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John Wein

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Heute ist Dienstag, der 21. September

Es ist 8 Uhr, in Tábara sind die Frühtemperaturen einstellig. Ich öffne das Fenster, auf meinen Armen blüht Gänsehaut. Unten in der Gasse ist es noch dunkel, doch vorne über Tabarás Dächern ist im Schattenriss vor honigfarbenem Himmel der Glockenturm der Kirche scharf abgegrenzt. Im Gepäck krame ich nach der langen Wanderhose. Eine Treppe tiefer in der Bar, weckt mich der heiße Cortado. Ich fühle mich gut und freue mich auf den neuen Tag.

Die Etappe nach Santa Marta de Tera ist mit 22 km und nur wenigen Höhenmetern eine gemütliche Angelegenheit. Der Wanderführer sagt mir, dass die Berge näherkommen und mit ihnen der Wald. Die Landschaft wird also wieder abwechslungsreicher. Ich werde heute nicht in Santa Marta übernachten,
die kleine Herberge ist ausgebucht. 6 km abseits des Weges, in Camarzana, habe ich in einem Fernfahrer Hotel ein Bett reserviert. Ich werde dann ein Taxi nehmen.

Mir scheint, als habe man um Tábara herum eine Pilgerumgehung eingerichtet. Von der Kirche weg führen mich die gelben Pfeile einmal um das halbe Dorf herum. Nach km 4 kreuzt im Westen der Weg die Verkehrsstraße, die direkt vom Ort hierherführt, da hätte ich locker 30 Minuten oder 2 km einsparen können. Was soll’s! Im Leben ist nicht immer alles direkt und effizient, auch der Umweg führt am Ende zum Ziel.

Die Morgenschatten sind noch lang, alle Natur um mich herum wird bunter und lauter und die Wege sind nicht mehr mit dem Lineal angelegt. Im Gegenlicht schimmert hohes Hafergras in goldenen Nuancen zwischen mächtigen Steineichen. Ich pfeife ein Lied, es ist ein Tag gemacht für Glücksritter. Bei km 10 teilt sich die Strecke, geradeaus kündet ein Schild von Villanueva mit einer Bar und nach rechts wirbt der Pfeil Richtung Bercianos mit einer Herberge. Meine Wahl fällt auf die Bar.

Villanueva de Peras ist, wie so viele spanische Orte im fernen Abseits der Metropolen, ein sterbendes Dorf. In die roten Lehmwände der umgebenden Hänge hat man tiefe Stollen zur Lagerung des Weins gegraben. Auffällig und schon aus der Ferne erkennt man die Wunden in der grünen Natur. Die Gegend scheint ein guter Ort für die Reifung des Rebsaftes zu sein, die Lager sind zahlreich.

Aufgeregt und wild begrüßen mich die Dorfkläffer, sonst ist da niemand Lebendiges. Die Landwirtschaft allein ernährt nicht mehr, die Jungen zieht es in die Stadt, zurück bleiben die Alten und die sterben irgendwann einmal und mit ihnen die Dörfer. Die gesunde Lehmbauweise, die man in diesem Ort gut studieren kann, ist aufwendig und man hat sie notgedrungen durch industriell gefertigte Ziegel ersetzt. Der alte Bestand verfällt mit den Zeitläufen und hinterlässt hässliche Wunden in den Häuserzeilen.

Vor der Bar „La Plaza“ im Zentrum, das eigentlich nur die Mitte von Villanueva ist, rücke ich die Stühle in den Schatten, einen für mich den anderen für den Rucksack. Innen, auf dem Tresen und für das Auge gefällig und üppig angerichtet, warten verschiedene Tapas und Co auf meine Wahl. Ich nehme Schinken mit Ei dazu eine Empanada. Das zweite Frühstück ist perfekt und übermütig ordere ich ein frisches Mahou dazu. Es wird mich nicht den Führerschein kosten.

Der Weg im Auf und Ab führt endlich um die Mittagszeit in eine weite fruchtbare Ebene und weiter nach Santa Croya. Er kostet mich jetzt ein paar Schweißperlen. Der langgezogene Ort schlängelt sich 2 km an der Hauptstraße mühsam dahin und bis zur Brücke über das träge und schwarze Bett des Rio Tera.

