Moral, Lehre, Löcher, Leere

"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. "

...

Habe nach diesem pompösen Kapitelstart mit dem Allzeit-zitier-Hit mich dann noch ein paar Dutzend weitere Sätze Wort für Wort, Zeile für Zeile durch den Text gekämpft, nur um herauszubekommen, was ich eh schon wusste: weitestgehend unverständlich. Wenn man heftig trainiert, kann man sicherlich auch heute noch Neo-Neukantianer werden, wer’s halt braucht.

Aber so ist das eben mit der Moral, die im Grunde genau so löchrig erscheint wie der bestirnte Himmel, einschließlich der dort weit verstreuten sogenannten "festen" Materie, die bekanntlich um so löchriger wird, je weiter wir reinzoomen; bis weit über die Grenzen unseres Verständnisses hinaus können wir da schon hineinschauen, meist ohne die geringste Ahnung zu haben, was wir da eigentlich zu sehen bekommen.

Eines jedoch wird schon aus wenigen, dem Hammerzitat folgenden, Kant-Sätzen klar: Moral ist nicht für alle da, vor allem ihre Begründung. Die ist nur für die Morallehrer gedacht, der große Rest soll halt Gebote auswendig lernen und ansonsten Klappe halten und den Morallehrern lauschen.

Mir erscheint es als eine Art von leiser, aber nachdrücklicher Komik, dass der mit so schönen Sätzen sein überwältigendes intellektuelles Tapetenmuster pinselnde Autor in Bewunderung und Ehrfurcht erstarrt über etwas, das sich in ihm selbst befindet – und genauso kalt und unnahbar ist wie diese endlose dünne Sternensuppe.
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Binsenbrecher,

Du hast da etwas überspitzt und das macht auch den Reiz Deines Textes aus - aber beim Nachdenken - und darum geht es bei Kant - ist er dann nicht mehr so griffig.
Man muss sich mit Kant nicht auseinandersetzen - ich habe ihn auch nie gelesen (vielmehr staubt da etwas in meinem Bücherregal vor sich hin; ein Resultat guter Vorsätze), aber zumindest bis zu mir sind ein paar Sätze gedrungen, die keine Dogmen sind, sondern das eigene Denken anregen können.

Nun denken wir nicht immer - meistens wohl eher nicht - und das ist auch vollkommen in Ordnung.
Aber es gibt und gab ein paar Leute, die es mit dem Denken sehr ernst meinen und dem ihr Leben gewidmet haben. Vielleicht sogar in Ermangelung anderer Regungen. Ich finde es nur sehr schwierig, jemanden nach dem zu beurteilen, was er nicht ist.
Und noch schwieriger finde ich es, einen Menschen, erst recht einen Philosophen, anhand von ein paar Sätzen zu beurteilen.

Ich habe in Berlin eine sehr ansprechende Ausstellung zur Aufklärung gesehen; man findet sehr viele, teilweise auch den Zeitläufen geschuldete und widersprüchliche Aussagen von ihm; auch er kam an seine Grenzen als Zeitgenosse.

Aber im Grunde beschädigt uns der ahistorische Blick selbst. Es ist wie in der Literatur - man muss nicht alles gelesen haben von den 'alten Sachen', aber man sollte wissen, was ein Autor besonders in der Literaturgeschichte macht - so ist es auch in der Kunst. Wie spiegelt sie die Veränderungen einer Gesellschaft oder einen Zeitgeist, wann war sie Avantgarde, wann wurde sie Standard, wovon wurde sie abgelöst?

So ist es auch in der Philosophie - man muss nicht alles (selbst) gelesen haben, aber wenn man sich nicht ein wenig mit dem auseinandersetzt, was schon gedacht worden ist, woher wir kommen und was sich geändert hat, damit sich das Denken ändern konnte, könnte man auf die Idee kommen, alles schon Gedachte sei irrelevant, weil vergangen, in Zeitgenossenschaft gebunden, es zählen nur die Informationen, mit denen ich jetzt und hier etwas anfangen kann.
Ich sehe da eine ganz andere Art von 'Bildungsferne'.

Dabei ist der Spielraum des Menschen winzig. Er hat andere Kleider an, aber er sieht sich täglich vor den gleichen Herausforderungen wie zu allen Zeiten; die Unterschiede sind graduell, man sollte sich nicht täuschen. Wir brauchten immer schon einen Grund, morgens aufzustehen, und selbst wenn es äußerer Zwang ist (oder innerer), oder Fürsorge und Liebe.
Zu allen Zeiten gab es Menschen, die sich um Essenz bemüht haben, und andere, die darauf aufbauten und eine Kette des Wissens bildeten.

Die Universitäten und Forschungsinstitute sind der richtige Ort, um sich mit all dem Wissen auseinanderzusetzen und uns Normalos ab und zu eine verständliche Einschätzung zu schenken, die unser Denken anregt und eine Idee davon gibt, woher wir kommen und wohin die Reise geht.

