Morgengrauen

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L.emma

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Morgengrauen

Das Vogelgezwitscher meines Handyweckers reisst mich aus meinen Gedanken. Meine erste Reaktion auf diese allmorgendliche Störung ist immer die Gleiche. Ich presse meine Augenlieder so stark zusammen, dass mich die üblichen kleinen Lichtpunkte in der wohltuenden Dunkelheit zu Tode nerven. Zu Tode nerven, Gott wäre das schön.
Diese verdammten Vögel. Um meine Qual ein wenig zu lindern, strecke ich meinen Arm in Richtung des penetranten Geräuschs aus und erreiche nach einigem Tasten - und zwei von meinem Nachtkasten gefegten Plastikflaschen - mein Ziel. Ich wische angespannt das Gezwitscher auf meinem Handybildschirm weg. Sehe auf das Display, auf welchem das Whatsappzeichen schon wieder, wie ein Mahnmal, im oberen Eck prangt. Scheisse, können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen. Ich gönne mir zehn Minuten Schlummerzeit und ignoriere meine Sozialkontakte. Wieder presse ich meine Augen zu fest zusammen und versuche die sogenannte reale Welt für die letzten Minuten auszuschließen. Ich wickele mich in meine Bettdecke und drehe mich zur Wand. Halte aber immer noch mein Smartphone umklammert, um zumindest einer erneuten Suche aus dem Weg zu gehen. Viel zu früh beginnt mein Handy wieder zu leuchten und mir die ersten Töne des Vogelgesangs vorzuspielen. Dieses Mal bin ich schneller. Dieses Mal unterbreche ich das Gekreische fast schon, bevor es richtig angefangen hat. Wer hat mir die dämlichen Piepmatze noch mal empfohlen? Ich weiß es nicht mehr, aber er oder sie gehört definitiv erschossen.

Langsam quäle ich mich aus meiner warmen, Schutz vorgaukelnden Bettdecke. Die Kälte, die mich nun erfasst, verpasst mir erstmal eine gehörige Gänsehaut und ich bereue erneut, dass ich nicht als Bär geboren wurde, dann würde ich nämlich Winterschlaf halten. Mal ehrlich, ich spüre hier nichts von der Klimaerwärmung und der um ein Grad gestiegenen Durchschnittstemperatur. Mir kommt dieser Dezember kälter vor als alle Vorherigen.

Nachdem ich es endlich geschafft habe aufzustehen, versuche ich mir einen Weg durch die herumliegenden Kleidungsstücke zu bahnen, um an den Lichtschalter zu gelangen. Als es mir nach einigen Fluchanfällen - es sind doch nicht nur Klamotten, über die ich steigen muss - gelingt, den Schalter zu erreichen, bereue ich es sofort. Fuck, ist meine Deckenlampe hell. Okay gut, ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich die einzelne, von der Decke baumelnde Glühbirne als Lampe bezeichnen darf.

Dummerweise macht mir das Licht, nachdem sich meine Augen an die störende Helligkeit gewöhnt haben, bewusst, dass Heinzelmännchen nur ein Wunschtraum sind. Mein Schlafzimmer sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Von den überall verteilten Textilien mal abgesehen, haben auch die Wollmäuse in den Ecken eindeutig geworfen. Was die Krusten auf den Tellern mal waren, die sich auf meinem Schreibtisch stapeln, ist auch nicht mehr zu erkennen. Frustriert stolpere ich durch mein Zimmer und versuche fast schon verzweifelt eine Bluse zu finden, die nicht müffelt oder vollkommen zerknittert ist. Kurzzeitig erwische ich mich dabei, Erleichterung darüber zu empfinden, dass es in meinem Büro relativ egal ist, wie ich herumlaufe, solange ich einigermaßen gepflegt aussehe. Da, die passt doch noch. Das hellblau-weiß gestreifte, mit Bubi-Kragen versehene Ding in meinen Händen entspricht zwar nicht unbedingt meinen Vorstellungen von modisch aktuell, aber besser als nichts. Vorsichtshalber sprühe ich mich und meine Kleidungstücke -meine obligatorische Jeans trage ich nämlich nicht zum ersten Mal -von oben bis unten mit nach Blumenchaos duftenden Billigdeo voll.

