Monster aus dem Riss

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lietzensee

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Monster aus dem Riss​

"Ein Riss in der Wand", sagte er laut zu sich selbst. Da war ein kleiner Riss in der Wand und er fürchtete, dass das kleine Ding größer wurde. Dies ließ ihm keine Ruhe. Die Stelle war schlecht einzusehen, nah an der Wohnzimmerecke und verdeckt von seiner alten Couch. Er musste also die Couch gegen den Tisch schieben und sich zwischen Kommode und Stehlampe hindurchquetschen, bis er im Halbdunkel den Riss untersuchen konnte.
Argwöhnisch zogen seine Fingerkuppen die Ränder nach, sie klafften vielleicht drei Zentimeter, vielleicht auch nur zwei. Er wusste, dass solche Risse nicht ungewöhnlich waren, wenn Häuser alt und Wände feucht wurden. Aber jeder Riss erinnerte ihn an die längst abgerissene Plattenbauwohnung seiner Eltern. Dort hatte man den Flauschteppich nur an der richtigen Stelle anheben müssen, um ins darunter liegende Wohnzimmer von Frau Martens zu sehen. Immer wieder war er dieser Versuchung erlegen und immer wieder hatte die Alte den Blick von unten sofort mit hervorquellenden Augen erwidert. Sie hatte mit obszöner Geste gedroht und war die Treppe hoch gehumpelt. Seit dem hasste er Risse in Gebäuden.
Eine besondere Widerlichkeit dieses Risses jetzt war, dass aus ihm Tentakel kamen, dünne Gebilde, glatt und schleimig, mit Muskeln und ohne Knochen. Gestern hatte er sie über der Couchlehne aufsteigen sehen, als er um Mitternacht allein im Zimmer saß. War es nicht widerlich, wenn man daheim einen Erwachsenenfilm sah und über der eigenen Couch Würmer zu tanzen begannen? Er hatte Fotos von den Tentakeln gemacht. Doch alle waren verschwommen, zu dunkel oder viel zu hell.
Er beugte sich zurück, soweit die Lehne der Couch es ihn erlaubte und tastete die Öffnung mit der Hand ab. Langsam zwängte er seinen Zeigefinger hinein. Er konnte nicht wissen, was auf der anderen Seite lag. Doch fühlte er, dass sich dort nicht einfach das Schlafzimmer seines Nachbarn Schneiders befand. Dieser Riss ging tief, viel tiefer als Euklids Geometrie je zugestanden hätte. Fremde Luft strömte ihm daraus entgegen. Er spürte etwas an seiner Fingerspitze – und zuckte zurück. Dumpfer Schmerz, als sein Kopf gegen den Couchrahmen stieß. Er starrte auf die nahe Wand. Das Tapetenmuster verschwamm vor seinen Augen und jetzt schien es ihm deutlich, dass der Riss größer geworden war.
Später am Abend leerte er eine Flasche Wein. Im Fernsehen flackerte eine Wiederholung von Berge des Wahnsinns. Er lag im Sessel, knirschte mit den Zähnen und sah über seiner Couch erneut ein Tentakel aufsteigen. Die Haut glänzte feucht. Ein muskulöser Schlauch, der sich in schwankender Bewegung über dem Polster hielt. Kein Auge war daran zu erkennen, keine Ohren oder Tasthaare – und doch schien das Tentakel sein Wohnzimmer zu untersuchen. Auf seiner feuchten Haut mussten Geruchsrezeptoren sitzen. Er sah mit Ekel auf das schwankende Etwas. Dann beugte er sich vor. Das Tentakel hielt inne. Es krümmte sich leicht zu ihm hin. Ob es den Dunst seines Pullovers riechen konnte? Hinter der Couch wagte sich ein weiteres Tentakel hervor.
