollkühner Gedanke! Allerdings keinen Liebesroman und auch keine Familiengeschichte, wie ihr Mann ihr immer wieder vorschlug. Sie wollte einen Krimi schreiben. So richtig mit Mord und Totschlag und viel Spannung. Mit etwas Glück vielleicht einen Bestseller, der alle vom Hocker riss. Das würde den Bekannten, die nur müde über ihr Hobby lächelten, endlich mal Respekt abverlangen. Mehrmals hatte sie schon einen Versuch gestartet, war aber nie über Kurzgeschichten hinaus gekommen. Ihr Problem war, dass sie am besten über Dinge schreiben konnte, die sie wirklich erlebt hatte. Oder zumindest irgendwo beobachtet. Bisher war allerdings die einzige Straftat, mit der sie in Berührung gekommen war, der Diebstahl ihrer Geldbörse. Und die hatte sie nach zwei Tagen zurück bekommen, wenn auch ohne das Bargeld. Doch für einen Kriminalroman extra jemanden umbringen? Das ging ihr dann doch zu weit. Obwohl, dieser Jens Holtmann wäre kein schlechtes Opfer, überlegte sie lächelnd. Er war hochnäsig und hinter jedem Rock her. Und diesen unnötigen Dreck, den er immer im Büro machte. Unmöglich! Erst heute war sein Mülleimer wieder voller Papierkram gewesen, alles Zettel mit Zahlenreihen und zusammengeknüllt. Warum benutzte er nicht den Aktenvernichter, wie jeder andere? Der hatte doch einen so schönen Auffangbehälter.

Uschi wusste viel über die Mitarbeiter der Firma Strunz. Sie wusste, wer seinen Kaffee mit Milch und Zucker oder lieber schwarz trank, wusste, wer auf Süßes stand und wer irgendwelche Allergien hatte. Anhand der gerahmten Fotos auf den Schreibtischen kannte sie auch die Familien der meisten, wusste, wer Single, verheiratet, geschieden oder frisch verliebt war. Bei diesem Jens Holtmann wechselten die Freundinnen oft. In den drei Jahren, seit er zur Firma gehörte, hatte sie einige von ihnen gesehen. Seine jetzige Flamme hieß Mimi. Diese Information hatte sie allerdings nur, weil der Flegel auch noch in ihrer Nachbarschaft wohnte.

Zufrieden schob Uschi den Handwagen in den kleinen Fahrstuhl und fuhr ins Kellergeschoss. Sie beförderte ihn zurück in den Serviceraum und schloss ab. Für heute war sie endgültig fertig. Dann schnappte sie sich den großen Müllsack, stopfte ihn draußen im vorbeigehen in den Container und machte sich auf den Heimweg. Wilfried erwartete sie bestimmt schon. Vielleicht war er aber auch längst vorm Fernseher eingeschlafen, wie so oft in letzter Zeit.
Sie bog mit ihrem VW Polo ins Wohngebiet ein. Nur noch zwei Straßen, dann war sie zu Hause. Plötzlich kam ein dunkler Wagen von links auf die Kreuzung zu und sauste ohne zu zögern an ihr vorbei. Aber das kannte sie ja schon. Deshalb fuhr sie hier immer langsam. Das der Kerl aber auch noch hupte, weil sie nicht sofort anhielt, war schon ziemlich unverschämt. „Hier ist Rechts vor Links!“ schimpfte sie laut vor sich hin. Wie konnte der Kerl das nur so ignorieren? Dann erkannte sie Jens Holtmann am Steuer. Dieser Schnösel, dachte sie nur noch. Von dem war doch nichts anderes zu erwarten. Selbst in der Firma war er als rücksichtslos und impulsiv bekannt. Vielleicht, überlegte sie weiter, vielleicht machte sich ein Unfall ganz gut in ihrem zukünftigen Roman? Mit einem Jens Holtmann, der blutüberströmt hinter dem Steuer hing, die Windschutzscheibe in tausend Stücke zersprungen. Im Radio sang George Ezra grade: „What you waiting for?“ Ja, worauf wartete sie eigentlich? Sie nahm sich vor, gleich sofort einen Unfalltod von Jens Holtmann aufs Papier zu bringen, einen richtig schönen Unfalltod.

Seufzend fuhr Uschi weiter und parkte nach ein paar Metern den Wagen in ihrem Carport. Sie würde es allen zeigen mit ihrem Roman. In ihrem Job nahm man sie doch nur wahr, wenn sie etwas vergaß oder übersah. So wie letztens, als sie die Fensterbank im Personalbüro abgewischt hatte und dabei die vielen Flaschen, Blumentöpfe und Nippes nicht wieder an die richtigen Plätze stellen konnte. Ganz süffisant hatte sie Frau Potthoff darauf hingewiesen, dass alles durcheinander geraten sei. Ob sie sich über ihre Urlaubsvertretung auch beschwert hatten? Vermutlich nicht. Die Frau war ja nur Aushilfe. Wenn wenigstens ab und zu mal ein „Danke“ fallen würde. Selbst das hatte sie in der Firma Strunz Food noch nie gehört. Sie könnte natürlich auch Frau Potthoff mit ins Unfallauto setzen, so als schmückendes Beiwerk. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Und Brigitte Strunz, die Chefin wäre Unfallverursacher. Vorfahrt nicht beachtet, oder so was. Natürlich mit Absicht, sonst wäre es ja kein Verbrechen.

Als Uschi die Haustür ihres kleinen Reihenhauses hinter sich schloss, hörte sie ihren Wilfried schon laut schnarchen. Beim Betreten des Wohnzimmers bot sich ihr ein gewohntes Bild. Er saß vor laufendem Fernseher auf der Couch, den Kopf im Nacken und den kleinen Bierbauch herausgestreckt. Sägend zog er die Luft ein. Beim Ausatmen zitterte seine Unterlippe leicht. Der Tee vor ihm auf dem Tisch dampfte schon lange nicht mehr. Vermutlich war sein Tag auch anstrengend gewesen, dachte sie bei sich. Leise ging sie in die Küche und nahm sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Dann setzte sie sich zu ihrem Mann auf die Couch. Sie ließ sich etwas mehr plumpsen als nötig und begann seelenruhig ihr Abendessen zu löffeln.
Neben ihr schreckte Wilfried aus dem Schlaf hoch. „Wie? Schon da?“, fragte er verschlafen.
„Nee, du träumst noch“, scherzte Uschi. „Ich bin dein Alptraum.“
„Ha, ha“, kam es trocken nach einem ausgedehnten Gähnen zurück.
Während der Sprecher im Fernsehen gerade das Wetter von morgen vorstellte, widmete sich Uschi weiter ihrem Joghurt. Mit dem Löffel auf halben Weg zu Mund, hielt sie plötzlich inne und fragte: „Was meinst du? Ob sich ein Giftmord auch gut macht?“
„Wie? Giftmord? Wen willst du denn umbringen?“ Schläfrig streckte er Arme und Beine weit von sich.
„Diesen Holtmann. Er hat mir gerade die Vorfahrt genommen.“
„Und das ist für dich Grund genug, ihn zu ermorden?“ Verständnislos betrachtete er seine Frau.
Aber die war schon wieder ganz mit ihrem Joghurt beschäftigt. „Ach nein“, meinte sie dann. „Das ist viel zu leise. Und typisch Frau. Ich will keinen Hausfrauenkrimi schreiben.“
„Oh, Mann. Hast du diese Idee immer noch nicht aufgegeben?“
Schlagartig war ihre gute Stimmung zum Teufel. Sie hatte ihn nicht geweckt, nur um sich wieder so etwas anzuhören.
„Versuchs doch einfach mal mit einer Familiengeschichte“, begann er die alte Leier. „So, wie die Pilcher. Nur nicht in Cornwall, sondern hier im Münsterland.“
Uschi verdrehte nur noch die Augen. Sie würde sicherlich keinen Familienroman schreiben. Dass ihr Mann so wenig Feingefühl zeigte, ärgerte sie. „Was hältst du von einem Unfalltod?“, fragte sie etwas schnippisch.
„Wie jetzt? Für mich?“
„Nein. In meinem Buch“, erklärte sie ihm vorwurfsvoll. „Wie würdest du jemanden umbringen?“
„Ich würde niemanden umbringen.“
Für diese Friedfertigkeit liebte sie ihn. „Ja, ich weiß. Aber wenn doch?“
Müde runzelte ihr Mann die Stirn. „Das kommt darauf an.“
„Worauf?“
„Auf die Umstände.“
„Aha. Würdest du jemanden erschießen?“
„Habe keine Waffe“, kam es lakonisch zurück.
„Na gut. Erdrosseln?“
„Zu anstrengend.“
Wieso gab er sich nicht etwas mehr Mühe? Aber eigentlich verliefen diese Gespräche immer gleich. Und sie endeten stets mit Uschis Verstimmung. Wilfried war mit seinem Leben so zufrieden, dass er kaum verstand, was Uschi antrieb, diesen albernen Roman zu schreiben. Für ihn reichte es völlig, wenn sich seine Frau um den Haushalt und um die studierenden Kinder kümmerte, wenn diese gelegentlich an den Wochenenden nach Hause kamen.