Bergan, hinter dem Fluss einer Festung gleich, thront oben am Plaza Mayor die romanische Kirche von Santa Marta de Tera. Die Uhr zeigt 16 Uhr, die Bar an der Hauptstraße vor mir heißt „Stop“. Wer könnte da nein sagen?! Hier kann ich gleich das Taxi nach Camarzana bestellen. Im Schankraum, unerwartet und mit lautem Holá!, empfängt mich die kleine spanische Pilgergemeinde, mit der ich seit ein paar Tagen das Abendbrot teilte. Alle sind der kleinen, privaten Herberge von Santa Marta untergekrochen. Man schiebt mir den Teller mit den fettigen Fritten vor die Nase, ich habe wenig Hunger doch großen Durst! Juan Antonio, der bärtige Polizeibeamte aus Sevilla, bestellt für mich das Taxi.

Kees ist schon da, es gab um 15 Uhr einen Bus nach Camarzana. Mein Zimmer treppauf ist winzig, ein Bett ein Stuhl und ein Nachtschränkchen. An der N 525, der Durchgangstraße, ist man in erster Linie für den Fernfahrer eingerichtet. „Er is geen water“, der Holländer zuckt mit den Schultern. Aus dem Wasserhahn läuft nur ein dünner Faden, duschen ist erst später möglich. Über meiner Kammer, es ist wirklich nicht zu überhören, werkeln Installateure am System.

Es endet ein ganz normaler Tag auf der Via de la Plata.

Fortsetzung folgt
 
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John Wein

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Camarzana de Tera/Spanien, Dienstag, der 22.September 2021

Gedanken zu Alleinsein und Einsamkeit

In den letzten Jahren bin ich auf den verschiedenen Jakobswegen in Spanien absichtlich allein unterwegs gewesen, und natürlich hatte das auch nachvollziehbare und für mich positiv besetzte Gründe. Die unerfreulichen Erfahrungen, die ich in einer gemeinschaftlichen Reise natürlich auch gemacht hatte, blende ich einmal aus. Allein kann ich selbstbestimmt meine Unternehmungen ohne Rücksichtnahme und/oder mit Hilfe eigenständig durchführen. Ich plane Weg und Tag, sowie An- und Abreise, Verlauf, Tempo, Übernachtungen und Einkehr usw. selbst und individuell .

Obwohl ich viel allein gegangen bin, habe ich mich doch nie einsam gefühlt. Alleinsein ist ja genau betrachtet nichts weiter als ein physischer Zustand, Einsamkeit dagegen ist ein mentales Gefühl und sie ruht immer in einem selbst. Man kann auch in der Menge vieler Menschen ein Empfinden von Isolation und innerer Leere haben. „Für sich sein“, mit Blick auf eigene Gefühle und Bedürfnisse, das ist für mich Grund und Absicht des Alleinseins unterwegs.

Auf der Via de la Plata (Sevilla - Santiago) ist man meistens mutterseelenallein, denn vergleicht man einmal den Pilgerstrom auf dem Französischen Weg mit 190.000 zu 9.000 (2019) bei ungefähr derselben Weglänge, dann erkennt man schnell die Situation. Das geringe Aufkommen übers Jahr auf der Via war die Triebfeder, diese für mich so geschätzten Herausforderung vor zwei Jahren in Sevilla in Angriff zu nehmen und nun fortzuführen.

Natürlich habe ich unterwegs immer den einen oder anderen Pilger getroffen, ja sogar kennengelernt und es war auch immer ein herzliches Verhältnis untereinander, aber das Miteinander beschränkte sich doch ganz überwiegend auf die Etappenorte, an denen man gemeinsam den Tag ausklingen ließ. Auf meiner ganzen Reise, zuletzt ab Salamanca, waren es in den vergangenen 2 Wochen ganze 8 Pilger. Ich habe ich mich trotzdem in keiner Minute einsam gefühlt, denn die Natur hat mich immer bis in die unwirtlichsten und entlegensten Gegenden Spaniens begleitet: Tiere und Pflanzen, Sonne und Regen, Hitze und Kälte, Himmel und Sterne, Geräusche und Gerüche, sie alle waren täglich bei und mit mir. Alles wirkte auf den stillen, sinnlichen Wanderer ein, weckte, stimulierte und vertiefte die Erinnerungen. In ihrer Begleitung bildeten sie Klammer und Schutz, gleich einer behütenden Hülle, um das Alleinsein und bezähmten in mir jedes Einsamkeitsgefühl.