"Zwei Tentakel", sagte er laut, als würde ihn dies zu einer Entscheidung zwingen. Er sprang. Couchtisch und leere Flaschen flogen zur Seite, als er versuchte, die beiden Dinger zu greifen. Gleichzeitig schauderte er, wie es sein würde, ihre feuchten Oberflächen zu berühren. Die Tentakel aber waren schnell. Geschickter als jede Fliege an der Wand wichen sie seinem vorschnellenden Körper aus. Sein Kopf schlug hart auf. Hinter der Couch sackte er zusammen und sah, wie viel breiter der Riss in der Wand geworden war. Er schlug mit der Faust gegen die Tapete. Ein Klopfsignal, das Nachbar Schneider umgehend aus seiner Wohnung beantwortete. Ob er einfach über den Riss tapezieren konnte? Drüber betonieren? Die ganze verdammte Wand mit Stahl abdecken? Er rieb seinen schmerzenden Kopf. Dann ging er in die Küche. Seine Hände klirrten in der Besteckschublade.
Als die Tentakel das nächste Mal wieder kamen, war er vorbereitet. Eine fast volle Flasche Wein griffbereit, späte er, was die schleimigen Eindringlinge hinter seiner Couch trieben. Erst erhob sich nur ein Ding und schien sich schwankend im Raum umzutun. Direkt daneben erhob sich dann ein Zweites und daneben folgte ein drittes Tentakel, das nur eine nervöse Spitze über die Couchlehne streckte. Nun, jede Spitze war eine zu viel. Er nahm einen großen Schluck Wein und spannte seinen Körper. Dies war seine Wohnung, sein Rückzugsort und der Gedanke an Eindringlinge widerlich. Er sprang und mit der Konzentration eines geübten Trinkers umklammerte er dabei das Küchenmesser.
Er hieb. Gelber Schleim spritzte auf. Die Klinge zerfurchte die Tapete und seine freie Hand versuchte, eines der glitschigen Dinger zu fassen. Er jubelte, als die Spitze eines geköpften Tentakels auf dem Teppich zuckte. Er schrie, als er merkte, wie sich muskulöse Wülste um seine Beine, Bauch und Hals zu schlingen begannen. Etwas presste ihn gegen die Tapete. "Mach doch leiser!", hörte er noch den Nachbarn von der anderen Seite der Wand rufen.
Er schlug. Er biss. Er warf sich nach allen Seiten, um der Umklammerung zu entfliehen. Ein letzter Stoß, ein falscher Tritt und sein Herz verkrampfte. Plötzlich war der Riss riesig und er war hinein gestürzt.
Dann würgte fremde Luft in seiner Kehle. Zuerst konnte er nichts sehen, doch als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, war der Anblick kaum zu ertragen. Durch die verstörende Geometrie eines fremden Raumes wanden sich unzählige Tentakel. An mehreren Stellen verdickten sie sich zu Knäulen, aus deren Windungen lidlose Augen starrten. Einzig vertrauter Ruhepunkt für seinen Blick war eine leere Weinflasche auf dem Boden. Die Tentakel hatten sie wohl aus Neugier unter dem Sofa hervor und durch den Riss gezogen. Schleimspuren verrieten, dass sie die Flaschenöffnung untersucht hatten. Der gärige Rest am Boden musste ihnen als abstoßendes Geheimnis erscheinen. Direkt vor ihm richtete sich der gelb blutende Stumpf eines Tentakels auf. Den hatte er mit seinem Messer geschnitten und plötzlich begriff er. All die Augen blickten ängstlich auf ihn. Er war das Monster aus dem Riss ihrer Wand.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber Lietzensee,
wie so viele andere habe ich Deine Geschichte gerne gelesen.
Da ich noch nie Horror gelesen oder gesehen hatte, war es etwas hinter meinen Erwartungen geblieben.
Aber dennoch spannend geschrieben.

