Der Barbier in einer Nebenrolle als Preis? Wofür?
Ich habe selten ein Gedicht gelesen, das in ermüdend toter Sprache seine eigenen Leerstellen betrachtet. Soll das Lyrik sein?
Sicher ist aber auch, dass man mit einem Rückzug aufs Formale sich allen Anfechtungen, sei es nun im Juristischen, sei es nun im Stilistischen, gegen Anfeindungen und Kritik zur Wehr setzen kann. Das trifft auch auf den Vorwurf der Nichtlyrik zu. Ein Elfchen enthält 11 Silben, ein Anagramm besteht aus einer vorgegebenen Buchstabenmenge, ein Akrostichon nimmt die Buchstabenfolge eines Wortes, um Verse damit beginnen zu lassen, einPalindrom lässt sie vorwärts wie rückwärts lesen, ein Reimgedicht enthält Reime, ein Gedicht enthält Verse, ein Dada-Gedicht sinnlose Wortfolgen. Diese Formspielereien lassen sich beliebig fortsetzen, sie legitimieren eine Zusammenstellung (un)bestimmter Wörter als lyrisches Werk und bauen zugleich Referenzen zu lyrischen Traditionen auf.
Aber ist das schon alles? Ich denke nicht. Hier wird nicht einmal der Kern der Lyrik berührt.
Was aber wäre das? Das ist natürlich nicht leicht und allgemein verbindlich zu sagen. Ich äußere hier meine persönliche Ansicht, was über die Formgestaltung hinaus unverzichtbarer Bestandteil einer Lyrik ist, die diesen Namen auch verdient. Dies ist die Fähigkeit, über Sprache mein inneres Empfinden anzusprechen, es mir selbst zu erschließen, indem es mich allein durch seine Sprache gewahr werden lässt, wie sich die äußere Welt auch in meinem Innersten wiederfindet und umgekehrt.
Ich bin mir allerdings auch darüber im Klaren, dass derartig enge Auffassungen von Lyrik als "Rührig" hier nicht unbedingt auf breite Zustimmung stoßen werden, auch wenn sie wohl immer noch den Mainstream markieren. Manche scheinen hier ja auch Anhänger der "Rebuslyrik" zu sein, eine Art intellektueller Schnitzeljagd mit verfremdeten Bildungsbegriffen.
Wenn allerdings ein Gedicht mit "gerührten Reimen" auf sich aufmerksam macht, ich aber große Schwierigkeiten habe, beim Lesen nicht einzuschlafen (ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es in einem Zug vollständig lesen könnte) und vor meinen Augen ein Bild ensteht, bei dem zwei Spiegel sich gegenseitig betrachten, dann sehe ich mich in meinen schlimmsten Befürchtungen über Ingenieurslyrik bestätigt. Darin zieht die Gedankenfreiheit der mathematischen Logik ihre Rekursionen bis in die Leere von Paradoxien, um daraus Substanz zu gewinnen.
Bestimmte Leute mögen das "interessant" finden, ich auch, denn ich verwende den Begriff meist, um bei aller Ablehnung höflich zu bleiben. Letztlich aber lässt mich das pseudolyrische Sprachgefrickel entsetzlich kalt und "interessant" wird dabei (für mich) eine ganz andere Frage: Was sind das für Menschen, die sich für so etwas begeistern können? Anscheinend sind wir alle doch sehr verschieden.
Grüße
JB