„Der Weg ist das Ziel“, wie abgegriffen das ist, aber so simpel und erklärend zusammengefast! Da maße mir auch nicht gesellschaftsfähige Urteile über die großen Fragen des Lebens an, doch nach kleinen Fragen einer Pilgerschaft, kommt man doch unweigerlich auch zu dem Ganzen, dem Kern und die Sicht auf das eigene Leben gestern und zukünftig und in seiner Verwobenheit in das Netzt von Raum und Zeit hier auf der Erde. Das Alleinsein eröffnet einem eine zweite, weniger verstellte Perspektive auf sich selbst und allgemein auf die Sicht der Dinge im Alltäglichen. Es macht demütiger und damit gelassener, und es wächst. Die Zeit für und zu sich ist gut für die Seele, weil sie die Gelegenheit schenkt, sich selbst besser zu verstehen und zu lieben. Wenn mir dann einmal vor lauter Unbefangenheit unterwegs spontan kein anderes Lied einfällt, dann pfeife ich eben auf die Welt und singe auch mal ein Weihnachtslied. Oh, du Fröhliche!

Aber auch manchmal, dann, wenn das Metronom meiner Schritte und die Monotonie der langen horizontlosen Geraden alle Sinne sanftmütig erschlaffen, einschlafen lässt, dann verschwinden die Empfindungen und Gefühle und der Kopf wird ganz leer und frei. Die Gedanken wandern unmerklich über den Leib nach unten und konzentriert in Beine und Füße und dann wird man zur Maschine. Dann fühlt man sich auf einmal nicht mehr in dieser Welt und alles Geschehen um einen herum, und man geht, und geht, und dann mit einmal wird man am hellen Tag zum Tagträumer und Schlafwandler und alle Zeit, die vergeht und jede Entfernung, die man zurücklegt, wird zu einem ungeschehen Nichts.

Abschließend und In der Summe ist für mich das Alleinsein auf einem Pilgerweg nicht Einsamkeit und introvertierte Abgeschiedenheit, sondern der ideale Rückzug für Entschleunigung von der Routine und der Hektik des Alltags. Es fördert ganz allgemein die Eigenständigkeit und Kreativität, die Naturverbundenheit, die Wertschätzung des Einfachen und den unkomplizierten Umgang mit den Menschen auf diesem Erdenrund, und in mancher Hinsicht hat es mir dabei auch geholfen, mich selbst ein bisschen mehr zu lieben. Selbstliebe, das ist doch schon mal etwas, wenn nicht gar alles.

- Fortsetzung folgt -
 
Da ich mich oft in vergleichbarer Lage befunden habe und auch noch befinde, habe ich diese Abschnitte, John Wein, mit besonderem Interesse gelesen. Widersprechen kann ich nirgends, vieles schätze ich ähnlich ein. Ich will noch einen Effekt ergänzend anführen, den ich an mir selbst immer wieder beobachtet habe und der bei mir eine Hauptrolle spielt. Es ist ein bisschen mechanistisch, nämlich so: Zügiges und lang anhaltendes Alleingehen, also ohne dabei zu reden, regt über die stärker tätigen Funktionen von Kreislauf und Atmung auch die Gehirnaktivität an. In diesem Stadium kann ich hervorragend Strukturen erkennen, Probleme analysieren, Entscheidungen vorbereiten. Ich versetze mich dann auch oft in lange zurückliegende Zeiten und überblicke abgeschlossene Entwicklungen als Ganzes. Gelegentlich kommen mir über Kombination und Assoziation auch Einfälle fürs Schreiben, die ich dann im Kopf vorbearbeite (Stoffsammlung, Gliederung). All das hat zumeist mit dem jeweiligen Ort, an dem ich mich befinde, wenig oder nichts zu tun. Es muss nur eine Gegend sein, die Störungen und Ablenkungen fernhält. Diese neurologischen Effekte sind wohl auch schon Objekt von Forschung und Wissenschaft gewesen.

Bei deinem Text hier könnte ich mir vorstellen, dass diese Gedanken und ihre Gliederung im Kern ebenfalls unterwegs beim Gehen entstanden sind.

