Gerold Senftle
Mitglied
NACH DER PARTY
1
Ich denke nicht, dass es im Leben etwas gibt, das schöner, eindrucksvoller, aufregender, überwältigender ist als der erstmalige Anblick des nackten Körpers einer Frau, nach der du verrückt bist, in die du verliebt zu sein glaubst, deren dunkle, feucht schimmernde Augen dich erwartungsvoll betrachten. Da mag auch die Kunst nicht mithalten können, nicht einmal das anschließende Berühren, Fühlen, Schmecken und Besitzen des betreffenden Körpers, also der eigentliche Sex. Ohne Zweifel war unser Sex der beste Sex meines Lebens gewesen, und doch erscheint er mir noch heute so unwirklich wie damals, als er mein Leben so unverhofft auf den Kopf stellte, sodass ich ständig versucht war, an seiner Realität zu zweifeln, wenn Laura einmal für kurze Zeit nicht bei mir sein konnte. Dazu kommt, dass die präzise Erinnerung nun einmal untrennbar mit den visuellen, sinnlichen Eindrücken des Augenblicks verbunden ist, und jene Eindrücke lassen sich nicht beliebig lange aufrechterhalten oder gar immer wieder aufs Neue herbeizaubern. Die Erinnerungen, die mir jedoch geblieben sind – die Glücksgefühle, die nie mehr wiederkehren werden –, betreffen in der Mehrzahl die zahllosen alltäglichen Kleinigkeiten, die scheinbar nebensächlichen Requisiten auf der Bühne der großen Gefühle und Leidenschaften:
Wie Laura ihre Kleidung in der ganzen Wohnung verteilte, bevor sie duschen ging; wie Badezimmer und Flur einem Dampfbad glichen, nachdem sie geduscht hatte; wie sie nach dem Duschen nackt durch die Wohnung tanzte, ihre Haare in ein riesiges Badetuch eingewickelt; wie sie mal fror, wenn es warm, und mal schwitzte, wenn es kalt war; wie sie es liebte, barfuß zu laufen, obwohl sie ständig kalte Füße (und Hände) hatte; wie sie sich ihres BHs unter dem T-Shirt entledigte, bevor sie abends auf der Couch Platz nahm; wie sie, sommers wie winters in eine Decke eingehüllt, spätestens nach einer Stunde beim abendlichen Film einschlief und hinterher schmollend darauf bestand, nichts von der Handlung versäumt zu haben; wie ihre Augen feucht wurden und funkelten und sie sich an mich kuschelte, wenn sich eine romantische Filmszene bot, und wie sie vor Empörung aufstöhnte und mit der Faust auf die Couch schlug, wenn den Protagonisten eine Ungerechtigkeit widerfuhr; der zärtliche Klang ihrer Stimme, wenn sie mich Franco, und der tonlose, wenn sie mich Franz rief; wie sie nach dem Sex nicht abschließend kuscheln, sondern entweder plaudern oder mehr Sex wollte; wie sie Kiwis, Orangen und Salatgurken schälte, unter simultaner Verwendung von Schälmesser, Fingernägel und Zähnen; wie sie bei den Mahlzeiten stets einen Rest in Glas, Tasse und auf dem Teller zurückließ; wie sie mit untergeschlagenem Bein bei Tisch saß, auf einer Ferse hockend; wie sie die Wohnung verließ, nur um umgehend zurückzueilen, oft mehrmals hintereinander, weil sie ständig etwas vergaß; wie sie immerzu Schals, Mützen, (Auto-) Schlüssel, Smartphone, Lesebrille und Einkaufszettel verlegte; wie sie Wäschestücke ineinander verschlungen und zusätzlich auf links gezogen in den Wäschekorb gab; wie sie so verbissen wie vergeblich ihre Nägel auf dieselbe Länge zu feilen suchte; wie ihr beim Schminken ständig die Schminkutensilien