Beleidigt erhob sich Uschi, schnappte sich demonstrativ ihren Block und Stift und verzog sich damit in die Küche. Sie würde jetzt einen schönen Tod von Holtmann inszenieren, auf dem Papier. Doch das Blatt blieb leer. Heute scheiterte sie schon an dem ersten Satz. Auch in den nächsten zwei Tagen brachte sie nichts Bedeutendes zu Stande. Immer wieder begann sie ihre Geschichte von Neuem, um dann, nach spätestens der ersten Seite, das Blatt frustriert vom Block zu reißen und zerknüllt in die Ecke zu pfeffern.


Als Uschi sich am Donnerstagabend auf den Weg zu Arbeit machte, spielte sie schon mit dem Gedanken, das Schreiben eines Romans als spinnende Idee abzutun. Ihr fehlten einfach die zündenden Einfälle, um eine Handlung vernünftig aufzubauen. Wieso war das nur so schwierig?
Der Empfang von Strunz Food war unbesetzt, wie immer um diese Zeit, und der Haupteingang zum Verwaltungsgebäude geschlossen. Uschi besaß den Schlüssel für den Nebeneingang. Dort lief sie fast Brigitte Strunz um. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Chefin gar nicht bemerkt hatte, die gerade zur Tür hinaus wollte. Zu allem Überfluss verhedderte sie sich mit dem Henkel ihrer Tasche auch noch am Türgriff. Wie peinlich. Uschi entschuldigte sich hastig und eilte durch den Flur zur Kellertreppe. Wenigstens konnte sie sich heute in Ruhe den Büros widmen, wenn niemand mehr da war. Wer weiß, vielleicht stolperte sie ja noch über ihre eigenen Füße, so unkonzentriert wie sie zurzeit war. Manchmal stieß sie sich auch den Kopf an den Schreibtischen, wenn sie auf allen Vieren auf dem Boden nach verstreuten Papierschnipseln langte, die am Abfallkorb vorbei geflogen waren. Und in der Personalabteilung lagen immer Blumenblätter unter den Tischen, die meisten zu groß für den Staubsauger. Aber zum Glück würde das heute keiner mehr mitbekommen.

Doch an diesem Abend stolperte Uschi über etwas ganz anderes. Schon beim Versuch, die Tür zum Serviceraum aufzuschließen, musste sie erstaunt feststellen, dass sie bereits offen war. Der Anblick, der sich ihr dann bot, war grauenhaft. Mitten zwischen ihren Putzutensilien lag Jens Holtmann, die Augen aufgerissen und starr. Blut klebte an seiner linken Schläfe. Erschrocken taumelte Uschi einen Schritt zurück. Sie musste erst ein paar Mal tief durchatmen, bevor sie wieder klar denken konnte. Dann kramte sie ihr Handy aus ihrer Tasche und rief die Polizei. Der Beamte am Telefon wies sie eindringlich an, nichts, absolut nichts anzufassen. Als wenn sie das nicht gewusst hätte. Und arbeiten konnte sie jetzt sowieso nicht. Um den fürchterlichen Anblick der Leiche zu entkommen, zog sie sich ins Treppenhaus zurück. Sicher, es war nicht der erste Tote, den sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Als ihre Mutter damals vor Jahren im Alter von Dreiundachtzig einschlief, hatte sie ihr Hand gehalten. Aber das war friedlich gewesen. Hier dagegen konnte man die brutale Gewalt noch spüren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Das war kein schöner Tod für den jungen Mann.
Doch dann siegte ihre Neugier und ihr Gehirn lief auf vollen Touren. Wie war Jens Holtmann gestorben? War es Mord? Eine weitere Frage drängte sich ihr auf: wie war er da rein gekommen? Einen Schlüssel für den Serviceraum besaßen außer ihr noch der Hausmeister Klaus Doll, ihre Chefin und Alina Strunz, deren Tochter. Aber sicher nicht Holtmann. Vielleicht sollte sie zurück gehen und sich genauer umsehen. Von Gucken hatte der Beamte ja nichts gesagt. Und anfassen musste sie dafür auch nichts. Vorsichtig wagte sie sich zurück zum Serviceraum. Die Tür stand noch weit offen. Jens Holtmann lag unverändert auf dem Boden, seltsam verdreht. Er konnte sich seine Verletzung nicht beim Sturz zugezogen haben. In dem kleinen Raum gab es keine spitzen Ecken. Vielmehr sah es so aus, als wenn er mit etwas niedergeschlagen worden wäre. Nur mit was? Ihr Wischmob war alles andere als besonders gut dafür geeignet.
Ihr fiel die Werkzeugkiste des Hausmeisters ein, die hier im Regal lagerte. Bestimmt waren dort auch schwere Schraubenschlüssel drin. Uschi reckte den Hals, um von der Türschwelle aus einen Blick über die Leiche in die Kiste werfen zu können. Blut konnte sie daran nicht entdecken. Was hatte Holtmann hier überhaupt zu suchen? Er trug eine Jeans und ein helles Hemd, wie immer auf der Arbeit. Nur seine Jacke fehlte. Wie lange war er wohl schon tot? überlegte sie. Ob sie es wagen könnte, ihn zu berühren? Nur, um zu testen, ob er schon kalt war? Langsam streckte sie ihre Hand danach aus. Plötzlich hörte sie hinter sich eine Stimme: „Nichts anfassen! Hat Ihnen das niemand gesagt?“ Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und drehte sich um. Sie blickte einem älteren Polizisten in Uniform ins Gesicht. Der Hausmeister Herr Doll stand neben ihm.

Unsanft drängte man Uschi zurück ins Treppenhaus, während andere Polizisten den Tatort absperrten.
„Warten Sie hier“, sagte man ihr. „Wir brauchen noch eine Aussage von Ihnen.“
Das freute sie. Es gab ihr einen guten Grund zu bleiben und den Beamten bei der Abreit zuzusehen. Das hätte sie um keinen Preis verpassen wollen. Wer weiß, vielleicht erfuhr sie noch Interessantes, dass sie in ihrem Roman verwenden konnte. Leider unterhielten sich die Polizisten so leise, dass sie kaum ein Wort verstand, obwohl sie ihre Ohren spitzte. Dann schloss einer mit einem lauten Rums die Zwischentür und Uschi hörte gar nichts mehr.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ein Hauptkommissar Weinrich aus Münster eintraf. Der großgewachsene Mann mit gepflegtem Vollbart eilte an ihr vorbei. Das Team der KTU war schon längst dabei, alle Spuren zu sichern, ebenso in Holtmanns Büro. Ob sie auch Fotos von den Kaffeerändern auf seinem Schreibtisch machten? überlegte Uschi. Sicher. Sie konnten ja nicht wissen, dass das normal war. Kurz darauf wurde die Leiche in einem Metallsarg an ihr vorbei getragen. Uschi drückte sich eng an die Wand, um den Männern Platz zu machen. Ein unangenehmes Kribbeln kroch über ihre Haut.