Freundliche Grüße
Arno Abendschön
 

onivido

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Hola John, es ist Nacht. Das Wasser faellt vom Himmel. Gerade habe ich mich mit dir auf den Weg gemacht. Das heisst ich bin dir im Abstand gefolgt.
Gute Nacht. ///Onivido
 

molly

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Hallo John,

ich habe mich schon gefragt, was du auf Deiner Pilgerreise für dich mitnimst, außer der Natur. Hier Deine Antwort:
"
"Selbstliebe, das ist doch schon mal etwas, wenn nicht gar alles."

J a, das ist es, ohne Selbstliebe ist es beinahe unmöglich, andere zu lieben.

Alles Gute weiterhin
molly
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Es fördert ganz allgemein die Eigenständigkeit und Kreativität, die Naturverbundenheit, die Wertschätzung des Einfachen und den unkomplizierten Umgang mit den Menschen auf diesem Erdenrund
Wie schön, dass Du hier über die Wonnen des All-Eins-Seins schreibst! Für mich inzwischen ein absolutes Muss in der Meditation, Reflektion, in der Kreativität - im Gegensatz zu den vielen Jahren der Berufstätigkeit, wo ich von morgens bis abends "unter Menschen" war. Wie sehr mich das ausgelaugt und strapaziert hat, sehe ich heute in meinem Bedürfnis, ungestört und "unbesetzt" durch andere zu sein. Ich kann, was Du schreibst, daher sehr gut nachvollziehen.
 

John Wein

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Es ist Mittwoch, der 23. September, Camarzana - Villar de Farfón, 16 km.

Camarzana liegt 3 km abseits der Via de la Plata. Zurück und zum Einstig in den Weg muss Ich hinunter zum Rio Tera und hinüber auf das südliche Ufer. Der Morgen ist sehr frisch und der Himmel überwiegend blau, doch schon im Osten zieht Schichtbewölkung auf und schiebt zögerlich ihre graue Decke das breite Tal hinauf. Nach Regen sieht es noch nicht aus. Kees, der Holländer, ist längst über alle Berge, ich werde ihn in den nächsten Tagen wahrscheinlich nicht wiedersehen.

Das heutige Etappenziel ist die kleine Kirche von Villar de Farfón, dort wird man mich abholen. Im Dorf selbst gibt es kein Unterkommen. Ein Taxi bringt mich dann nach Mombuey, wo ich zwei Tage übernachten werde. Morgen chauffiert man mich zurück nach Villar, um die Etappe mit 16 km nach Mombuey zu Fuß nachzuholen.

Der Weg durch die Flussaue des Rio Tera ist nur spärlich gekennzeichnet und verläuft grundsätzlich nach Westen. Ich muss gut aufpassen und halte mich zur Orientierung strikt an die Beschreibungen des Outdoorführers. Die weite, von der örtlichen Landwirtschaft geprägte Ebene ist im Süden wie Norden durch Bergzüge begrenzt und die meteorologische Strömung treibt Wolken von Osten her talaufwärts in die Enge. Gewitter, „Tormenta“, prophezeit meine Wetter App für den Nachmittag. Noch pfeife ich drauf!

Nach 10 km, in Olleros de Tera, werde ich eine Pause einlegen. Im Ort, Hinweistafeln künden es an, gibt es eine Bar, La Trucha, Die Forelle. Hinter mir schließen die beiden baskischen Frauen von Santa Marta kommend auf. Ihre Sprachkenntnisse sind mir jetzt sehr nützlich. Gemeinsam beschließen wir einzukehren. Doch in Olleros ist zu dieser Tageszeit nirgendwo Leben, die Bar Ist geschlossen, nichts zu machen! Sofia und Mala breiten ihre Vesper auf dem Terrassentisch aus, ich ziehe weiter. Die Atmosphäre in der flachen Gartenlandschaft wird zunehmend bedrohlicher, aber mein Wetterempfinden ist noch ohne Argwohn.

Dominant fern jeglicher Ortschaft, ruht In einer Flussschleife der ländlichen Flur ein ungewöhnlich großes Kirchengebäude. Die vorgelagerte Remise ist ein willkommener Ort für eine Stärkung. Hinten, in der Entfernung, hier kaum vernehmlich, tosen die abfließenden Wasser aus dem Stausee des Rio Tera in ihr altes Bett zurück. Zwei Saatkrähen, vorwitzig und lautstark, zeigen ihr Interesse an meinem Besuch, hier gibt es vielleicht was zu holen. Erste schwere Tropfen platzen im Staub und verhalten, so als wollte der Himmel sich vor dem Überlaufen noch einmal sammeln, kommt ein leichter, warmer Wind auf. Oben wälzen niedrige Wolken graue Pakete über den Talboden. Es ist eine eigenartige Stimmung in dieser Abgeschiedenheit des spanisch-portugiesischen Grenzlandes. Vorsichtshalber krame Ich nach dem Anorak.