Liebe Grüße
S.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Stadtgeflüster,
vielen Dank für deine Antwort! Es freut mich, dass ich dich in die Horror-Rubrik locken konnte. In welcher Hinsicht hattest du mehr Erwartungen? Hat dir beim Plot etwas gefehlt? War dir das Ende zu offen?

Viele Grüße
lietzensee
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lieber lietzensee,
also das Genre "Horror" lockte mich nicht, es war eher Dein Name und das, was ich vorher gelesen hatte.
Ich versuche es mal kurz zu beschreiben..
Einige Beschreibungen waren mir, und das ist ja meine Empfindung, ungewollt komisch herübergekommen.
Da fehlte mir in der Tat etwas die Spannung.
Aber dennoch habe ich es sehr gerne gelesen.
Mit Spannung erwarte ich Deinen nächsten "Horror".
Liebe Grüße
S.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Stadtgeflüster,
vielen Dank für deine Erklärung. Ich verstehe jetzt, was dich hier stört. Den Text habe ich deutlich üppiger als sonst geschrieben. Adjektive werden auf Adjektive gehäuft und alles ist schleimig und eklig. Das wirkt schnell übertrieben und dadurch dann lächerlich.
Bei Horror mag ich diese Art manchmal. Ich habe mich an den Stil von Lovecraft angelehnt, darum auch die Anspielung auf Berge des Wahnsinns / At the Mountains of Madness. Dass einige der Beschreibungen etwas unanständig klingen, ist übrigens gewollt.

Viele Grüße
lietzensee
 
G

Gelöschtes Mitglied 27550

Gast
Lovecraft kenne ich durch meine family aus den USA. einige lesen ihn gerne...
ich selbst bevorzuge E.A. Poe....ist aber für mich auch nicht wirklich "horror",
die realität birgt größeren "grusel":D
Jedenfalls ist die Story wirklich spannend...und lovekraft bestellt!

LG S.
 

d-m

Mitglied
Hallo lietzensee,

"Ein Riss in der Wand", sagte er laut zu sich selbst. Da war ein kleiner Riss in der Wand und er fürchtete, dass der kleine Riss größer wurde. Das ließ ihm keine Ruhe. Der Riss war schlecht einzusehen, nah an der Wohnzimmerecke und verdeckt von seiner alten Couch. Er musste also die Couch gegen den Tisch schieben und sich zwischen Kommode und Stehlampe hindurchquetschen, bis er im Halbdunkel den Riss untersuchen konnte.
Argwöhnisch zogen seine Fingerkuppen die Ränder nach. Vielleicht zwei Zentimeter breit, es fühlte sich an wie ein ganz normaler Riss. Er wusste auch, dass solche Risse nicht ungewöhnlich waren, wenn Häuser alt und Wände feucht wurden. Aber jeder Riss erinnerte ihn an die längst abgerissene Plattenbauwohnung seiner Eltern.
9x das Wort 'Riss' (10x mit dem Titel), das finde ich zu viel. Klar, die Geschichte dreht sich um diesen Riss, aber ich habe da sehr schnell einen Abnützungseffekt. Ich würde das vielleicht ein wenig anders aufziehen, geheimnisvoller, also vielleicht so, dass der Prota da zuerst etwas in der Ecke bemerkt und sich fragt, was das ist und er dann nachsehen geht und erst am Schluss dieser Passage bemerkt: Ah, ein Riss in der Wand. So wirkt das mit dem Riss doch sehr aufs Auge des Lesers gedrückt.

Dort hatte man den Flauschteppich nur an der richtigen Stelle anheben müssen, um ins darunter liegende Wohnzimmer von Frau Martens zu sehen.
Das muss aber ein grosser Riss bzw. ein ziemliches Loch im Fussboden sein. Kann der Prota da überhaupt noch wohnen? Scheint ja sehr baufällig zu sein, dieses Haus. Hat er nicht Angst, dass der Boden durchbricht?