Kommissar Jürgen Weinrich betrachtet nachdenklich den Tatort. So ein Mord am Feierabend hatte dem Vierzigjährigen gerade noch gefehlt. Lieber wäre er jetzt zu Hause. Er hatte sich auf einen Abend mit seiner Frau gefreut. Und mit seinem kleinen Sohn, den er oft genug nur schlafend sah. Aber eigentlich hätte er es wissen müssen. Immer, wenn er plante, früh Schluss zu machen, kam etwas dazwischen. Verbrecher hielten sich einfach nicht an seine Bürozeiten. Dafür würde er zusehen, dass er schnell fertig wurde. Zur Befragung standen eh nur zwei Personen zur Verfügung. Zum Einen die Putze, die den Toten gefunden hatte, und zum Anderen die Chefin Frau Brigitte Strunz, die man informiert hatte und die nun oben in ihrem Büro auf ihn wartete. Zum Glück war dieser Holtmann nicht verheiratet, wie ihm die Kollegen schon mitgeteilt hatten. Das ersparte ihm das Gespräch mit einer hysterischen Ehefrau. Den genauen Todeszeitpunkt konnte ihm allerdings niemand sagen. Vor ungefähr zwei bis drei Stunden, hatte der Notarzt aus dem hiesigen Krankenhaus dann gemeint. Na ja, wenigstens etwas. Die Leiche wurde nun zur Obduktion nach Münster in die Gerichtsmedizin transportiert. Danach wäre er sicher schlauer.
Weinrich sah sich genauer im Serviceraum um. In einem Regal stapelten sich Putztücher, Wischlappen, Reinigungsmittel und Kartons mit verschiedenen Müllbeuteln. Darüber lagerten massenweise Toilettenpapierrollen und Papierhandtücher. Nichts Ungewöhnliches. Auf einem kleinen Handwagen standen Eimer und Wischer bereit, dazu eine ganze Rolle weiße Mülltüten und gelbe Gummihandschuhe. Ein Staubsauger schlummerte in einer Ecke. Dann entdeckte er den Werkzeugkasten mit Schraubendrehern und Zangen. Da kam schon eher etwas als Mordwaffe in Frage. Er wies einen Kollegen von der KTU an, die Kiste genauer zu untersuchen. Dann wandte er sich Uschi Beerhues im Treppenhaus zu.

Die Frau erhob sich von den Stufen, auf denen sie gesessen hatte. Aber anstatt verstört zu wirken, wie er erwartet hatte, schaute sie ihn aufgekratzt und auch etwas neugierig an. Der Fund der Leiche schien sie nicht im Mindesten entsetzt zu haben. „Sie haben den Toten gefunden?“, fragte er nur der Vollständigkeit halber.
„Ja. Vor genau achtundfünfzig Minuten“, meinte sie mit einem Blick zur Uhr.
Weinrich lächelte müde. Diese Zeugin würde ihm noch Ärger bereiten, das spürte er ganz genau. Sie nahm sich viel zu wichtig. „Haben Sie etwas Außergewöhnliches bemerkt?“
„Außer der Leiche?“
„Ja, außer der Leiche“, antwortete er leicht gereizt. War die Frau schwer von Begriff? „Ist Ihnen jemand hier unten entgegengekommen? Oder auf der Treppe?“, formulierte er seine Frage neu.
„Nein. Es war alles wie immer. Nur die Tür war nicht abgeschlossen wie sonst.“ Dabei schenkte sie ihm ihr schönstes Zahnpastareklame-Lächeln.
Er fand es ein wenig aufdringlich. „Wissen Sie, wer alles einen Schlüssel dazu hat?“, fragte er ernst.
„Ich, der Hausmeister, Frau Strunz und ihre Tochter.“
„Gut. Sie können dann nach Hause gehen, wenn Sie wollen. Das Schriftliche machen wir morgen auf der Wache.“ Weinrich ließ sie stehen und stieg die Treppe zu den Büros hinauf.


Enttäuschung machte sich auf Uschis Gesicht breit. Das war es schon? Mehr wollte der Beamte nicht von ihr wissen? Da hatte sie einmal mit einem echten Kriminalen zu tun und wurde so kurz abgefertigt. Dabei könnte sie ihm doch eine echte Hilfe sein, wenn er sie nur lassen würde. Seufzend ging sie auf den Serviceraum zu. Zwei Männer der KTU in weißen Overalls waren immer noch mit dem Sichern der Spuren beschäftigt. Gerade verpackten sie größere Werkzeuge aus der Kiste erst in Plastikbeutel und dann in einen Karton. An ihre Putzsachen kam sie nicht ran. Alles befand sich hinter der Absperrung. Wie sollte sie heute arbeiten? fragte sie sich ratlos. Oben in der ersten Etage waren ja noch mehr Büros, als das von Jens Holtmann, in dem die KTU ebenfalls alles auseinander nahm. Dort wartete der Dreck nur auf sie.
Uschi beschloss, mit Frau Strunz Rücksprache zu halten. Und ganz nebenbei einen Blick auf die Polizeiarbeit im Obergeschoss zu werfen. Sie eilte die Treppe hinauf. Den Fahrstuhl hatte die KTU blockiert. Auf der oberen Etage am Ende des Flurs stand die Tür zum Büro der Chefin offen. Uschi hörte den Kommissar reden. Auf dem Weg dorthin blieb sie kurz an Holtmanns Büro stehen und sah neugierig hinein. Mehrere Männer in weißen Overalls durchforsteten Schränke und Schubladen. Als sie sie bemerkten, schloss einer von ihnen demonstrativ die Tür. Dann eben nicht, dachte Uschi pikiert und ging weiter.
Aus dem Büro der Chefin hörte sie, wie Frau Strunz gerade erzählte, dass Holtmanns Eltern in Bielefeld wohnten. Höflich klopfte sie an. Die Chefin saß steif in ihrem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch, während Kommissar Weinrich mit dem Rücken zu Tür davor stand. Mit fragendem Blick drehte er sich zu ihr um.
„Entschuldigung“, murmelte Uschi. „Ich wollte nur wissen, ob ich die anderen Büros jetzt reinigen soll.“
Frau Strunz schien diese Frage zu überfordern. Hilflos schaute sie zum Kommissar. Doch der sagte nichts. Dann entschied sie: „Machen Sie Feierabend für heute. Das hat alles Zeit bis morgen.“

Schade. Uschi hätte zu gern noch etwas mehr Zeit hier verbracht und vielleicht die eine oder andere Information aufgeschnappt. So dicht an einem Mord war sie noch nie gewesen. Es war spannender als im Fernsehen. Langsam trat sie den Rückzug an. Dabei hörte sie noch, wie Kommissar Weinrich nach dem Aufgabenfeld von Holtmann in der Firma fragte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie im Vorteil gegenüber dem Beamten war. Sie hatte Jens Holtmann schon länger gekannt, auch seine Arbeit. Sie wusste, dass er IT-Fachmann war und alle PCs am Laufen hielt, ebenso alles absicherte gegen unliebsame Eingriffe von außen. Und sie kannte seine jetzige Freundin Mimi. Viele Gewalttaten geschahen aus Leidenschaft. Und Jens Holtmann war nie der Treueste gewesen. Ob Mimi mit seinem Tod zu tun hatte? War nicht der Hausmeister sogar ihr Onkel? Uschi hatte es mit einem Mal sehr eilig nach Hause zu kommen.

Wenn sie Glück hatte, war Mimi nicht weit und sie konnte ein kurzes Gespräch mit ihr führen, so von Frau zu Frau. Die Sache entwickelte sich immer besser. Uschi flitzte zu ihren VW Polo und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz. Dann sauste sie in Richtung Wohngebiet. An Jens Holtmanns Wohnung fuhr sie langsam vorbei. Dort war alles ruhig, noch keine Polizisten in Sicht. Aber das würde sicher nicht mehr lange dauern. Zu Hause setzte sie ihren Wagen rückwärts in den Carport, um die Straße besser beobachten zu können. Sie wartete keine zehn Minuten, bis Mimi mit wehendem Haar auf einem Fahrrad ankam. Ihre Rechnung war aufgegangen. Schnell stieg Uschi aus.
„Hallo Mimi“, rief sie der jungen Frau entgegen. Ob sie schon Bescheid wusste? Vermutlich nicht. Wäre sie sonst auf dem Weg zu Jens? Irritiert hielt sie an.
„Frau Beerhues? Richtig?“
Uschi nickte. „Sie sollten nicht weiterfahren“, riet sie ihr. Mimi sah sie nun völlig verwirrt an.
„Es kann sein, dass die Polizei schon da ist.“
Dann erklärte sie der jungen Frau sanft, mit vorsichtig gewählten Worten, dass sie Jens Holtmann tot in der Firma gefunden hatte.
Tränen glitzerten in Mimis Augen. Doch dann schimpfte sie los: „Ich wollte sowieso nur meine Sachen abholen. Der Idiot hat gestern mit mir Schluss gemacht.“ Aufgebracht schwang sie sich wieder auf ihr Rad und fuhr weiter.
Uschi blieb mit ihren Gedanken alleine zurück. Also doch ein Mord aus Leidenschaft? Aber Mimi gehörte nicht zur Firma. Sie hätte natürlich jederzeit, solange der Empfang besetzt war, ins Gebäude gekonnt. Und wenn Holtmann sie abgeholt hätte, wäre sie auch in den Keller gelangt. Blieb nur noch offen, wer von beiden einen Schlüssel für den Serviceraum hatte – und was sie da wollten.