ins Waschbecken oder auf den Boden fielen; wie sie sich einmal aus einer Laune heraus Haupt- und Schamhaar blond färbte; mit welch fröhlichem Gleichmut sie dem Chaos ihres Wäscheschranks begegnete; wie sie Haken um Haken für ihre zahllosen Schals, Mützen und Jacken an der Garderobe eroberte; wie sie belustigt meine kleinlichen Ordnungsversuche in der Spülmaschine sabotierte; wie sie hüftschwingend mit dem Staubsauger durch die Wohnung trippelte, dabei lauthals zur Musik aus Kopfhörern trällernd; wie unmusikalisch sie bei aller Liebe zur Musik war; wie sie mehrere Bücher zur selben Zeit las und häufig von vorne beginnen musste, weil sie den Faden verloren hatte; wie sie nicht lächelte, sondern strahlte, und wie sie kaum jemals schmunzelte, gluckste oder kicherte, sondern stattdessen lauthals lachte; wie die Aufmerksamkeit ihre Gesichtszüge nicht verspannter, sondern sanfter erscheinen ließ, wenn ich ihr ein Lied zur Gitarre oder zum Klavier vortrug; mit welch kindlicher, ansteckender Freude sie Geschenke machte und empfing; wie sie gespielt zerknirscht dreinschaute, wenn ich ihr etwas hinterherräumte; wie sie innerhalb einer Sekunde von schläfriger Zerstreutheit zu lärmender Geschäftigkeit wechselte; welch geschicktes Händchen sie bei der Pflege der Zimmerpflanzen besaß (sie sprach sogar mit ihnen!); wie sie mich hin und wieder beim Mau-Mau gewinnen ließ; wie sie eigensinnig und unbekümmert auf so manchen unsinnigen Zug beim Schach bestand; wie sie stets versuchte, beim Mensch ärgere dich nicht zu schummeln; wie unnachgiebig sie einen Standpunkt vertreten (leider auch eine fragwürdige Behauptung aufstellen) konnte, ohne unfreundlich oder respektlos zu erscheinen; wie sie jedem Straßenmusiker und -Bettler etwas in den Hut warf und jedes Tierheim im Umkreis von einhundert Kilometer mit Engagement und Geldspenden bedachte; wie sie sich um die Kinder und Haustiere von Familie und Bekannten kümmerte; wie sie mich bedrängte, auch noch dem widerlichsten Arachniden ein Lebensrecht zuzubilligen; wie gelassen sie jede stressige Situation im Straßenverkehr bewältigte und dennoch nie den am nächsten gelegenen Parkplatz fand; wie schwer es ihr fiel (und wie lange sie benötigte), beim Kleiderkauf oder in einem Lokal eine Wahl zu treffen; wie sie wie nebensächlich trockene Bonmots zum Besten und sich anschließend verwundert darüber gab, warum sich ihre Umgebung vor Lachen schüttelte; wie sie, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, trotzdem die Seele, das Licht wie das Herz jeder Gesellschaft war, gleich jenen Tiefseebewohnern, die ihr eigenes Licht erzeugen; wie sie auch das Meine war und mich sogar glauben machen konnte, glücklich zu sein.
2
In der vergangenen Nacht träumte ich seit langem wieder einmal ausschließlich von Laura.
Es war ein schöner, aber gleichzeitig seltsam wehmütiger, trauriger Traum. Wäre mir dies zu Anfang unserer Beziehung zugestoßen – also meinem jüngeren, optimistischeren Ich –, so hätte ich bestimmt verunsichert darüber nachgegrübelt, ob ein solcher Traum etwas zu bedeuten hat, und was wohl. Denke ich nun eingehender darüber nach, so argwöhne ich, dass ein solcher Traum in jedem Fall etwas zu bedeuten gehabt hätte, sehr wahrscheinlich nichts Angenehmes.