Eine besondere Widerlichkeit dieses Risses jetzt war, dass aus ihm Tentakel kamen, dünne Gebilde, glatt und schleimig, mit Muskeln und ohne Knochen. Gestern hatte er sie über der Couchlehne aufsteigen sehen, als er um Mitternacht allein im Zimmer saß. War es nicht widerlich, wenn man daheim einen Erwachsenenfilm sah und über der eigenen Couch Würmer zu tanzen begannen? Er hatte Fotos von den Tentakeln gemacht. Doch alle waren verschwommen, zu dunkel oder viel zu hell.
Ich finde es cool, dass Du diese Tentakel aus der Wand einfach so ohne weiteres einführst, als wäre das irgendwie normal und gar nicht seltsam oder beunruhigend. Aber Du schreibst erst von Tentakeln und dann von Würmern, das passt für mich nicht zusammen. Ausserdem gibt das mit dem Erwachsenenfilm und den tanzenden Würmern der Geschichte einen humoristischen Touch. Ich nehme an, das ist gewollt.

Er konnte nicht wissen, was auf der anderen Seite lag.
Würde ich streichen oder anders formulieren, dass ist ja zu 100% der Autor, der das behauptet, nicht die Figur.

Doch fühlte er, dass sich dort nicht einfach das Schlafzimmer seines Nachbarn Schneiders befand.
Dann weiss er also doch, was sich dahinter befindet bzw. befinden müsste??

Fremde Luft zog aus dem Riss heraus.
Was ist denn fremde Luft? Darunter kann ich mir nix vorstellen. Das müsste genauer, spezifischer sein. Was ist denn fremd an dieser Luft? Ich nehme an, die riecht irgendwie seltsam?

Ein muskulöser Schlauch, der sich in schwankender Bewegung über dem Polster hielt. Kein Auge war daran zu erkennen, keine Ohren oder Tasthaare- und doch schien das Tentakel sein Wohnzimmer zu untersuchen. Auf seiner feuchten Haut mussten Geruchsrezeptoren sitzen.
Haben den Tentakeln normalerweise Augen oder Ohren? ;-) Mir ist das bis hierhin zu viel Beschreibung, dass der Tentakel das Wohnzimmer untersucht, ist nur eine Behauptung, das müsstest Du zeigen, damit der Leser von selbst darauf kommt.

Liest sich seltsam. Er sprang auf, oder sowas vielleicht.

Noch im Flug schauderte er, wie es sein würde, ihre feuchten Oberflächen zu berühren.
Nee, das kaufe ich nicht, dass das gleichzeitig passiert. Wie weit springt der Prota? Zwanzig Meter?

Klopfsignal, nehme ich an.

Ob er einfach über den Riss tapezieren konnte?
Die Tentakel sind muskulöse Schläuche, überlegt er sich da tatsächlich, ob eine Tapete stark genug ist, die zurückzuhalten?

Seine Hände klirrten in der Besteckschublade und griffen die nächste Flasche.
Verstehe ich nicht. Bewahrt er Flaschen in der Besteckschublade auf?

Eine fast volle Flasche Wein griffbereit, späte er
spähte mit 'h'

Dies war seine Wohnung, sein Rückzugsort und der Gedanke an Eindringlinge widerlich.
Hast Du oft genug erwähnt ... Dass weiss der Leser bereits. Ich würde solche Dinge komplett rausnehmen und es den Text selbst zeigen lassen, dass sich der Leser während der Lektüre denkt: Boah, ist das widerlich! So ist das alles getellt und es reisst mich nicht mit.

Er sprang und mit der Konzentration eines geübten Trinkers umklammerte er dabei das Küchenmesser.
Da fehlt was in dem Satz, der geht nicht auf. Dann auch: Springen mit der Konzentration eines geübten Trinkers?? Was ist denn das? Ein Trinker ist doch eher unkoordiniert.

Er schrie, als er merkte, wie sich muskulöse Wülste um seine Beine, Bauch und Hals zu schlingen begannen.
Wülste ist was ganz anderes als Tentakel.

Dann wurde sein Körper zusammengepresst, gequetscht und gezerrt.
Zusammenpressen und quetschen ist synonym, aber zerren passt da nicht recht rein und ich verstehe nicht ganz, was da geschieht. Ist der Prota aus Gummi, dass ihn die Tentakel einfach so pressen und quetschen können? Es liest sich für mich beinahe so.