Nachdenklich betrat Uschi ihr kleines Reihenhaus. Wenn Holtmann schon wieder eine Neue hatte, könnte Eifersucht sehr wohl das Motiv sein. Oder hatte er seine Neue jemand anderem ausgespannt? Auch das führte eventuell zu Eifersucht. Doch wieso war er dann in der Firma gestorben? Wäre es in seiner Wohnung nicht einfacher gewesen? Sie ließ ihre Schlüssel auf der Kommode im Flur fallen, stellte ihre Tasche auf dem Boden vor der Garderobe ab und ging in die Küche.
Wilfried schaute erstaunt von seinem Abendbrot auf. „Schon zurück?“
Sie hatte ihn schlafend auf der Couch vermutet, wie gewöhnlich. Aber dafür war es noch zu früh. Unschlüssig stand sie vorm Esstisch und betrachtet sein Leberwurstbrot mit den kleinen Gürkchen, das er sich geschmiert hatte. Dann erzählte sie ihm von dem grausigen Fund der Leiche. Ihrem Mann schien es den Appetit zu verderben. Seine Hand, die gerade noch eine Schnitte zum Mund führen wollte, sank zurück auf den Tisch.
„Jens Holtmann?“ fragte er fassungslos. „Unser IT-Spezialist?“
Wilfried arbeite auch bei Strunz Food, schon seit sechsundzwanzig Jahren. Allerdings in der Produktion. Durch ihn hatte Uschi damals sofort von der freien Stelle als Raumpflegerin erfahren und sich beworben. Gelegentlich hatte Wilfried auch mit Holtmann zu tun, wenn die Programme der empfindlichen Maschinen nicht richtig liefen oder sein PC Aussetzer hatte. „Du hast damit doch nichts zu tun? Oder ?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Wolltest du nicht letztens erst morden? Für deinen dummen Roman?“
„Das geht jetzt aber zu weit!“, empörte sich Uschi.
„Wenn dir jemand in die Quere kommt, kannst du ganz schön biestig werden.“
Eigentlich war es eher eine Feststellung ihres Mannes als ein Vorwurf. Aber sie war aufgebracht. „An deiner Stelle würde ich aufpassen. Sonst werde ich noch biestig zu dir!“

Zornig marschierte sie ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch plumpsen. So eine Frechheit! Wie konnte Wilfried nur ernsthaft annehmen, dass sie Holtmann ermordet hatte?
Doch er folgte ihr. „Tut mir leid“, schlug er einen besänftigenden Ton an. „Das war sicher hart für dich.“
Als sie nicht reagierte, meinte er: „Hast du denn wenigstens einen netten Kommissar getroffen?“
Uschi starrte immer noch sauer vor sich hin. Dann musste sie an Weinrich denken, wie er vor ihr gestanden hatte, groß, schlaksig und mit Bart. Der würde sich sicher nicht schlecht machen in ihrem Roman. Nur etwas freundlicher müsste er sein. „Da ist einer extra aus Münster gekommen“, antwortete sie brummig. „So offensichtlich ist der Fall wohl nicht.“
Wilfried setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Dann kannst du ihm ja bei der Arbeit zusehen. – Tut dir Holtmann wenigstens etwas leid?“
„Ja, sicher. Denkst du, ich wollte wirklich seinen Tod? Auf Papier ist das doch ganz was anderes. Ich hoffe, dass sie den Täter schnell finden.“ Ihr Ärger war mit einem Mal verraucht. Die ganze Sache hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte. Müde lehnte sie sich an ihn.
„Sie werden sicher ihr Bestes tun“, versuchte er sie aufzumuntern.
 

rag

Mitglied
Hi Baxi, die Story klingt interessant, aber bei fünf Mal hatte im ersten Absatz bin ich raus. Sorry. Herzliche Grüße
rag
 

ahorn

Mitglied
Hallo Baxi,
ich habe länger durchgehalten, die Wiederholungen und Blähwörter verschluckt.
Der Anfang zu sähe, obwohl du immer wieder Spannungsbögen aufbaust keine Leiche, dabei ist es ein Klassiker Putzfrau findet Leiche. Erst Tage, Zeilen später passiert es, nachdem der Leser dein Buch in den ewigen Grau des Bücherregals verwiesen hat.
Tipp!

1. Streiche alles bis
Der Empfang von Strunz Food war unbesetzt,
Alles das, was du den Leser über Uschi erzählen willst, kannste später nachholen. Entwickel sie!

2. Handlung vor Gedanken
Lasse deine Personen handeln. Nicht darüber sinnierten, ob in einer Kiste Werkzeug ist, sondern zuschnappen.

3. Vermeide Kettenfragen

Wie war Jens Holtmann gestorben? War es Mord? Eine weitere Frage drängte sich ihr auf: wie war er da rein gekommen?
Es sei im Dialog.
Beispiel
Kommissar Weinrich zupfte an Holtsmanns T-Shirt, blickte auf und starrte in Uschis Augen. "Wie ist er gestorben?", murmelte er und fasste sich an die Nase. "War es Mord?" Er stand auf und drückte seinen Zeigefinger auf Uschis Brustbein. "Wie ist er herein gekommen?"

Ansonsten empfehle ich wie immer Franks Tipps https://www.leselupe.de/lw/titel-Eine-gute-Geschichte-129481.htm

Gruß
ahorn

Trotz meiner Kritik mache ich mich an das 2. Kapitel ;)
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Zwischenmeldung nach dem ersten raschen Lesen:

Mir gefallen die Dialoge, sie klingen "echt".
Uschi hat die Portion "Frechheit" und "geistige Helle", die mich für sie einnimmt.
Mir gefällt grundsätzlich der Sound, obwohl ich ein paar mehr Rhythmus-Variationen schön fände.

Mir gefällt nicht das Absatzmanagement (falsche Leerzeilen, aber das schieb ich mal auf den Versuch, es am Bildschirm lesbare zu machen / etwas zu lange Absätze - die ohne Dialoge können fast alle nochmal struktuiert werden) und der nicht korrekte Verzicht auf das Plusquamperfekt.

Es gibt noch Details, die man in einem Lektorat und/oder Korrektorat rauspuhlen müsste. Beispiele:
* "bei Hempels unterm Sofa"
* Was ist "plemern"?
* Wieso "dachte sie nur noch" (tatsächlich denkt sie doch sofort weiter)?
* Was ist eine "spinnende Idee"? Meinst du "spinnert"?
* "wenn sie auf allen Vieren auf dem Boden nach verstreuten Papierschnipseln langte, die am Abfallkorb vorbei geflogen waren." Wieso hat sie keinen Sauger?
* "Blumenblätter unter den Tischen, die meisten zu groß für den Staubsauger." Ooch, schon ein Haushaltsstaubsauger schafft da Beachtliches, ein Profigerät sollte keine Mühe haben. Es sei denn, es sind Monsterablätter, die liegen aber nicht ständig rum. ;)
* "Dann kramte sie ihr Handy aus ihrer Tasche" Es wäre nur erwähnenswert, wenn sie ihr Handy aus Holtmans Tasche kramen würde ;)
* "Sie wusste, dass er IT-Fachmann war und alle PCs am Laufen hielt, ebenso alles absicherte gegen unliebsame Eingriffe von außen." Woher weiß sie das? Sowas kann man weder aus Fotos noch Papierabfall schließen.
* "„Jens Holtmann?“ fragte er fassungslos. „Unser IT-Spezialist?“ Wilfried arbeite auch bei Strunz Food, schon seit sechsundzwanzig Jahren. " Mooooment! Diese Info gehört vorn hin, hier wirkt sie, als wäre dir grade erste eingefallen.

PS: Die Reaktion von Uschis Mann kommt mir sehr seltsam vor. Entweder ist dir hier die Echtheit abhanden gekommen oder er wusste schon vorher, dass Holtmann tot ist.

Schade, dass das Textpaket so lang ist, ein "Quasi-Lektorat" wird dadurch zu unhandlich.
 