Nun trete ich die ersten quälenden Schritte Richtung Bad an. Es ist nicht so, als wäre der Weg sonderlich weit. Immerhin gibt meine Zwei-Zimmer-Wohnung nicht allzu viel Raum her. Aber es fühlt sich an, als wären die fünf Meter ein frühmorgendlicher Marathon. Meine Beine sind einfach so verdammt schwer. Ich bin so verdammt müde. Kaum, dass ich mir das dachte, stehe ich auch schon vor meinem Spiegel, der mir schmerzlich bewusst macht, wie sehr man mir das auch noch ansieht. Rund drei Stunden Schlaf sind wohl doch nicht genug. Dummerweise kann ich mich aber auch nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal besser geschlafen habe. Meine Haare haben einen leicht fettigen Ansatz, aber mit Pferdeschwanz wird das schon niemand bemerken. Meine Haut hat auch schon besser ausgesehen, irgendwie trocken und glanzlos, aber dafür mit hübsch entzündeten Pickeln an der Schläfe und am Kinn. Von den Augenringen, die nahezu heraus stechen will ich gar nicht erst anfangen. Irgendwie versuche ich den größten Schaden zu beheben, doch ich komme kaum voran. Nach gefühlten Stunden, die ich theoretisch gar nicht aufbringen kann, sieht man mir meine Erschöpfung zwar noch an, aber nicht in dem Maße, dass sich jemand wirklich dafür interessieren würde. Ich schleppe mich, eher zombiemäßig, in die Küche und begegne heute dem ersten Lichtblick meines Tages, meiner Kaffeemaschine. Um genau zu sein, einer Padmaschine. Nicht der beste Kaffee, aber zumindest relativ schnell zubereitet.

Während die Kaffeemaschine lautstark ihre Arbeit verrichtet, stehe ich unschlüssig vor meinem fast leeren Kühlschrank und versuche etwas zu Essen zu finden, was ich auch bei mir behalten kann. Ich habe Hunger, zumindest glaube ich das, aber absolut keinen Appetit. Ich hole also einfach nur das letzte bisschen streichbare Salzbutter heraus, um diese auf das letzte Restchen trockenes Brot zu schmieren. Endlich ist es wieder still in meiner Küche, mein Kaffee also fertig. Ich setze mich mit meinem üppigen Mahl an meinen Küchentisch und schiebe die Kaffeetassen der letzten Tage zur Seite, damit meine Heutige Platz hat. Als ich den ersten Bissen meines Brotes nehme, bereue ich es fast, denn es fühlt sich an, als würde dieser sich in meinem Mund zu Asche verwandeln. Er schmeckt nach nichts, dafür scheint er mir den Mund zu verkleben und kaum runterwürgen zu sein. Ich höre trotz allem nicht auf zu essen. Immerhin ist das Frühstück ja die wichtigste Mahlzeit des Tages. Mit Hilfe des Kaffees schaffe ich es letztendlich sogar, das ganze Brot aufzuessen und schlurfe nun in Richtung meiner Tasche, um die letzten notwendigen Dinge einzupacken. Meine Beine fühlen sich nun noch schwerer an, als zuvor. Jeder Schritt wird zur Herausforderung und bei dem Gedanken, dass bald der Zug und das Büro auf mich warten, schnürt sich mir die Kehle zu. Wie in Zeitlupe ziehe ich mir Schuhe und Jacke an. Als das endlich geschafft ist und ich vor meiner Tür stehe, wird mir kurzzeitig übel. Essen war wohl doch keine allzu gute Idee.

Ich husche die Treppen des Hochhauses hinunter und bete still, bloß niemandem über den Weg zu laufen. Irgendwelche Nachbarn, die ich betont freundlich grüßen müsste, würden mir gerade noch fehlen. Ich fühle mich von der gesamten Außenwelt so eingeschüchtert, dass ich mich sicherlich wie eine Fünfjährige, die ihren Eltern verloren ging, verhalten würde. Mit anderen Worten: einfach nur leise piepen und dann kurz davor sein, in Tränen auszubrechen. Ja, das ist wirklich etwas, das ich mir ersparen möchte.