Fremde Luft würgte in seiner Kehle.
Wieder die fremde Luft.

Dann gewöhnten sich seine Augen so an das Zwielicht, dass er sich auf die Zunge biss, um den Anblick ertragen zu können.
Wenn man sich auf die Zunge beisst, reisst man die Augen doch eher auf (vor Schmerzen)? Ich kapiere die Stelle nicht. Wieso beisst er sich extra auf die Zunge?

Unzählige Tentakel wanden sich durch die verstörende Geometrie eines fremden Raumes.
Wie sieht die denn aus, diese Geometrie? Das ist mir zu einfach.

An mehreren Stellen verdickten sich die Tentakel zu Knäulen
Knäueln

Die Tentakel hatten sie wohl aus Neugier unter dem Sofa hervor und durch den Spalt gezogen.
Würde ich streichen, das tut doch nichts zur Sache. Ausserdem wird es danach sowieso klar.

All die Augen blickten ängstlich auf ihn. Er war das Monster aus dem Riss ihrer Wand.
Woran macht er fest, dass die Tentakel ängstlich sind? Wieso ist er, der Prota, das Monster aus der Wand?

Soweit mein Leseeindruck. Meiner Meinung nach schöpft die Geschichte ihr Potential längst nicht aus.

Beste Grüsse
d-m
 

lietzensee

Mitglied
Hallo d-m,
vielen Dank, dass du den Text so genau abgeklopft hast! Das ist wirklich eine ganz andere Perspektive darauf. Wie es immer ist, einiges kann ich nachvollziehen, anderes nicht. Ich werde auf alle Punkte eingehen und hoffe, dass ich keinen vergesse. Für die gefunden Rechtschreibfehler schon mal gesammelt vielen Dank. Das Spähen hätte sein H nicht verlieren sollen.

9x das Wort 'Riss' (10x mit dem Titel), das finde ich zu viel. Klar, die Geschichte dreht sich um diesen Riss, aber ich habe da sehr schnell einen Abnützungseffekt. Ich würde das vielleicht ein wenig anders aufziehen, geheimnisvoller, also vielleicht so, dass der Prota da zuerst etwas in der Ecke bemerkt und sich fragt, was das ist und er dann nachsehen geht und erst am Schluss dieser Passage bemerkt: Ah, ein Riss in der Wand. So wirkt das mit dem Riss doch sehr aufs Auge des Lesers gedrückt.
Wenn ich noch mal mit Abstand lese, hast du Recht. Es stört wirklich etwas, dass der Riss im ersten Absatz so häufig genannt wird. In dem Text geht es mir vor allem um die verstörten Gedanken des Protagonisten. Darum dieser Einstieg, in dem seine Gedanken immer wieder um den Riss kreisen.

Das muss aber ein grosser Riss bzw. ein ziemliches Loch im Fussboden sein. Kann der Prota da überhaupt noch wohnen? Scheint ja sehr baufällig zu sein, dieses Haus. Hat er nicht Angst, dass der Boden durchbricht?
Jup, es war ein großer Riss (Aber eher ein Spalt an der Teppichleiste, kein Loch. Plattenbauten wurden ja wie Legosteine zusammengefügt) Mir hat mal jemand erzählt, dass seine Wohnung so einen Riss gehabt hatte. Muss nicht stimmen, aber ich halte es für denkbar. Baufälligkeit war im Osten auch kein Grund, gleich auszuziehen.