Baxi

Mitglied
Vielen Dank für deine Antwort.
Uschi ist nicht neu in der Firma. Sie weiß, welche Büros sie putzt und kennt natürlich auch die Aufgabenbereiche der Angestellten. (Im Normalfall stehen Name und Bereich an der Bürotür.)
Dass ihr Mann auch dort arbeitet, werde ich früher einfügen. Das erklärt dann auch besser, dass sie sich in der Firma gut auskennt.
 

Baxi

Mitglied
Mörderisches Mutterherz

So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Da war sie gerade mal eine Woche im Urlaub gewesen und alles sah aus, wie bei Hempels unterm Sofa. Die Schreibtische wiesen etliche Ringe von abgestellten Kaffeetassen auf, auf die Bildschirme der Computer waren mit einem Staubfilm bedeckt und die Papierkörbe quollen nur so über. Hatte ihre Vertretung denn gar nichts gemacht? Eiligst begann Uschi mit der Arbeit. Heute würde sie mehr als die üblichen drei Stunden brauchen, um alles wieder auf Vordermann zu bringen. Sie füllte sich Putzmittel und Wasser in den Eimer, stellte den Wischer bereit und schnappte sich die Mikrofaserlappen von ihrem kleinen Handwagen. Dann streifte sie sich ihre Gummihandschuhe über. Energisch fing sie an, mit dem nassen Lappen über die Schreibtische zu wischen. Wenigstens war sie alleine hier. Keiner störte sie bei der Arbeit. Wenn sie um 17 Uhr kam, waren die Büroleute der Firma Strunz Food alle oft schon zu Hause. Nur gelegentlich war noch jemand neben der Chefin anwesend. Doch heute hatte auch sie schon Feierabend gemacht.

Nach fast vier Stunden glänzten alle Büros und Toilettenräume wieder wie neu. Uschi wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie brauchte nur noch den Flur samt Treppenhaus und Eingangsbereich bohnern und dann ihre Arbeitsgeräte wieder sauber im Serviceraum verstauen. Aber sicher würde es nicht lange dauern, bis morgen wieder die ersten Krümel auf der Tastatur von Alina Strunz landeten. Oder Kaffeeränder auf dem Schreibtisch von Jens Holtmann. Der plemerte immer. Wenn sie Glück hatte, stapelten sie wenigstens ihr benutztes Geschirr in der kleinen Küche, anstatt es noch verteilt auf allen Tischen rumzustehen zu lassen.

Wie konnte sie nur in diesem bescheuerten Job landen? dachte Uschi frustriert. Damals, mit Zwanzig hatte sie noch Pläne, wollte die ganze Welt erobern. Einige Jahre hatte sie als Technische Zeichnerin auch in so einem Büro gearbeitet, wie sie sie jetzt putzte. Doch dann hatte sie Wilfried kennen gelernt, hatte geheiratet und zwei Kinder bekommen. Einer musste zu Hause bleiben. Und das war natürlich sie gewesen. Wilfried verdiente damals schon mehr als sie und hatte zudem noch gute Aufstiegschancen. Schließlich brachte er es zum leitenden Angestellten mit einem dreizehnten Gehalt. Als sie nach zehn Jahren Kinderbetreuung und Erziehung wieder zurück in ihren Beruf wollte, hatte sich durch die Digitalisierung so viel verändert, dass sie den Anschluss verpasst hatte. Keiner wollte sie mehr einstellen. Und eine Umschulung war für sie nicht in Frage gekommen. Die liefen immer ganztags und sie konnte wegen der Kinder nur halbtags. So tingelte sie von Aushilfsjob zu Aushilfsjob. Ihre Kinder hatte die Schule längst beendet, als sie mit Ende Vierzig hier als Reinigungskraft fest beschäftigt wurde. Was für eine steile Karriere.

Aber eigentlich träumte Uschi schon seit Jahren davon, einen Roman zu schreiben. Bücher waren schon immer ihre Leidenschaft. Und ein ganzes Buch, mit ihrem Namen darauf. Was für ein tollkühner Gedanke! Allerdings keinen Liebesroman und auch keine Familiengeschichte, wie ihr Mann ihr immer wieder vorschlug. Sie wollte einen Krimi schreiben. So richtig mit Mord und Totschlag und viel Spannung. Mit etwas Glück vielleicht einen Bestseller, der alle vom Hocker riss. Das würde den Bekannten, die nur müde über ihr Hobby lächelten, endlich mal Respekt abverlangen. Mehrmals hatte sie schon einen Versuch gestartet, war aber nie über Kurzgeschichten hinaus gekommen. Ihr Problem war, dass sie am besten über Dinge schreiben konnte, die sie wirklich erlebt hatte. Oder zumindest irgendwo beobachtet. Bisher war allerdings die einzige Straftat, mit der sie in Berührung gekommen war, der Diebstahl ihrer Geldbörse. Und die hatte sie nach zwei Tagen zurück bekommen, wenn auch ohne das Bargeld. Doch für einen Kriminalroman extra jemanden umbringen? Das ging ihr dann doch zu weit. Obwohl, dieser Jens Holtmann wäre kein schlechtes Opfer, überlegte sie lächelnd. Er war hochnäsig und hinter jedem Rock her. Und diesen unnötigen Dreck, den er immer im Büro machte. Unmöglich! Erst heute war sein Mülleimer wieder voller Papierkram gewesen, alles Zettel mit Zahlenreihen und zusammengeknüllt. Warum benutzte er nicht den Aktenvernichter, wie jeder andere? Der hatte doch einen so schönen Auffangbehälter.

Uschi wusste viel über die Mitarbeiter der Firma Strunz. Sie wusste, wer seinen Kaffee mit Milch und Zucker oder lieber schwarz trank, wusste, wer auf Süßes stand und wer irgendwelche Allergien hatte. Anhand der gerahmten Fotos auf den Schreibtischen kannte sie auch die Familien der meisten, wusste, wer Single, verheiratet, geschieden oder frisch verliebt war. Bei diesem Jens Holtmann wechselten die Freundinnen oft. In den drei Jahren, seit er zur Firma gehörte, hatte sie einige von ihnen gesehen. Seine jetzige Flamme hieß Mimi. Diese Information hatte sie allerdings nur, weil der Flegel auch noch in ihrer Nachbarschaft wohnte.

Zufrieden schob Uschi den Handwagen in den kleinen Fahrstuhl und fuhr ins Kellergeschoss. Sie beförderte ihn zurück in den Serviceraum und schloss ab. Für heute war sie endgültig fertig. Dann schnappte sie sich den großen Müllsack, stopfte ihn draußen im Vorbeigehen in den Container und machte sich auf den Heimweg. Wilfried erwartete sie bestimmt schon. Vielleicht war er aber auch längst vorm Fernseher eingeschlafen, wie so oft in letzter Zeit. Ihr Mann arbeitete ebenfalls bei Strunz Food. Vor sechsundzwanzig Jahren begann er als Lebensmitteltechniker. Heute koordinierte er als Industriemeister die Produktionsabläufe in der Firma. Durch ihn hatte Uschi vor vier Jahren von der freien Stelle als Raumpflegerin erfahren und sich sofort beworben. Vermutlich bekam sie den Job nur, weil man ihr einen Familienbonus anrechnete.

Sie bog mit ihrem VW Polo ins Wohngebiet ein. Nur noch zwei Straßen, dann war sie zu Hause. Plötzlich kam ein dunkler Wagen von links auf die Kreuzung zu und sauste ohne zu zögern an ihr vorbei. Aber das kannte sie ja schon. Deshalb fuhr sie hier immer langsam. Das der Kerl aber auch noch hupte, weil sie nicht sofort anhielt, war schon ziemlich unverschämt. „Hier ist Rechts vor Links!“, schimpfte sie laut vor sich hin. Wie konnte der Kerl das nur so ignorieren? Dann erkannte sie Jens Holtmann am Steuer. Dieser Schnösel, dachte sie nur noch. Von dem war doch nichts anderes zu erwarten. Selbst in der Firma war er als rücksichtslos und impulsiv bekannt. Vielleicht, überlegte sie weiter, vielleicht machte sich ein Unfall ganz gut in ihrem zukünftigen Roman? Mit einem Jens Holtmann, der blutüberströmt hinter dem Steuer hing, die Windschutzscheibe in tausend Stücke zersprungen. Im Radio sang George Ezra grade: „What you waiting for?“ Ja, worauf wartete sie eigentlich? Sie nahm sich vor, gleich sofort einen Unfalltod von Jens Holtmann aufs Papier zu bringen, einen richtig schönen Unfalltod.