In meinem Traum lagen wir im Dämmerlicht am Rand einer mit Steinplatten ausgelegten Terrasse eng beieinander auf einer dicken, flauschigen Decke, im Rücken von Kissen gestützt, die unsere Oberkörper vom Hintern bis zum Kopf umschlossen. Vor uns lag ein lang abfallendes Rasenstück, das in einen See mündete, dessen Umrisse allerdings nicht auszumachen waren, abgesehen von dem uns zugewandten Ufer. Nichts in der Umgegend kam mir bekannt vor, obwohl sie mir gleichzeitig ein eigenartiges Gefühl der Vertrautheit einflößte. Es war warm, und wir waren dementsprechend bekleidet; ich mit einer Shorts und Laura lediglich mit einem knappen Höschen, aus dessen oberem Rand der schmale, senkrechte Streifen ihrer Schamhaare lugte. Sie hatte sich seitlich an mich geschmiegt, ihr Kopf befand sich direkt unter meinem Kinn. Ich hatte einen Arm um sie gelegt und streichelte eine ihrer Brüste, sie meinen Oberschenkel und meine Brust. Jedoch war ich nicht sexuell erregt; ich empfand nur Vertrautheit, Zärtlichkeit, innere Ruhe und Wärme. Kein Wind war zu vernehmen, weder Laute von Vögeln noch von Insekten, lediglich das glucksende Geräusch von Wellen, die auf ein Ufer treffen, sowie unsere Atemzüge, unsere Stimmen und das Rascheln unserer Körper auf der Decke. Wir küssten uns abwechselnd auf Mund und Wange, und eine scheinbar endlos lange Zeit verstrich, bevor wir leise zu reden begannen, während wir uns weiter küssten und sanft umklammert hielten.
Wir sprachen darüber, dass, obwohl es uns an diesem Ort gefiel, er jedoch nicht mehr sicher erschien, wir also nicht mehr lange würden bleiben können, und wir fragten uns, wohin wir gehen sollten, wo es wohl eine sichere Zukunft gäbe, und wo wir schon überall gewesen waren, von wo wir aus dem einen oder anderen Grund wieder weg mussten, und dass es wohl nicht mehr viele Orte geben könne, die für Menschen wie uns geschaffen sind, und ob es nicht besser wäre, einfach zu verharren und alles hinzunehmen, was uns hier widerfahren könnte, solange wir nur zusammen sind, auch wenn dies das Ende unserer Geschichte bedeuten sollte. Bald konnte ich unsere gesprochenen Worte nur noch undeutlich vernehmen, etwa wie Worte in der Ferne verklingen, wenn man sich von einem Redner hinwegbewegt, und dennoch ahnte ich ihre Bedeutung, als ich fühlte, wie ich mich in eine andere Person verwandelte, ein früheres, bislang abwesendes Ich, in dessen Kopf diese Worte widerhallten, als wären sie bloße Gedanken, denen irgendein Zaubertrick die Eigenschaften von Lauten verliehen hatte.
Mir schien, dass wieder eine lange Zeit verging, aber sicher war ich mir nicht, weil mein Zeitgefühl sich in einem Moment dehnte, nur um sich im nächsten Augenblick wieder zusammenzuziehen, so wie ich mir auch jederzeit darüber im Klaren war, nur eine willkürliche Mischung aus Traum und Realität zu erleben, gleich einem Theaterstück auf einer schummrig beleuchteten Bühne, auf der ich ebenso Darsteller wie Zuschauer war. Meine Brust fühlte sich plötzlich feucht an, ich vermeinte zu schwitzen, aber die Nässe stammte von Lauras Tränen her, und da konnte auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten, und dann kam ein plötzlicher Wind auf, das Gluckern der Wellen schwoll zu einem tiefen Rauschen an, aus der Ferne erklang ein Geräusch wie von einem bellenden Hund und ich erwachte.