Ich finde es cool, dass Du diese Tentakel aus der Wand einfach so ohne weiteres einführst, als wäre das irgendwie normal und gar nicht seltsam oder beunruhigend. Aber Du schreibst erst von Tentakeln und dann von Würmern, das passt für mich nicht zusammen. Ausserdem gibt das mit dem Erwachsenenfilm und den tanzenden Würmern der Geschichte einen humoristischen Touch. Ich nehme an, das ist gewollt.
Freut mich, dass es dir gefällt.
Ich sehe kein Problem damit, dass dem Prot ein Tentakel im übertragenen Sinne als Wurm erscheint. Der Humor ist gewollt. Eigentlich hatte ich auch
darauf gezielt, Riss und Tentakel manchmal anzüglich wirken zu lassen. Schade, dass dazu keine Anmerkungen kamen ;-)

Würde ich streichen oder anders formulieren, dass ist ja zu 100% der Autor, der das behauptet, nicht die Figur.
Warum soll die Behauptung nicht von der Figur stammen? Es macht ihm Angst, dass er nicht weiß, was auf der anderen Seite liegt. Den Gedanken finde ich in der Situation sehr naheliegend.

Dann weiss er also doch, was sich dahinter befindet bzw. befinden müsste??
Auf diesen Unterschied wollte ich hinaus. Er weiß, was eigentlich dahinter liegen müsste. Aber die Tentakel machen seine Gewissheit kaputt. Aus dieser Dissonanz wollte ich etwas Horror saugen.

Was ist denn fremde Luft? Darunter kann ich mir nix vorstellen. Das müsste genauer, spezifischer sein. Was ist denn fremd an dieser Luft? Ich nehme an, die riecht irgendwie seltsam?
Stimmt, hätte man auch noch genauer ausmalen können.

Liest sich seltsam. Er sprang auf, oder sowas vielleicht.
Wer aufspringt, bewegt sich nach oben. Er aber springt nach vorne.

Haben den Tentakeln normalerweise Augen oder Ohren? ;-) Mir ist das bis hierhin zu viel Beschreibung, dass der Tentakel das Wohnzimmer untersucht, ist nur eine Behauptung, das müsstest Du zeigen, damit der Leser von selbst darauf kommt.
Braucht man normalerweise nicht Sinnesorgane, um etwas zu untersuchen? ;-) Und was wären "normale" Tentakel, mit denen man in dieser Situation sinnvoll vergleichen könnte?
Es ist auch keine Behauptung, sondern der Eindruck des Protagonisten. Wie oben schon beschrieben, es geht mir vor allem darum, was in seinem Kopf passiert. Da ich schreibe "schien zu untersuchen", denke ich auch, dass die Subjektivität für den Leser klar sein sollte.

Verstehe ich nicht. Bewahrt er Flaschen in der Besteckschublade auf?
Erst klirrt er in der Besteckschublade (um das Messer zu greifen). Dann nimmt er die Flasche. Aber ja, die Formulierung ist sicher verwirrend.

Die Tentakel sind muskulöse Schläuche, überlegt er sich da tatsächlich, ob eine Tapete stark genug ist, die zurückzuhalten?
Dass der erste Gedanke manchmal nicht gleich der Beste ist, halte ich für realistisch. Seine Überlegungen gehen ja auch schnell zu Stahlplatten und Beton über.

Hast Du oft genug erwähnt ... Dass weiss der Leser bereits. Ich würde solche Dinge komplett rausnehmen und es den Text selbst zeigen lassen, dass sich der Leser während der Lektüre denkt: Boah, ist das widerlich! So ist das alles getellt und es reisst mich nicht mit.
Dass er sich so in seiner Privatsphäre verletzt fühlt, halte ich für eine wichtige Charakterisierung des Prot.

Da fehlt was in dem Satz, der geht nicht auf. Dann auch: Springen mit der Konzentration eines geübten Trinkers?? Was ist denn das? Ein Trinker ist doch eher unkoordiniert.
Hast du nie gesehen, wie sich ein Betrunkener konzentrieren muss, um mit dem Schlüssel seine Tür aufzuschließen?

Wülste ist was ganz anderes als Tentakel.
Die Tentakel umwickeln seine Glieder. Ich denke, dass ihm das auch als Wülste erscheinen kann.