Seufzend fuhr Uschi weiter und parkte nach ein paar Metern den Wagen in ihrem Carport. Sie würde es allen zeigen mit ihrem Roman. In ihrem Job nahm man sie doch nur wahr, wenn sie etwas vergaß oder übersah. So wie letztens, als sie die Fensterbank im Personalbüro abgewischt hatte und dabei die vielen Flaschen, Blumentöpfe und den Nippes nicht wieder an die richtigen Plätze stellen konnte. Ganz süffisant hatte sie Frau Potthoff darauf hingewiesen, dass alles durcheinander geraten sei. Ob sie sich über ihre Urlaubsvertretung auch beschwert hatten? Vermutlich nicht. Die Frau war ja nur Aushilfe. Wenn wenigstens ab und zu mal ein „Danke“ fallen würde. Selbst das hatte sie in der Firma Strunz Food noch nie gehört. Sie könnte natürlich auch Frau Potthoff mit ins Unfallauto setzen, so als schmückendes Beiwerk. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Und Brigitte Strunz, die Chefin wäre Unfallverursacher. Vorfahrt nicht beachtet, oder so was. Natürlich mit Absicht, sonst wäre es ja kein Verbrechen.

Als Uschi die Haustür ihres kleinen Reihenhauses hinter sich schloss, hörte sie ihren Wilfried schon laut schnarchen. Beim Betreten des Wohnzimmers bot sich ihr ein gewohntes Bild. Er saß vor laufendem Fernseher auf der Couch, den Kopf im Nacken und den kleinen Bierbauch herausgestreckt. Sägend zog er die Luft ein. Beim Ausatmen zitterte seine Unterlippe leicht. Der Tee vor ihm auf dem Tisch dampfte schon lange nicht mehr. Vermutlich war sein Tag auch anstrengend gewesen, dachte sie bei sich. Leise ging sie in die Küche und nahm sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Dann setzte sie sich zu ihrem Mann auf die Couch. Sie ließ sich etwas mehr plumpsen als nötig und begann seelenruhig ihr Abendessen zu löffeln. Neben ihr schreckte Wilfried aus dem Schlaf hoch. „Wie? Schon da?“, fragte er verschlafen.
„Nee, du träumst noch“, scherzte Uschi. „Ich bin dein Alptraum.“ „Ha, ha“, kam es trocken nach einem ausgedehnten Gähnen zurück.
Während der Sprecher im Fernsehen gerade das Wetter von morgen vorstellte, widmete sich Uschi weiter ihrem Joghurt. Mit dem Löffel auf halben Weg zu Mund, hielt sie plötzlich inne und fragte: „Was meinst du? Ob sich ein Giftmord auch gut macht?“
„Wie? Giftmord? Wen willst du denn umbringen?“ Schläfrig streckte er Arme und Beine weit von sich.
„Diesen Holtmann. Er hat mir gerade die Vorfahrt genommen.“
„Und das ist für dich Grund genug, ihn zu ermorden?“ Verständnislos betrachtete er seine Frau.
Aber die war schon wieder ganz mit ihrem Joghurt beschäftigt. „Ach nein“, meinte sie dann. „Das ist viel zu leise. Und typisch Frau. Ich will keinen Hausfrauenkrimi schreiben.“
„Oh, Mann. Hast du diese Idee immer noch nicht aufgegeben?“
Schlagartig war ihre gute Stimmung zum Teufel. Sie hatte ihn nicht geweckt, nur um sich wieder so etwas anzuhören.
„Versuchs doch einfach mal mit einer Familiengeschichte“, begann er die alte Leier. „So, wie die Pilcher. Nur nicht in Cornwall, sondern hier im Münsterland.“
Uschi verdrehte nur noch die Augen. Sie würde sicherlich keinen Familienroman schreiben. Dass ihr Mann so wenig Feingefühl zeigte, ärgerte sie. „Was hältst du von einem Unfalltod?“, fragte sie etwas schnippisch.
„Wie jetzt? Für mich?“
„Nein. In meinem Buch“, erklärte sie ihm vorwurfsvoll. „Wie würdest du jemanden umbringen?“
„Ich würde niemanden umbringen.“
Für diese Friedfertigkeit liebte sie ihn. „Ja, ich weiß. Aber wenn doch?“
Müde runzelte ihr Mann die Stirn. „Das kommt darauf an.“
„Worauf?“
„Auf die Umstände.“
„Aha. Würdest du jemanden erschießen?“
„Habe keine Waffe“, kam es lakonisch zurück.
„Na gut. Erdrosseln?“
„Zu anstrengend.“
Wieso gab er sich nicht etwas mehr Mühe? Aber eigentlich verliefen diese Gespräche immer gleich. Und sie endeten stets mit Uschis Verstimmung. Wilfried war mit seinem Leben so zufrieden, dass er kaum verstand, was Uschi antrieb, diesen albernen Roman zu schreiben. Für ihn reichte es völlig, wenn sich seine Frau um den Haushalt und um die studierenden Kinder Sophie und Leon kümmerte, wenn diese gelegentlich an den Wochenenden nach Hause kamen.
Beleidigt erhob sich Uschi, schnappte sich demonstrativ ihren Block und Stift und verzog sich damit in die Küche. Sie würde jetzt einen schönen Tod von Holtmann inszenieren, auf dem Papier. Doch das Blatt blieb leer. Heute scheiterte sie schon an dem ersten Satz. Auch in den nächsten zwei Tagen brachte sie nichts Bedeutendes zu Stande. Immer wieder begann sie ihre Geschichte von Neuem, um dann, nach spätestens der ersten Seite, das Blatt frustriert vom Block zu reißen und zerknüllt in die Ecke zu pfeffern.