Es dauerte etliche wirre, hektische Augenblicke, bis ich erkannte, dass ich wach war und der Hund aus dem Nachbarhaus gebellt hatte. Der Zeitangabe meines Smartphones nach – es war kurz nach ein Uhr – hatte ich etwa eineinhalb Stunden geschlafen. Meine Kniegelenke schmerzten, ebenso ein Handgelenk, welches das Kopfkissen verkrampft umklammert hielt. Meine Halsschlagadern pochten und mein flatternder Atem wollte sich nicht beruhigen, als der Laura-Ordner meiner zerebralen Festplatte den Traum gleich einen hastig zusammengeschnittenen Film wieder und wieder vor mir abspulte, dessen Handlung mich überfallartig auf eine tatsächliche Geschichte stieß, die ich vor nicht allzu langer Zeit geschrieben hatte. Danach habe ich stundenlang wachgelegen und auf die Ritzen des Rollladens gestarrt, in blödsinniger Erwartung eines erlösenden Morgenlichts. Irgendwann, ohne Vorwarnung und greifbaren Anlass, begann ich zu weinen. Wie lange ich geweint habe, weiß ich nicht, nur, dass es nicht enden wollte. Ich weine so gut wie nie, aber in der gestrigen Nacht habe ich geheult wie ein Schlosshund, ganz wie ein von Torschlusspanik befallener alter, sentimentaler Narr, der Fotografien von seiner durch die verblassende, trügerische Erinnerung verklärten Jugendliebe betrachtet.
Und dann wurde mir mit einem Mal bewusst, dass dieser Traum tatsächlich etwas bedeutete, zu diesem Zeitpunkt nur eines bedeuten konnte: Die Party war vorbei, aber auch alte, missmutige Narren erwischen hin und wieder – wenn auch im Traum – noch einen Zipfel, eine verschwommene Version von etwas Wertvollem, Wahrhaftigem, und ich erkannte, dass ich mich endlich, nach all den Jahren ihrer Abwesenheit, dazu bekennen musste, Laura tatsächlich geliebt zu haben, denn das bin ich ihrem Andenken, meinen Erinnerungen und nicht zuletzt meinem Schreiben schuldig.
Die Gleichungen der Liebe – wie die des Todes – mögen unlösbar sein, aber sie sind alles, was wir haben.
2021
1
Ich denke nicht, dass es im Leben etwas gibt, das schöner, eindrucksvoller, aufregender, überwältigender ist als der erstmalige Anblick des nackten Körpers einer Frau, nach der du verrückt bist, in die du verliebt zu sein glaubst, deren dunkle, feucht schimmernde Augen dich erwartungsvoll betrachten. Da mag auch die Kunst nicht mithalten können, nicht einmal das anschließende Berühren, Fühlen, Schmecken und Besitzen des betreffenden Körpers, also der eigentliche Sex. Ohne Zweifel war unser Sex der beste Sex meines Lebens gewesen, und doch erscheint er mir noch heute so unwirklich wie damals, als er mein Leben so unverhofft auf den Kopf stellte, sodass ich ständig versucht war, an seiner Realität zu zweifeln, wenn Laura einmal für kurze Zeit nicht bei mir sein konnte. Dazu kommt, dass die präzise Erinnerung nun einmal untrennbar mit den visuellen, sinnlichen Eindrücken des Augenblicks verbunden ist, und jene Eindrücke lassen sich nicht beliebig lange aufrechterhalten oder gar immer wieder aufs Neue herbeizaubern. Die Erinnerungen, die mir jedoch geblieben sind – die Glücksgefühle, die nie mehr wiederkehren werden –, betreffen in der Mehrzahl die zahllosen alltäglichen Kleinigkeiten, die scheinbar nebensächlichen Requisiten auf der Bühne der großen Gefühle und Leidenschaften:
Wie Laura ihre Kleidung in der ganzen Wohnung verteilte, bevor sie duschen ging; wie Badezimmer und Flur einem Dampfbad glichen, nachdem sie geduscht hatte; wie sie nach dem Duschen nackt durch die Wohnung tanzte, ihre Haare in ein riesiges Badetuch eingewickelt; wie sie mal fror, wenn es warm, und mal schwitzte, wenn es kalt war; wie sie es liebte, barfuß zu laufen, obwohl sie ständig kalte Füße (und Hände) hatte; wie sie sich ihres BHs unter dem T-Shirt entledigte, bevor sie abends auf der Couch Platz nahm; wie sie, sommers wie winters in eine Decke eingehüllt, spätestens nach einer Stunde beim abendlichen Film einschlief und hinterher schmollend darauf