Vollkommen angespannt erreiche ich die Eingangstür. Vorsichtig drücke ich die Klinke herunter, um bloß kein Geräusch zu machen, immerhin könnte ich dadurch ja eventuell jemanden auf mich aufmerksam machen. Als ich durch die Tür trete, bläst mir ein eiskalter Wind entgegen, der mich meine Muskeln noch einmal fester anspannen lässt. Mit zitternden Beinen setze ich meinen Arbeitsweg fort. Die S-Bahn Haltestelle ist zum Glück nicht allzu weit entfernt, sodass ich bereits nach zehn Minuten am überfüllten Bahnsteig ankomme. Fast schon verzweifelt suche ich nach einem Platz, an dem weniger Leute stehen und ich mich mit meinem Rücken an etwas anlehnen kann. Mein sicherer Hafen entpuppt sich als Litfaßsäule, welche sich so ziemlich am Ende des Bahnsteiges befindet. Hoffentlich ist der Zug mit entsprechend vielen Wagen ausgestattet, ansonsten werde ich mich wohl dazu überwinden müssen, einen Teil der Strecke zurück zu rennen, wenn ich nicht zu spät kommen will. Ich presse meinen Rücken fester gegen die Säule und wage es, das erste Mal seit ich meine Wohnungstür verlassen habe, meinen Kopf empor zu heben. Unruhig lasse ich meinen Blick über die sich zusammen drängende Menschenmasse gleiten. Passen all diese Menschen wirklich in eine S-Bahn? Muss ich mich wirklich mit so Vielen in einen Zug quetschen? In eine verdammte, sich fortbewegende Sardinenbüchse, aus der es bis zur nächsten Haltestelle kein Entrinnen gibt? Unbewusst balle ich meine Hände zu Fäusten, bis meine Knöchel weiß hervortreten und meine Fingernägel sich in meine Handflächen bohren. Mein Atem fängt an sich zu beschleunigen, mein Herz fühlt sich an, als würde es tatsächlich gegen meine Rippen schlagen und ich höre mein eigenes Blut laut durch meinen Körper rauschen. Auch meine Übelkeit ist schlagartig wieder zurück und ich spüre wie sich mein Magen verkrampft. Ich schaffe es noch gerade rechtzeitig, mich zu den Buchsbaumbüschen nahe meiner Litfaßsäule zu drehen, um meine morgendlichen Speisen mit dem bisschen städtischer Natur zu teilen.

Als meinem Magen endlich klar wird, dass er außer Magensäure nichts mehr zum Hochwürgen hat, starre ich schwer atmend und mit tränenden Augen auf die vom Kaffee bräunlich gefärbte Brühe. Ich habe Angst mich umzudrehen, habe Angst vor der Reaktion der Anderen. Was denken die wohl über mich? Wahrscheinlich halten sie mich jetzt für eine Alkoholikerin. Warum sollte man auch sonst morgens um halb acht in einen Busch kotzen? Meine Augen brennen immer mehr. Ich darf jetzt nicht anfangen, richtig zu weinen. Bitte, bitte hör auf. Bitte nicht auch noch ein Heulkrampf. Mein innerliches Flehen bringt nicht sonderlich viel. Meine Tränen fließen immer stärker und ich schaffe es nicht mehr, das Schluchzen zu unterdrücken. Ich hasse das. Ich hasse mich. Ich hasse diese Welt. Ich hasse meine Arbeit. Ich hasse die Menschen.

Die Verzweiflung bricht über mich herein wie ein Tsunami und reisst mich einfach mit. Ich sinke vor meinem eigenen Erbrochenen auf die Knie, da ich einfach nicht mehr stehen kann. Ich habe nicht mehr die Kraft dieser unangenehmen Situation zu entfliehen. Mich zitternd selbst zu umschlingen und meine Nägel mit aller Kraft in meine Oberarme zu stechen, ist alles, wozu ich in der Lage bin. Als nach einiger Zeit das Zittern nachlässt und ich beginne mich zu beruhigen, traue ich mich endlich, mich umzudrehen. Mittlerweile ist mein Zug längst abgefahren. Doch darüber bin ich eher erleichtert. Bald bemerke ich eine Frau, ungefähr Anfang vierzig, die mir entgegen lächelt. Ehe ich weiß, was ich davon halten soll, bewegt sie sich langsam auf mich zu.

„Hallo, geht’s wieder besser?“ Ich nicke nur leicht um zu antworten. „Gut, das freut mich. Ich will dir nur sagen, dass du nicht allein bist. Ich konnte vor einer Weile mein Haus gar nicht mehr verlassen. Eine Freundin hat mich dann damals dazu gebracht, etwas zu unternehmen. Denn eines war klar. Ich musste mein Leben ändern, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Deine Probleme werden also nicht von selbst verschwinden. So nervig das auch ist“ Nach dieser kurzen Ansprache dreht sie sich um und geht. Ich starre noch eine Weile auf ihren angespannten Rücken, bis ich sie nicht mehr sehe. Nicht wissend, ob die Frau real war, richte ich mich auf und schleppe meinen Körper in Richtung des Hausarztes.
 
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