Als Uschi sich am Donnerstagabend auf den Weg zu Arbeit machte, spielte sie schon mit dem Gedanken, das Schreiben eines Romans als Spleen abzutun. Ihr fehlten einfach die zündenden Einfälle, um eine Handlung vernünftig aufzubauen. Wieso war das nur so schwierig? Der Empfang von Strunz Food war unbesetzt, wie immer um diese Zeit, und der Haupteingang zum Verwaltungsgebäude geschlossen. Uschi besaß den Schlüssel für den Nebeneingang. Dort lief sie fast Brigitte Strunz um. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Chefin gar nicht bemerkt hatte, die gerade zur Tür hinaus wollte. Zu allem Überfluss verhedderte sie sich mit dem Henkel ihrer Handtasche auch noch am Türgriff. Wie peinlich. Uschi entschuldigte sich hastig und eilte durch den Flur zur Kellertreppe. Wenigstens konnte sie sich heute in Ruhe den Büros widmen, wenn niemand mehr da war. Wer weiß, vielleicht stolperte sie ja noch über ihre eigenen Füße, so unkonzentriert wie sie zurzeit war. Manchmal stieß sie sich auch den Kopf an den Schreibtischen, wenn sie auf allen Vieren auf dem Boden nach verstreuten Papierfetzen langte, die am Abfallkorb vorbei geflogen waren und den Staubsauger verstopfen würden. In der Personalabteilung dagegen lagen oft Blätter von dem riesigen Gummibaum in der hintersten Ecke unterm Tisch, die meisten zu groß für den Sauger. Vor diesem Job als Putze hatte sie noch geglaubt, ein Industriesauger wäre stärker als ihr Haushaltsgerät. Doch weit gefehlt. Bei der Krücke, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte, war lediglich der Staubbeutel größer. Aber zum Glück würde heute keiner mehr mitbekommen, wenn sie sich eine Beule holte.
Doch an diesem Abend stolperte Uschi über etwas ganz anderes. Schon beim Versuch, die Tür zum Serviceraum aufzuschließen, musste sie erstaunt feststellen, dass sie gar nicht abgeschlossen war. Der Anblick, der sich ihr dann bot, war grauenhaft. Mitten zwischen ihren Putzutensilien lag Jens Holtmann, die Augen aufgerissen und starr. Blut klebte an seiner linken Schläfe. Erschrocken taumelte Uschi einen Schritt zurück. Sie musste erst ein paar Mal tief durchatmen, bevor sie wieder klar denken konnte. Dann kramte sie ihr Handy aus ihrer Handtasche und rief die Polizei. Der Beamte am Telefon wies sie eindringlich an, nichts, absolut nichts anzufassen. Als wenn sie das nicht gewusst hätte. Und arbeiten konnte sie jetzt sowieso nicht. Um den fürchterlichen Anblick der Leiche zu entkommen, zog sie sich ins Treppenhaus zurück. Sicher, es war nicht der erste Tote, den sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Als ihre Mutter damals im Alter von Dreiundachtzig einschlief, hatte sie ihr Hand gehalten. Aber das war friedlich gewesen. Hier dagegen konnte man die brutale Gewalt noch spüren. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Das war kein schöner Tod für den jungen Mann. Doch dann siegte ihre Neugier und ihr Gehirn lief auf vollen Touren. Wie war Jens Holtmann gestorben? War es Mord? Eine weitere Frage drängte sich ihr auf: wie war er da rein gekommen? Einen Schlüssel für den Serviceraum besaßen außer ihr noch der Hausmeister Klaus Doll, ihre Chefin und Alina Strunz, deren Tochter. Aber sicher nicht Holtmann. Vielleicht sollte sie zurück gehen und sich genauer umsehen. Von Gucken hatte der Beamte ja nichts gesagt. Und anfassen musste sie dafür auch nichts.
Vorsichtig wagte sich Uschi zurück zum Serviceraum. Die Tür stand noch weit offen. Jens Holtmann lag unverändert auf dem Boden, seltsam verdreht. Er konnte sich seine Verletzung nicht beim Sturz zugezogen haben. In dem kleinen Raum gab es keine spitzen Ecken. Vielmehr sah es so aus, als wenn er mit etwas niedergeschlagen worden wäre. Nur mit was? Ihr Wischmob war alles andere als besonders gut dafür geeignet. Ihr fiel die Werkzeugkiste des Hausmeisters ein, die hier im Regal lagerte. Bestimmt waren dort auch schwere Schraubenschlüssel drin. Uschi reckte den Hals, um von der Türschwelle aus einen Blick über die Leiche in die Kiste werfen zu können. Blut konnte sie daran nicht entdecken. Was hatte Holtmann hier überhaupt zu suchen? Er trug eine Jeans und ein helles Hemd, wie immer auf der Arbeit. Nur seine Jacke fehlte. Wie lange war er wohl schon tot? überlegte sie. Ob sie es wagen könnte, ihn zu berühren? Nur, um zu testen, ob er schon kalt war? Langsam streckte sie ihre Hand danach aus.
Plötzlich hörte sie hinter sich eine Stimme: „Nichts anfassen! Hat Ihnen das niemand gesagt?“
Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und drehte sich um. Sie blickte einem älteren Polizisten in Uniform ins Gesicht. Der Hausmeister Herr Doll stand neben ihm.
Unsanft drängte man Uschi zurück ins Treppenhaus, während andere Polizisten den Tatort absperrten.
„Warten Sie hier“, sagte man ihr. „Wir brauchen noch eine Aussage von Ihnen.“
Das freute sie. Es gab ihr einen guten Grund zu bleiben und den Beamten bei der Arbeit zuzusehen. Das hätte sie um keinen Preis verpassen wollen. Wer weiß, vielleicht erfuhr sie noch Interessantes, dass sie in ihrem Roman verwenden konnte. Leider unterhielten sich die Polizisten so leise, dass sie kaum ein Wort verstand, obwohl sie ihre Ohren spitzte. Dann schloss einer mit einem lauten Rums die Zwischentür und Uschi hörte gar nichts mehr. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ein Hauptkommissar Weinrich aus Münster eintraf. Der großgewachsene Mann mit gepflegtem Vollbart eilte an ihr vorbei. Das Team der KTU war schon längst dabei, alle Spuren zu sichern, ebenso in Holtmanns Büro. Ob sie auch Fotos von den Kaffeerändern auf seinem Schreibtisch machten? überlegte Uschi. Sicher. Sie konnten ja nicht wissen, dass das normal war. Kurz darauf wurde die Leiche in einem Metallsarg an ihr vorbei getragen. Uschi drückte sich eng an die Wand, um den Männern Platz zu machen. Ein unangenehmes Kribbeln kroch ihr über die Haut.

Kommissar Jürgen Weinrich betrachtet nachdenklich den Tatort. So ein Mord am Feierabend hatte dem Vierzigjährigen gerade noch gefehlt. Lieber wäre er jetzt zu Hause. Er hatte sich auf einen Abend mit seiner Frau gefreut. Und mit seinem kleinen Sohn, den er oft genug nur schlafend sah. Aber eigentlich hätte er es wissen müssen. Immer, wenn er plante, früh Schluss zu machen, kam etwas dazwischen. Verbrecher hielten sich einfach nicht an seine Bürozeiten. Dafür würde er zusehen, dass er schnell fertig wurde. Zur Befragung standen eh nur zwei Personen zur Verfügung. Zum Einen die Putze, die den Toten gefunden hatte, und zum Anderen die Chefin Frau Brigitte Strunz, die man informiert hatte und die nun oben in ihrem Büro auf ihn wartete. Zum Glück war dieser Holtmann nicht verheiratet, wie ihm die Kollegen schon mitgeteilt hatten. Das ersparte ihm das Gespräch mit einer hysterischen Ehefrau. Den genauen Todeszeitpunkt konnte ihm allerdings niemand sagen. Vor ungefähr zwei bis drei Stunden, hatte der Notarzt aus dem hiesigen Krankenhaus dann gemeint. Na ja, wenigstens etwas. Die Leiche wurde nun zur Obduktion nach Münster in die Gerichtsmedizin transportiert. Danach wäre er sicher schlauer. Weinrich sah sich genauer im Serviceraum um. In einem Regal stapelten sich Putztücher, Wischlappen, Reinigungsmittel und Kartons mit verschiedenen Müllbeuteln. Darüber lagerten massenweise Toilettenpapierrollen und Papierhandtücher. Nichts Ungewöhnliches. Auf einem kleinen Handwagen standen Eimer und Wischer bereit, dazu eine ganze Rolle weiße Mülltüten und gelbe Gummihandschuhe. Ein Staubsauger schlummerte in einer Ecke. Dann entdeckte er den Werkzeugkasten mit Schraubendrehern und Zangen. Da kam schon eher etwas als Mordwaffe in Frage. Er wies einen Kollegen von der KTU an, die Kiste genauer zu untersuchen. Dann wandte er sich Uschi Beerhues im Treppenhaus zu.
Die Frau erhob sich von den Stufen, auf denen sie gesessen hatte. Aber anstatt verstört zu wirken, wie er erwartet hatte, schaute sie ihn aufgekratzt und auch etwas neugierig an. Der Fund der Leiche schien sie nicht im Mindesten entsetzt zu haben. „Sie haben den Toten gefunden?“, fragte er nur der Vollständigkeit halber.
„Ja. Vor genau achtundfünfzig Minuten“, meinte sie mit einem Blick zur Uhr.
Weinrich lächelte müde. Diese Zeugin würde ihm noch Ärger bereiten, das spürte er ganz genau. Sie nahm sich viel zu wichtig. „Haben Sie etwas Außergewöhnliches bemerkt?“
„Außer der Leiche?“
„Ja, außer der Leiche“, antwortete er leicht gereizt. War die Frau schwer von Begriff? „Ist Ihnen jemand hier unten entgegengekommen? Oder auf der Treppe?“, formulierte er seine Frage neu.
„Nein. Es war alles wie immer. Nur die Tür war nicht abgeschlossen wie sonst.“ Dabei schenkte sie ihm ihr schönstes Zahnpastareklame-Lächeln.
Er fand es ein wenig aufdringlich. „Wissen Sie, wer alles einen Schlüssel dazu hat?“, fragte er ernst.
„Ich, der Hausmeister, Frau Strunz und ihre Tochter.“
„Gut. Sie können dann nach Hause gehen, wenn Sie wollen. Das Schriftliche machen wir morgen auf der Wache.“ Weinrich ließ sie stehen und stieg die Treppe zu den Büros hinauf.