bestand, nichts von der Handlung versäumt zu haben; wie ihre Augen feucht wurden und funkelten und sie sich an mich kuschelte, wenn sich eine romantische Filmszene bot, und wie sie vor Empörung aufstöhnte und mit der Faust auf die Couch schlug, wenn den Protagonisten eine Ungerechtigkeit widerfuhr; der zärtliche Klang ihrer Stimme, wenn sie mich Franco, und der tonlose, wenn sie mich Franz rief; wie sie nach dem Sex nicht abschließend kuscheln, sondern entweder plaudern oder mehr Sex wollte; wie sie Kiwis, Orangen und Salatgurken schälte, unter simultaner Verwendung von Schälmesser, Fingernägel und Zähnen; wie sie bei den Mahlzeiten stets einen Rest in Glas, Tasse und auf dem Teller zurückließ; wie sie mit untergeschlagenem Bein bei Tisch saß, auf einer Ferse hockend; wie sie die Wohnung verließ, nur um umgehend zurückzueilen, oft mehrmals hintereinander, weil sie ständig etwas vergaß; wie sie immerzu Schals, Mützen, (Auto-) Schlüssel, Smartphone, Lesebrille und Einkaufszettel verlegte; wie sie Wäschestücke ineinander verschlungen und zusätzlich auf links gezogen in den Wäschekorb gab; wie sie so verbissen wie vergeblich ihre Nägel auf dieselbe Länge zu feilen suchte; wie ihr beim Schminken ständig die Schminkutensilien ins Waschbecken oder auf den Boden fielen; wie sie sich einmal aus einer Laune heraus Haupt- und Schamhaar blond färbte; mit welch fröhlichem Gleichmut sie dem Chaos ihres Wäscheschranks begegnete; wie sie Haken um Haken für ihre zahllosen Schals, Mützen und Jacken an der Garderobe eroberte; wie sie belustigt meine kleinlichen Ordnungsversuche in der Spülmaschine sabotierte; wie sie hüftschwingend mit dem Staubsauger durch die Wohnung trippelte, dabei lauthals zur Musik aus Kopfhörern trällernd; wie unmusikalisch sie bei aller Liebe zur Musik war; wie sie mehrere Bücher zur selben Zeit las und häufig von vorne beginnen musste, weil sie den Faden verloren hatte; wie sie nicht lächelte, sondern strahlte, und wie sie kaum jemals schmunzelte, gluckste oder kicherte, sondern stattdessen lauthals lachte; wie die Aufmerksamkeit ihre Gesichtszüge nicht verspannter, sondern sanfter erscheinen ließ, wenn ich ihr ein Lied zur Gitarre oder zum Klavier vortrug; mit welch kindlicher, ansteckender Freude sie Geschenke machte und empfing; wie sie gespielt zerknirscht dreinschaute, wenn ich ihr etwas hinterherräumte; wie sie innerhalb einer Sekunde von schläfriger Zerstreutheit zu lärmender Geschäftigkeit wechselte; welch geschicktes Händchen sie bei der Pflege der Zimmerpflanzen besaß (sie sprach sogar mit ihnen!); wie sie mich hin und wieder beim Mau-Mau gewinnen ließ; wie sie eigensinnig und unbekümmert auf so manchen unsinnigen Zug beim Schach bestand; wie sie stets versuchte, beim Mensch ärgere dich nicht zu schummeln; wie unnachgiebig sie einen Standpunkt vertreten (leider auch eine fragwürdige Behauptung aufstellen) konnte, ohne unfreundlich oder respektlos zu erscheinen; wie sie jedem Straßenmusiker und -Bettler etwas in den Hut warf und jedes Tierheim im Umkreis von einhundert Kilometer mit Engagement und Geldspenden bedachte; wie sie sich um die Kinder und Haustiere von Familie und Bekannten kümmerte; wie sie mich bedrängte, auch noch dem widerlichsten Arachniden ein Lebensrecht zuzubilligen; wie gelassen sie jede stressige Situation im Straßenverkehr bewältigte und dennoch nie den am nächsten gelegenen Parkplatz fand; wie schwer es ihr fiel (und wie lange sie benötigte), beim Kleiderkauf oder in einem Lokal eine Wahl zu treffen; wie sie wie nebensächlich trockene Bonmots zum Besten und sich anschließend verwundert darüber gab, warum sich ihre Umgebung vor Lachen schüttelte; wie sie, ohne sich in den Vordergrund zu drängen, trotzdem die Seele, das Licht wie das Herz jeder Gesellschaft war, gleich jenen Tiefseebewohnern, die ihr eigenes Licht erzeugen; wie sie auch das Meine war und mich sogar glauben machen konnte, glücklich zu sein.