Der Weg über die Krone Staumauer 50 m über dem Talboden bemisst sich auf 500 m Länge. Das beeindruckende Bauwerk mit dem Turbinenhaus unten am Fuß staut den Rio Tera zu einem See und führt am Uferweg beschaulich und eben über Villar de Farfón nach Rio Negro del Puente. Grollend präsentiert sich das Spektakel über mir und wächst sich mit seiner Drohkulisse brausend über dem See hinweg zu einem Unwetter aus. Böen kräuseln das Wasser und fegen in den Birken am Ufer. Sonst ist es still, so, als warte alle Natur auf den einen Moment des Startzeichens. Eigentlich wäre Regen nicht das Problem, es sind die Entladungen der Atmosphäre, die mir Respekt abfordern. Noch sind es 3 km bis Villar und eine Dreiviertelstunde auf der Uhr. Ein Ich werde schneller, hinter mir die beiden Spanierinnen ebenfalls. In dem Buschland ist weit und breit keinen Unterstand auszumachen. Dunkle Korvetten jagen grollend über den Himmel. Dann fallen erste Tropfen und verdichten sich bald zu Strichen. Ich laufe, die Frauen halten mit! Glücklicherweise liegen die schwärzesten Pakete nicht vor uns, das macht Hoffnung. Rechts hinter einer hohen Mauerumfriedung erkenne ich bereits den Friedhof von Villar, Zuversicht kehrt ein! Noch 500m und wir passieren das Ortsschild. Das winzige Kirchlein des halbverlassenen und -verfallenen Dorfes, bietet unter seinem schützenden Vordach den sicheren Unterstand. Mit Blitz und Donnerkrachen entlädt sich die entfesselte Natur und in dichten Fahnen fegen die Böen den Regen prasselnd über das Pflaster. In Sturzbächen ergießt sich das Wasser in die umliegenden Wiesen. Wir sind gerettet!

16 Uhr, mein Taxi aus Mombuey ist pünktlich. Auch die beiden Spanierinnen steigen ein. Ihre Herberge liegt auf halbem Weg in Rio Negro del Puente.

Mombuey, in der Bar des „La Ruta“, meinem Nachtquartier an der N525, wähle ich zum Milchkaffee eine Ensaimada, eine mit Kürbismarmelade, cabello de ángel, gefüllte Hefeschnecke. Es ist mein süßer Tröster an diesem ausklingenden Regentag.

- Fortsetzung folgt -
 

John Wein

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Donnerstag, 22. September 2021, Villar de Farfón - Mombuey 16 km

Spanien öffnet des morgens erst um 9. Ich könnte längst unterwegs sein, aber der Taxista hat seine geregelte Arbeitszeit. Eine halbe Stunde später lädt er mich an der kleinen Kirche in Villar de Farfón wieder aus.

Was für ein schöner Morgen! Nachdem das Gewitter am Abend die Luft gereinigt hat, strahlt der Himmel über dem Dorf in seinem schönsten Blau. Eine bunte Vogelschar zwitschert in den verschlafenen Gassen ihr vielstimmiges Lied. Erdverwachsen und andächtig ducken sich die Häuser entlang der Calle Iglesia, wie vor hundert Jahren und behüten ihre Geschichten vom Leben und Sterben ihrer Bewohner. Ich bin über die Treppenquadern hinauf und auf den Balkon des Kirchengemäuers gestiegen und betrachte Villar von hier und über die roten Ziegeldächer hinweg in das bewaldete Umland. Maria heißt eine der reich verzierten, bronzenen Glocken in meinem Rücken. Sie animiert mich zum Ausprobieren. Ihr Klöppelschlag antwortet unmittelbar laut mit einem klaren, hellen Ton, der erst im Nachhall langsam abschwillt. Ertappt und erschrocken blicke ich mich um, doch niemand ist hier, der Anstoß nehmen könnte. Nur die Vögel halten ein mit ihrem Gesang. Es ist, als ob das Dorf alle Regungen absorbiert und nur das übrig lässt, was selbst so still und versunken in sich ruht, wie es selbst. Da ist sonst nichts.