Enttäuschung machte sich auf Uschis Gesicht breit. Das war es schon? Mehr wollte der Beamte nicht von ihr wissen? Da hatte sie einmal mit einem echten Kriminalen zu tun und wurde so kurz abgefertigt. Dabei könnte sie ihm doch eine echte Hilfe sein, wenn er sie nur lassen würde. Seufzend ging sie auf den Serviceraum zu. Zwei Männer der KTU in weißen Overalls waren immer noch mit dem Sichern der Spuren beschäftigt. Gerade verpackten sie größere Werkzeuge aus der Kiste erst in Plastikbeutel und dann in einen Karton. An ihre Putzsachen kam sie nicht ran. Alles befand sich hinter der Absperrung. Wie sollte sie heute arbeiten? fragte sie sich ratlos. Oben in der ersten Etage waren ja noch mehr Büros, als das von Jens Holtmann, in dem die KTU ebenfalls alles auseinander nahm. Dort wartete der Dreck nur auf sie. Uschi beschloss, mit Frau Strunz Rücksprache zu halten. Und ganz nebenbei einen Blick auf die Polizeiarbeit im Obergeschoss zu werfen. Sie eilte die Treppe hinauf. Den Fahrstuhl hatte die KTU blockiert. Auf der oberen Etage am Ende des Flurs stand die Tür zum Büro der Chefin offen. Uschi hörte den Kommissar reden. Auf dem Weg dorthin blieb sie kurz an Holtmanns Büro stehen und sah neugierig hinein. Mehrere Männer in weißen Overalls durchforsteten Schränke und Schubladen. Als sie sie bemerkten, schloss einer von ihnen demonstrativ die Tür. Dann eben nicht, dachte Uschi pikiert und ging weiter. Aus dem Büro der Chefin hörte sie, wie Frau Strunz gerade erzählte, dass Holtmanns Eltern in Bielefeld wohnten. Höflich klopfte sie an. Die Chefin saß steif in ihrem Stuhl hinter ihrem Schreibtisch, während Kommissar Weinrich mit dem Rücken zu Tür davor stand. Mit fragendem Blick drehte er sich zu ihr um.
„Entschuldigung“, murmelte Uschi. „Ich wollte nur wissen, ob ich die anderen Büros jetzt reinigen soll.“
Frau Strunz schien diese Frage zu überfordern. Hilflos schaute sie zum Kommissar. Doch der sagte nichts. Dann entschied sie: „Machen Sie Feierabend für heute. Das hat alles Zeit bis morgen.“
Schade. Uschi hätte zu gern noch etwas mehr Zeit hier verbracht und vielleicht die eine oder andere Information aufgeschnappt. So dicht an einem Mord war sie noch nie gewesen. Es war spannender als im Fernsehen. Langsam trat sie den Rückzug an. Dabei hörte sie noch, wie Kommissar Weinrich nach dem Aufgabenfeld von Holtmann in der Firma fragte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie im Vorteil gegenüber dem Beamten war. Sie hatte Jens Holtmann schon länger gekannt, auch seine Arbeit. Sie wusste, dass er IT-Fachmann war und alle PCs am Laufen hielt, ebenso alles absicherte gegen unliebsame Eingriffe von außen. Und sie kannte seine jetzige Freundin Mimi. Viele Gewalttaten geschahen aus Leidenschaft. Und Jens Holtmann war nie der Treueste gewesen. Ob Mimi mit seinem Tod zu tun hatte? War nicht der Hausmeister sogar ihr Onkel? Uschi hatte es mit einem Mal sehr eilig nach Hause zu kommen.
Wenn sie Glück hatte, war Mimi nicht weit und sie konnte ein kurzes Gespräch mit ihr führen, so von Frau zu Frau. Die Sache entwickelte sich immer besser. Uschi flitzte zu ihren VW Polo und warf ihre Tasche auf den Beifahrersitz. Dann sauste sie in Richtung Wohngebiet. An Jens Holtmanns Wohnung fuhr sie langsam vorbei. Dort war alles ruhig, noch keine Polizisten in Sicht. Aber das würde sicher nicht mehr lange dauern. Zu Hause setzte sie ihren Wagen rückwärts in den Carport, um die Straße besser beobachten zu können. Sie wartete keine zehn Minuten, bis Mimi mit wehendem Haar auf einem Fahrrad ankam. Ihre Rechnung war aufgegangen. Schnell stieg Uschi aus.
„Hallo Mimi“, rief sie der jungen Frau entgegen. Ob sie schon Bescheid wusste? Vermutlich nicht. Wäre sie sonst auf dem Weg zu Jens? Irritiert hielt sie an.
„Frau Beerhues? Richtig?“
Uschi nickte. „Sie sollten nicht weiterfahren“, riet sie ihr. Mimi sah sie nun völlig verwirrt an.
„Es kann sein, dass die Polizei schon da ist.“ Dann erklärte sie der jungen Frau sanft, mit vorsichtig gewählten Worten, dass sie Jens Holtmann tot in der Firma gefunden hatte.
Tränen glitzerten in Mimis Augen. Doch dann schimpfte sie los: „Ich wollte sowieso nur meine Sachen abholen. Der Idiot hat gestern mit mir Schluss gemacht.“ Aufgebracht schwang sie sich wieder auf ihr Rad und fuhr weiter.
Uschi blieb mit ihren Gedanken alleine zurück. Also doch ein Mord aus Leidenschaft? Aber Mimi gehörte nicht zur Firma. Sie hätte natürlich jederzeit, solange der Empfang besetzt war, ins Gebäude gekonnt. Und wenn Holtmann sie abgeholt hätte, wäre sie auch in den Keller gelangt. Blieb nur noch offen, wer von beiden einen Schlüssel für den Serviceraum hatte – und was sie da wollten.

Nachdenklich betrat Uschi ihr kleines Reihenhaus. Wenn Holtmann schon wieder eine Neue hatte, könnte Eifersucht sehr wohl das Motiv sein. Oder hatte er seine Neue jemand anderem ausgespannt? Auch das führte eventuell zu Eifersucht. Doch wieso war er dann in der Firma gestorben? Wäre es in seiner Wohnung nicht einfacher gewesen? Sie ließ ihre Schlüssel auf der Kommode im Flur fallen, stellte ihre Tasche auf dem Boden vor der Garderobe ab und ging in die Küche. Wilfried schaute erstaunt von seinem Abendbrot auf. „Schon zurück?“
Sie hatte ihn schlafend auf der Couch vermutet, wie gewöhnlich. Aber dafür war es noch zu früh. Unschlüssig stand sie vorm Esstisch und betrachtet sein Leberwurstbrot mit den kleinen Gürkchen, das er sich geschmiert hatte. Dann erzählte sie ihm von dem grausigen Fund der Leiche. Ihrem Mann schien es den Appetit zu verderben. Seine Hand, die gerade noch eine Schnitte zum Mund führen wollte, sank zurück auf den Tisch. „Tot? Jens Holtmann?“ fragte er fassungslos. „Unser IT-Spezialist?“
In der Produktion hatte Wilfried gelegentlich auch mit Holtmann zu tun, wenn die Programme der empfindlichen Maschinen nicht richtig liefen oder sein PC Aussetzer hatte. „Du hast damit doch nichts zu tun? Oder ?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Wolltest du nicht letztens erst morden? Für deinen dummen Roman?“
„Das geht jetzt aber zu weit!“, empörte sich Uschi.
„Wenn dir jemand in die Quere kommt, kannst du ganz schön biestig werden.“
Eigentlich war es eher eine Feststellung ihres Mannes als ein Vorwurf. Aber sie war aufgebracht. „An deiner Stelle würde ich aufpassen. Sonst werde ich noch biestig zu dir!“
Zornig marschierte sie ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch plumpsen. So eine Frechheit! Wie konnte Wilfried nur ernsthaft annehmen, dass sie Holtmann ermordet hatte?
Doch er folgte ihr. „Tut mir leid“, schlug er einen besänftigenden Ton an. „Das war sicher hart für dich.“
Als sie nicht reagierte, meinte er: „Hast du denn wenigstens einen netten Kommissar getroffen?“
Uschi starrte immer noch sauer vor sich hin. Dann musste sie an Weinrich denken, wie er vor ihr gestanden hatte, groß, schlaksig und mit Bart. Der würde sich sicher nicht schlecht machen in ihrem Roman. Nur etwas freundlicher müsste er sein. „Da ist einer extra aus Münster gekommen, um unsere Kreispolizei zu unterstützen“, antwortete sie brummig. „So offensichtlich ist der Fall wohl nicht.“
Wilfried setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Dann kannst du ihm ja bei der Arbeit zusehen. – Tut dir Holtmann wenigstens etwas leid?“
„Ja, sicher. Denkst du, ich wollte wirklich seinen Tod? Auf Papier ist das doch ganz was anderes. Ich hoffe, dass sie den Täter schnell finden.“ Ihr Ärger war mit einem Mal verraucht. Die ganze Sache hatte ihr mehr zugesetzt, als sie sich eingestehen wollte. Müde lehnte sie sich an ihn.
„Sie werden sicher ihr Bestes tun“, versuchte er sie aufzumuntern.
 



 
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