2
In der vergangenen Nacht träumte ich seit langem wieder einmal ausschließlich von Laura.
Es war ein schöner, aber gleichzeitig seltsam wehmütiger, trauriger Traum. Wäre mir dies zu Anfang unserer Beziehung zugestoßen – also meinem jüngeren, optimistischeren Ich –, so hätte ich bestimmt verunsichert darüber nachgegrübelt, ob ein solcher Traum etwas zu bedeuten hat, und was wohl. Denke ich nun eingehender darüber nach, so argwöhne ich, dass ein solcher Traum in jedem Fall etwas zu bedeuten gehabt hätte, sehr wahrscheinlich nichts Angenehmes.
In meinem Traum lagen wir im Dämmerlicht am Rand einer mit Steinplatten ausgelegten Terrasse eng beieinander auf einer dicken, flauschigen Decke, im Rücken von Kissen gestützt, die unsere Oberkörper vom Hintern bis zum Kopf umschlossen. Vor uns lag ein lang abfallendes Rasenstück, das in einen See mündete, dessen Umrisse allerdings nicht auszumachen waren, abgesehen von dem uns zugewandten Ufer. Nichts in der Umgegend kam mir bekannt vor, obwohl sie mir gleichzeitig ein eigenartiges Gefühl der Vertrautheit einflößte. Es war warm, und wir waren dementsprechend bekleidet; ich mit einer Shorts und Laura lediglich mit einem knappen Höschen, aus dessen oberem Rand der schmale, senkrechte Streifen ihrer Schamhaare lugte. Sie hatte sich seitlich an mich geschmiegt, ihr Kopf befand sich direkt unter meinem Kinn. Ich hatte einen Arm um sie gelegt und streichelte eine ihrer Brüste, sie meinen Oberschenkel und meine Brust. Jedoch war ich nicht sexuell erregt; ich empfand nur Vertrautheit, Zärtlichkeit, innere Ruhe und Wärme. Kein Wind war zu vernehmen, weder Laute von Vögeln noch von Insekten, lediglich das glucksende Geräusch von Wellen, die auf ein Ufer treffen, sowie unsere Atemzüge, unsere Stimmen und das Rascheln unserer Körper auf der Decke. Wir küssten uns abwechselnd auf Mund und Wange, und eine scheinbar endlos lange Zeit verstrich, bevor wir leise zu reden begannen, während wir uns weiter küssten und sanft umklammert hielten.