Am Ende der Calle Iglesia, entdecke ich mit wildem Wein berankt, ein halb geöffnetes Tor. Albergue steht links an der Bruchsteinmauer, also gibt es in aller Abgeschiedenheit doch eine Schlafmöglichkeit. Ich bin versucht reinzuschauen und trete in einen überdachten Innenhof, der den Blick zu einem üppigen Blumengarten freigibt. Dahinter erkenne ich, zwischen wuchernden Weinranken und Jasmin, den Eigentümer auf dem Dach des Hauses. Eine freundliche Frauenstimme in der Tür bittet mich zu setzen. „Would you like a coffee?“ Mich erstaunt die Frage in akzentfreiem Englisch und nach einer Höflichkeitspause willige ich gerne ein. Aus dem Garten schickt der Jasmin einen Hauch Parfüm herüber. „South Africa“, erklärt sie. Sie haben sich hier auf dem Land mit ihrer privaten Herberge im hintersten spanischen Winkel das Paradies geschaffen, sich ihren Traum, ein Leben in Einfachheit und Demut, erfüllt. Sinngestärkt und mit freundlicher Begleitmusik: „buen camino!“, werde ich auf den Weg entlassen. Dieser Tag beginnt freundlich.

Durch einen mit einer Bruchsteinmauer eingefassten Hohlweg geht es leicht berauf in einen dichten Steineichenwald. Oben, wo sich der Weg verzweigt, öffnet sich der Blick über das Land und ich erkenne Rio Negro unten im Tal und dahinter die fernen Berge der kantabrischen Kette mit ihrem scharf begrenzten Horizont. Ein junger Hirsch, schon mit stattlichem Geweih, steht unvermittelt vor mir. Doch bevor ich es überrascht realisiere, ist er auch schon ins schützende Grün der Bäume und Büsche eingetaucht. Ich bin also nicht allein in der Natur, da sind überall Augen, Ohren und Nasen, die beobachten, lauschen, wittern und meinen naturentwöhnten Sinnen ein Schnippchen schlagen.

Der Rio Negro im gleichnamigen Dorf ist auch unverkennbar schwarz und fließt handbreit seicht aber meterbreit und träge zu seiner Mündung im Stausee. Die drei hohen Brückenbögen der N525 künden von seiner ungestümen Wildheit im Frühjahr bei Regen und Schmelze, immerhin entspringt er in den weit über tausend Meter hohen Bergen im Norden. Zeit und Wetter aber drängen heute nicht, die Bar im Dorf zieht mich an für eine kleine Rast.

Bergan über die Autovia 525 hinweg, trete ich in eine baumlose Almlandschaft, die sich nach und nach vor dem Hintergrund der Berge in eine mit Birken und Findlingen besetzte Heidelandschaft verwandelt. Es gibt jetzt keinen eindeutig erkennbaren Fußweg mehr, doch links erkennt man die Richtung am Verlauf der Nationalstraße. Ich setze mich auf einen der Brocken im Gras, sitze einfach nur da, träume und freue mich über diesen glücklichen, schönen Herbsttag. Gegenüber in der Ferne gründen die Berge still und gelassen in ihrer ewigen Unendlichkeit

Je länger ich jetzt gegangen bin, desto mehr fühle ich mich unterwegs daheim. Eigentlich ist die Via de La Plata, wie viele andere Pilgerwege ja auch, ein ganz simpler Weg. Seine Bedeutung und Weihe bekommt er erst durch den, der ihn geht und sinnlich empfindet und das Geschehen dabei, positiv wie negativ, einbezieht. Abschiedsgedanken! Heute bin ich auf der vorletzten Etappe dieses Abschnitts ab Salamanca. Ein bisschen Wehmut bestimmt meine Gefühle. Übermorgen schon werde ich wieder im Flugzeug sitzen, entschweben und in einer ganz anderen, fremden Welt erwachen.