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,

vielen Dank für Deine ausführliche Beschäftigung mit meinem vermutlich etwas überpointiertem Text!

Ich meine es mit dem Denken durchaus ebenfalls recht ernst, habe aber viel für Karikatur, Satire, Übertreibung, Ironie, Antinomien und solche Sachen übrig. Gibt es dafür einen Sammelbegriff? Vielleicht das "Uneigentliche"? Zwecks Abgrenzung von dem, was Adorno "Jargon der Eigentlichkeit" nannte?

Aus einer Diskussion mit einem Philosophieprofessor ist mir dessen dessen prompte Antwort (bzw. Frage) auf die Behauptung, es gäbe keine Wesenstatsachen – "Ist dies eine Wesenstatsache?" unvergesslich geblieben.

Großartig der andere Hammer-Satz von Kant über die Aufklärung, "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." Aber auch diese kristallklare Definition stößt an höchst Widersprüchliches; ich denke da an die Formel der "Dialektik der Aufklärung", welche sich damit befasst, dass die Dialektik gerne mal nach hinten losgeht.

"Dabei ist der Spielraum des Menschen winzig", schreibst Du.
Ja. Und es ist dumm, fahrlässig oder gar, wenn bewusst, verbrecherisch, diesen Spielraum noch weiter einzuengen.

Liebe Grüße
Binsenbrecher
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Binsenbrecher,

da hast Du Dir so viel Mühe gegeben, darzulegen. dass Du 'vom Fach' bist, aber soll das jetzt belegen, dass man vom Fach in solchen Sphären schwebt, dass man sich an den seitlichen Arabesken des Denkens gütlich tun darf und aus dieser unanfechtbaren Positon 'leise Komik' erkennen und den Philosophen kritisieren kann, auch wenn das Ergebnis so fragwürdig ist wie von mir kritisiert?
Mit anderen Worten: Ich fand deine Antwort nicht unbedingt adäquat, aber das muss wohl an mir liegen.
Ebenso, dass Deine Replik auf 'meinen' Spielraum mir völlig unverständlich ist, und erst einmal - nicht nur zusammenhangslos, sondern ohne Kontext - besser klingt, als sie ist.
Mit anderen Worten: Ich hätte Dir ja gerne beim Denken zugehört, aber ich habe nichts gehört.

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,

das war keine besondere Mühe, ein bisschen Name- bzw. Zitat-Dropping zu betreiben, und es wird mich kaum als "zum Fach" gehörend ausweisen. Ich möchte aber auch nicht in ein solches gesteckt werden. Das würde meinen Spielraum doch sehr einengen.

Das moralische Gesetz eines Menschen ist eine gesellschaftliche Instanz, der gestirnte Himmel aber nicht. Beides in dieser Form miteinander zu vergleichen, gar zu bewundern, wie Kant das tut, birgt für mich tatsächlich eine gewisse Komik in sich, die man nicht entdecken kann, wenn man eigenes Denken ehrfuchtsvoll vermeidet. Deshalb habe ich das anderen Kant-Hammerzitat, die Definition der Aufklärung, dagegen gestellt.

Bei Kant muss ich immer an den großartigen Roman "fom winde ferfeelt" von Zé do Rock denken. Er liebt die deutsche Sprache, nicht die deutsche Schreibe, schreibt er. Im Laufe des Romans, der ein spielerisches Sprach-Experiment und auch ein vollwertiger Bildungs- und Zeitroman ist, verändert und vereinfacht er von Kapitel zu Kapitel die Ortographie und, ein wenig, auch die Grammatik. Man kann das Buch deshalb nicht quer lesen, weil man sich an die Regeländerungen nach und nach gewöhnen muss. Dann aber macht es einen Riesenspaß, mir jedenfalls. Ziemlich am Schluss wird der Einwand behandelt, man könne in seiner Sprache ja die wunderbare deutsche Philosophie gar nicht verstehen. Daraufhin bringt Zé do Rock ein richtig verschlungenes und gewundenes Kant-Zitat und fragt: "Na, hast du das verstanden? – Na also!" (vermutlich schreibt er "faschdandn", aber ich bin zu faul zum Nachprüfen.

Diese "seitliche Arabeske" mit dem Hinweis auf den Deutsch-Brasilianer gönne ich mir. Und, hoffentlich, Dir und Euch auch.

Liebe Grüße
Binsenbrecher
 

petrasmiles

Mitglied
Lieber Binsenbrecher,

jetzt habe ich Dich denken gehört :)

Wir kommen doch alle irgendwo her - am Anfang des Denkens war das Abschreiben - es kommt doch nur darauf an, dass es dazu etwas eigenes gibt. Nur so kann auch etwas Neues entstehen, was entstehen muss, weil sich alles im Wandel befindet.
Meiner Erfahrung nach können einen andere gar nicht einschränken, sondern nur man selbst.

Ob ich Deine Anregung aufgreife? Ich glaube nicht, außer, wenn es mir zufällig in die Hände fällt. Die Idee finde ich aber gut.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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