Zusammenpressen und quetschen ist synonym, aber zerren passt da nicht recht rein und ich verstehe nicht ganz, was da geschieht. Ist der Prota aus Gummi, dass ihn die Tentakel einfach so pressen und quetschen können? Es liest sich für mich beinahe so.
Optisch hatte ich das das Bild einer Würgeschlange mit ihrem Opfer vor Augen. Aber ja, Zusammenpressen und Quetschen beschreiben eigentlich das Gleiche.

Wenn man sich auf die Zunge beisst, reisst man die Augen doch eher auf (vor Schmerzen)? Ich kapiere die Stelle nicht. Wieso beisst er sich extra auf die Zunge?
Ich halte es für realistisch, dass man sich bewusst Schmerz zufügt, um sich von einer Extremsituation abzulenken.

Wie sieht die denn aus, diese Geometrie? Das ist mir zu einfach.
Die fremde Geometrie ist auch eine Anspielung auf Lovecraft. Das ist eine seiner Floskeln, die gerne parodiert wird.

Würde ich streichen, das tut doch nichts zur Sache. Ausserdem wird es danach sowieso klar.
Das führt gerade zum Knackpunkt der Geschichte. Den Tentakeln wird Neugier zugeschrieben. Das ist eine menschliche Emotion. Es bereitet vor, dass er sich zum Schluss in die Tentakel hineinversetzt.

Woran macht er fest, dass die Tentakel ängstlich sind? Wieso ist er, der Prota, das Monster aus der Wand?
Ihre Angst macht er an dem Blick der Augen fest. Das steht eigentlich genau so im Text. Augen können Emotionen ausdrücken.
Und der Protagonist ist dann das Monster aus der Wand, wenn man die Perspektive der Tentakel einnimmt. Für sie ist es ein Riss in ihrer Wand. Aus dem Riss kommt ein zweiäugiger Freak, der sie mit einem Messer verstümmelt. Auch hier geht es mir wieder um die Innenperspektive des Prot. Zum Schluss entwickelt er tatsächlich Empathie.

Ich hoffe, das konnte dir zumindest einiges klarer machen. Der Text hat dich wohl vor allem dabei nicht abgeholt, dass hier kein allwissender Erzähler berichtet. Ich will im Kopf des Protagonisten bleiben und in diesem Kopf ist einiges auch wirr.

Viele Grüße
lietzensee
 

Tonmaler

Mitglied
Hio --

zunächst mal: Die Idee ist richtig gut. Die Wendung am Ende, dass nun eigentlich er der Eindringling ist (und die anderen ihn als Monster fürchten). Das hat sogar eine sozialpsychologische Komponente!
Nur, so wie du es geschrieben hast, stimmt es nicht ganz. Denn dann müsste er ja den Riss entdecken, allmählich erweitern und seinerseits mehr ins Drüben eindringen als die 'anderen' in sein Hüben. Und schließlich sollten sie ihn nicht packen und hinüberziehen, sondern abzuwehren versuchen. Ich denke, es geht, die Tentakel trotzdem als Eindringlinge in seine Welt erscheinen zu lassen.
Die Lakonie des Protagonisten gefällt mir gut, das erinnert mich ein wenig an Kafka, der die irrsinnigsten Erfahrungen rational betrachtet (zum Beispiel im eigenen Kleiderschrank mit einem Mal auf und ab springende Tischtennisbälle zu entdecken, die dann herauskommen und den Protagonisten verfolgen).
Die Erwähnung Lovecrafts war mir allerdings zu viel des Guten.
Sprachlich könntest du auch noch die Feile ansetzen, um deine feine Idee zu einer gelungenen Skulptur zu formen. Das lohnt sich auf jeden Fall.


Konkret:
Ein Kopfsignal, das Nachbar Schneider umgehend aus seiner Wohnung beantwortete.
Vermutlich KLopfsignal, oder? -- Gefällt mir übrigens gut, auch der Nachbar reagiert lakonisch. Das ist wirklich gut gemacht, weil der Leser die Panik übernehmen will, die sich bei den Figuren im Text nicht einstellt.