Wir sprachen darüber, dass, obwohl es uns an diesem Ort gefiel, er jedoch nicht mehr sicher erschien, wir also nicht mehr lange würden bleiben können, und wir fragten uns, wohin wir gehen sollten, wo es wohl eine sichere Zukunft gäbe, und wo wir schon überall gewesen waren, von wo wir aus dem einen oder anderen Grund wieder weg mussten, und dass es wohl nicht mehr viele Orte geben könne, die für Menschen wie uns geschaffen sind, und ob es nicht besser wäre, einfach zu verharren und alles hinzunehmen, was uns hier widerfahren könnte, solange wir nur zusammen sind, auch wenn dies das Ende unserer Geschichte bedeuten sollte. Bald konnte ich unsere gesprochenen Worte nur noch undeutlich vernehmen, etwa wie Worte in der Ferne verklingen, wenn man sich von einem Redner hinwegbewegt, und dennoch ahnte ich ihre Bedeutung, als ich fühlte, wie ich mich in eine andere Person verwandelte, ein früheres, bislang abwesendes Ich, in dessen Kopf diese Worte widerhallten, als wären sie bloße Gedanken, denen irgendein Zaubertrick die Eigenschaften von Lauten verliehen hatte.
Mir schien, dass wieder eine lange Zeit verging, aber sicher war ich mir nicht, weil mein Zeitgefühl sich in einem Moment dehnte, nur um sich im nächsten Augenblick wieder zusammenzuziehen, so wie ich mir auch jederzeit darüber im Klaren war, nur eine willkürliche Mischung aus Traum und Realität zu erleben, gleich einem Theaterstück auf einer schummrig beleuchteten Bühne, auf der ich ebenso Darsteller wie Zuschauer war. Meine Brust fühlte sich plötzlich feucht an, ich vermeinte zu schwitzen, aber die Nässe stammte von Lauras Tränen her, und da konnte auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten, und dann kam ein plötzlicher Wind auf, das Gluckern der Wellen schwoll zu einem tiefen Rauschen an, aus der Ferne erklang ein Geräusch wie von einem bellenden Hund und ich erwachte.
Es dauerte etliche wirre, hektische Augenblicke, bis ich erkannte, dass ich wach war und der Hund aus dem Nachbarhaus gebellt hatte. Der Zeitangabe meines Smartphones nach – es war kurz nach ein Uhr – hatte ich etwa eineinhalb Stunden geschlafen. Meine Kniegelenke schmerzten, ebenso ein Handgelenk, welches das Kopfkissen verkrampft umklammert hielt. Meine Halsschlagadern pochten und mein flatternder Atem wollte sich nicht beruhigen, als der Laura-Ordner meiner zerebralen Festplatte den Traum gleich einen hastig zusammengeschnittenen Film wieder und wieder vor mir abspulte, dessen Handlung mich überfallartig auf eine tatsächliche Geschichte stieß, die ich vor nicht allzu langer Zeit geschrieben hatte. Danach habe ich stundenlang wachgelegen und auf die Ritzen des Rollladens gestarrt, in blödsinniger Erwartung eines erlösenden Morgenlichts. Irgendwann, ohne Vorwarnung und greifbaren Anlass, begann ich zu weinen. Wie lange ich geweint habe, weiß ich nicht, nur, dass es nicht enden wollte. Ich weine so gut wie nie, aber in der gestrigen Nacht habe ich geheult wie ein Schlosshund, ganz wie ein von Torschlusspanik befallener alter, sentimentaler Narr, der Fotografien von seiner durch die verblassende, trügerische Erinnerung verklärten Jugendliebe betrachtet.
Und dann wurde mir mit einem Mal bewusst, dass dieser Traum tatsächlich etwas bedeutete, zu diesem Zeitpunkt nur eines bedeuten konnte: Die Party war vorbei, aber auch alte, missmutige Narren erwischen hin und wieder – wenn auch im Traum – noch einen Zipfel, eine verschwommene Version von etwas Wertvollem, Wahrhaftigem, und ich erkannte, dass ich mich endlich, nach all den Jahren ihrer Abwesenheit, dazu bekennen musste, Laura tatsächlich geliebt zu haben, denn das bin ich ihrem Andenken, meinen Erinnerungen und nicht zuletzt meinem Schreiben schuldig.
Die Gleichungen der Liebe – wie die des Todes – mögen unlösbar sein, aber sie sind alles, was wir haben.
2021