lietzensee
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Monster aus dem Riss
"Ein Riss in der Wand", sagte er laut zu sich selbst. Da war ein kleiner Riss in der Wand und er fürchtete, dass das kleine Ding größer wurde. Dies ließ ihm keine Ruhe. Die Stelle war schlecht einzusehen, nah an der Wohnzimmerecke und verdeckt von seiner alten Couch. Er musste also die Couch gegen den Tisch schieben und sich zwischen Kommode und Stehlampe hindurchquetschen, bis er im Halbdunkel den Riss untersuchen konnte.
Argwöhnisch zogen seine Fingerkuppen die Ränder nach, sie klafften vielleicht drei Zentimeter, vielleicht auch nur zwei. Er wusste, dass solche Risse nicht ungewöhnlich waren, wenn Häuser alt und Wände feucht wurden. Aber jeder Riss erinnerte ihn an die längst abgerissene Plattenbauwohnung seiner Eltern. Dort hatte man den Flauschteppich nur an der richtigen Stelle anheben müssen, um ins darunter liegende Wohnzimmer von Frau Martens zu sehen. Immer wieder war er dieser Versuchung erlegen und immer wieder hatte die Alte den Blick von unten sofort mit hervorquellenden Augen erwidert. Sie hatte mit obszöner Geste gedroht und war die Treppe hoch gehumpelt. Seit dem hasste er Risse in Gebäuden.
Eine besondere Widerlichkeit dieses Risses jetzt war, dass aus ihm Tentakel kamen, dünne Gebilde, glatt und schleimig, mit Muskeln und ohne Knochen. Gestern hatte er sie über der Couchlehne aufsteigen sehen, als er um Mitternacht allein im Zimmer saß. War es nicht widerlich, wenn man daheim einen Erwachsenenfilm sah und über der eigenen Couch Würmer zu tanzen begannen? Er hatte Fotos von den Tentakeln gemacht. Doch alle waren verschwommen, zu dunkel oder viel zu hell.
Er beugte sich zurück, soweit die Lehne der Couch es ihn erlaubte und tastete die Öffnung mit der Hand ab. Langsam zwängte er seinen Zeigefinger hinein. Er konnte nicht wissen, was auf der anderen Seite lag. Doch fühlte er, dass sich dort nicht einfach das Schlafzimmer seines Nachbarn Schneiders befand. Dieser Riss ging tief, viel tiefer als Euklids Geometrie je zugestanden hätte. Fremde Luft strömte ihm daraus entgegen. Er spürte etwas an seiner Fingerspitze – und zuckte zurück. Dumpfer Schmerz, als sein Kopf gegen den Couchrahmen stieß. Er starrte auf die nahe Wand. Das Tapetenmuster verschwamm vor seinen Augen und jetzt schien es ihm deutlich, dass der Riss größer geworden war.
Später am Abend leerte er eine Flasche Wein. Im Fernsehen flackerte eine Wiederholung von Berge des Wahnsinns. Er lag im Sessel, knirschte mit den Zähnen und sah über seiner Couch erneut ein Tentakel aufsteigen. Die Haut glänzte feucht. Ein muskulöser Schlauch, der sich in schwankender Bewegung über dem Polster hielt. Kein Auge war daran zu erkennen, keine Ohren oder Tasthaare – und doch schien das Tentakel sein Wohnzimmer zu untersuchen. Auf seiner feuchten Haut mussten Geruchsrezeptoren sitzen. Er sah mit Ekel auf das schwankende Etwas. Dann beugte er sich vor. Das Tentakel hielt inne. Es krümmte sich leicht zu ihm hin. Ob es den Dunst seines Pullovers riechen konnte? Hinter der Couch wagte sich ein weiteres Tentakel hervor.
"Zwei Tentakel", sagte er laut, als würde ihn dies zu einer Entscheidung zwingen. Er sprang. Couchtisch und leere Flaschen flogen zur Seite, als er versuchte, die beiden Dinger zu greifen. Gleichzeitig schauderte er, wie es sein würde, ihre feuchten Oberflächen zu berühren. Die Tentakel aber waren schnell. Geschickter als jede Fliege an der Wand wichen sie seinem vorschnellenden Körper aus. Sein Kopf schlug hart auf. Hinter der Couch sackte er zusammen und sah, wie viel breiter der Riss in der Wand geworden war. Er schlug mit der Faust gegen die Tapete. Ein Klopfsignal, das Nachbar Schneider umgehend aus seiner Wohnung beantwortete. Ob er einfach über den Riss tapezieren konnte? Drüber betonieren? Die ganze verdammte Wand mit Stahl abdecken? Er rieb seinen schmerzenden Kopf. Dann ging er in die Küche. Seine Hände klirrten in der Besteckschublade.
Als die Tentakel das nächste Mal wieder kamen, war er vorbereitet. Eine fast volle Flasche Wein griffbereit, späte er, was die schleimigen Eindringlinge hinter seiner Couch trieben. Erst erhob sich nur ein Ding und schien sich schwankend im Raum umzutun. Direkt daneben erhob sich dann ein Zweites und daneben folgte ein drittes Tentakel, das nur eine nervöse Spitze über die Couchlehne streckte. Nun, jede Spitze war eine zu viel. Er nahm einen großen Schluck Wein und spannte seinen Körper. Dies war seine Wohnung, sein Rückzugsort und der Gedanke an Eindringlinge widerlich. Er sprang und mit der Konzentration eines geübten Trinkers umklammerte er dabei das Küchenmesser.
Er hieb. Gelber Schleim spritzte auf. Die Klinge zerfurchte die Tapete und seine freie Hand versuchte, eines der glitschigen Dinger zu fassen. Er jubelte, als die Spitze eines geköpften Tentakels auf dem Teppich zuckte. Er schrie, als er merkte, wie sich muskulöse Wülste um seine Beine, Bauch und Hals zu schlingen begannen. Etwas presste ihn gegen die Tapete. "Mach doch leiser!", hörte er noch den Nachbarn von der anderen Seite der Wand rufen.
Er schlug. Er biss. Er warf sich nach allen Seiten, um der Umklammerung zu entfliehen. Ein letzter Stoß, ein falscher Tritt und sein Herz verkrampfte. Plötzlich war der Riss riesig und er war hinein gestürzt.
Dann würgte fremde Luft in seiner Kehle. Zuerst konnte er nichts sehen, doch als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, war der Anblick kaum zu ertragen. Durch die verstörende Geometrie eines fremden Raumes wanden sich unzählige Tentakel. An mehreren Stellen verdickten sie sich zu Knäulen, aus deren Windungen lidlose Augen starrten. Einzig vertrauter Ruhepunkt für seinen Blick war eine leere Weinflasche auf dem Boden. Die Tentakel hatten sie wohl aus Neugier unter dem Sofa hervor und durch den Riss gezogen. Schleimspuren verrieten, dass sie die Flaschenöffnung untersucht hatten. Der gärige Rest am Boden musste ihnen als abstoßendes Geheimnis erscheinen. Direkt vor ihm richtete sich der gelb blutende Stumpf eines Tentakels auf. Den hatte er mit seinem Messer geschnitten und plötzlich begriff er. All die Augen blickten ängstlich auf ihn. Er war das Monster aus dem Riss ihrer Wand.
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