"Ein Riss in der Wand", sagte er laut zu sich selbst. Da war ein kleiner Riss in der Wand und er fürchtete, dass der kleine Riss größer wurde. Das ließ ihm keine Ruhe. Der Riss war schlecht einzusehen, nah an der Wohnzimmerecke und verdeckt von seiner alten Couch. Er musste also die Couch gegen den Tisch schieben und sich zwischen Kommode und Stehlampe hindurchquetschen, bis er im Halbdunkel den Riss untersuchen konnte.
Argwöhnisch zogen seine Fingerkuppen die Ränder nach. Vielleicht zwei Zentimeter breit, es fühlte sich an wie ein ganz normaler Riss. Er wusste auch, dass solche Risse nicht ungewöhnlich waren, wenn Häuser alt und Wände feucht wurden. Aber jeder Riss erinnerte ihn an die längst abgerissene Plattenbauwohnung seiner Eltern. Dort hatte man den Flauschteppich nur an der richtigen Stelle anheben müssen, um ins darunter liegende Wohnzimmer von Frau Martens zu sehen. Immer wieder war er dieser Versuchung erlegen und immer wieder hatte die Alte den Blick von unten sofort mit hervorquellenden Augen erwidert. Sie hatte mit obszöner Geste gedroht und war die Treppe hoch gehumpelt. Seit dem hasste er Risse in Gebäuden.
Eine besondere Widerlichkeit dieses Risses jetzt war, dass aus ihm Tentakel kamen, dünne Gebilde, glatt und schleimig, mit Muskeln und ohne Knochen.
Hier aber ein Overkill des Wortes 'Riss' auf zu engem Raum.
<>
Unbedingt das Ding noch mal überarbeiten, das könnte eine herrliche Sache werden.

Gruß
T.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Tonmaler,
vielen Dank für deine Antwort und das kritische Hinterfragen. Freut mich, dass dir die Idee gefällt. Ja, mit Abstand gelesen, wird "Riss" eindeutig zu viel genannt. Das Kopfsignal, obwohl ein schönes Wort, ist natürlich auch ein Fehler.

Da die Geschichte schon eine Weile her ist, kann ich mich nicht mehr so leicht in sie eindenken. Trotzdem versuche ich mal eine Antwort:
Nur, so wie du es geschrieben hast, stimmt es nicht ganz. Denn dann müsste er ja den Riss entdecken, allmählich erweitern und seinerseits mehr ins Drüben eindringen als die 'anderen' in sein Hüben. Und schließlich sollten sie ihn nicht packen und hinüberziehen, sondern abzuwehren versuchen. Ich denke, es geht, die Tentakel trotzdem als Eindringlinge in seine Welt erscheinen zu lassen.
Ich verstehe was du meinst. Ich finde aber nicht, dass dadurch die Logik bricht. Seine äußere Erscheinung ist für die Tentakeln fremd. Da er mit seinem Messer als erster Gewalt anwendet, ist er eindeutig gefährlich. Ich denke das ist Grund genug für sie, ihn als Monster zu sehen. Dann ist der Schritt zur "Vorwärtsverteidigung" für sie nicht weit.
Wer wirklich Schuld an der Konfrontation ist, wollte ich im Graubereich lassen. Sicher könnte man ihn auch als entschlossenen Drachentöter darstellen, der das Biest in seine Höhle verfolgt und sich dabei übernimmt. Meine Stoßrichtung war aber eher, dass jede Seite einfach Angst vor dem Fremden hat.

Um die Ambivalenz noch mehr raus zu streichen, könnte ich an diesen Satz noch mal drehen. Ich werde drüber nachdenken.
Sein Herz verkrampfte, als er begriff, dass die Tentakel ihn durch den Riss hindurch gezogen hatten.
Viele Grüße
lietzensee
 

lietzensee

Mitglied
Edit: Nach so langer Zeit komme ich in den Text nur noch schwer rein. Aber ich habe den Text noch mal etwas überarbeitet.
 



 
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