Abendstimmung. Ich sitze auf der kleinen, berankten Veranda des Fernfahrerhotels und betrachte den Verkehr an der mäßig befahrenen N 525 und der kleinen Tankstelle gegenüber. Hier läuft das ganz normale Tagesgeschäft, langweilig ohne Breite und Tiefe. Man könnte darüber hinweggehen, keine Gedanken an das Belanglose verschwenden und vermeintlich Nützliches tun. Doch wenn man genauer hinschaut und beobachtet, dann erkennt die Phantasie auch im beliebigen, gedankenlosen und gleichgültigen Geschehen, Geschichten

Ich erinnere mich an den MTB-Fahrer vor zwei Tagen, der mir in der Unendlichkeit der Meseta einen aufgefundenen, elektronischen Autoschlüssel mit der Bitte aufgedrängt hatte, ihn bei der nächsten örtlichen Polizeidienststelle abzugeben. Ich habe den Schlüssel im Rucksack total vergessen, war während der letzten hundert Km nicht einem Polizeiposten begegnet und konnte auch weiter keine Angaben machen. Nebenan übergebe ich dem Tankwart den Schlüssel, der ihn gleichgültig in der Schublade ablegt, unterdessen ich an der Geschichte weiterspinne.

Die Zeit drängt nicht, hier im ländlichen Kastilien. Das Abendessen im Comedor, „menu del dia“, wird im Allgemeinen erst um 21 Uhr aufgetragen. Heute serviert man mir zum Roten: sopa de lentejas und bacalao con fritas.

Buen proveche!
 
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John Wein

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Freitag, der 22. September, Asturianos – Puebla de Sanbría 16 km

Letzte Tag

6 Uhr, ich reibe mir die Augen. Ein anhaltendes, unheiliches Brausen liegt in der Luft. Im Halbschlaf noch ziehe ich die Jalousie hoch und bin hellwach. Draußen probt die Natur den Weltuntergang, Regen prasselt gegen die Scheiben. Ich öffne das Fenster, vor mir im Kegel des Lichts, verschwimmen alle Konturen. Wassermassen ergießen sich in einem Schwall ins Dunkel der Tiefe, was für eine Entwicklung! Ich mache mir keine Illusionen, dieser Tag verlangt Demut.

Ich schließe das Fenster und suche gleichermaßen nach Fassung und der Fernbedienung. Aber was soll der Wetterbericht schon Neues prognostizieren, die Apokalypse da draußen ist ja nicht zu ignorieren, da helfen auf „La Uno“ selbst die schönsten Formulierungsschleifchen der spanischer Wetterfee nicht weiter. Katzenwäsche, Rasieren, Zähneputzen, irgendwie und weiter hoffe ich, so werde ich aus dieser Nummer rauskommen. Ich bin kein Weichei, aber die Ahnung eines Gefühls von kühler Nässe auf der Haut und ausgerechnet am letzten Tag, ist mir doch unangenehm. Die 32 Km habe ich jetzt vom Tagesplan gestrichen, die Hälfte, von Asturianos gemessen, soll reichen und wenn der Regen noch immer nicht aufgibt, fahre ich die ganze Etappe mit dem Taxi, Punkt! Morgen um 7:30 in ist die einzige Zugverbindung von Puebla de Sanabría nach Zamora mit Anschluss Madrid, da werde ich meine Kondition heute nicht in Westkastiliens Waschküche verplempern.

Unten, im dunstschwangeren Brodem der Bar sind nahezu alle Tische besetzt. Eine gemischte Schaar Wildhüter tunkt ihre Churros in den Kaffee und bespricht dabei das bioökonomische Geschäftsmodell Wald. Ihre Uninformiertheit gebietet unterschwellig Respekt. Ich verkrieche mich in die letzte freie Ecke unter den riesigen, rabauzigen Bildschirm und tröste mich mit dem grätschenden Ballett behaarter Fußballerbeine. Um die Theke, gewissermaßen auf Durchreise, kreisen die Brummifahrer für einen Cortado, Armani und Lauren im Arbeiter Dekolleté. Gegen den Lärm bin ich altersimmun, aber der Gout von nassem Loden im Duett mit dem Odem verschwitzter Unterhemden, hat für meine Nase doch eine ganz andere Qualität, ist sozusagen Chili, nach Pfeffer und Rettich. Da spielen röscher Brötchenduft und würziges Kaffeearoma nur noch die zweite Geige im Konzert.

Mittlerweile ist es neun. Die dunklen Wolken haben sich ihrer schweren Last entledigt und nieseln betrübt in den Morgen. Wir sind unterwegs. Die Wischer radieren im Intervall mühelos das Nass von der Scheibe. Ich habe mich entschieden und Javier schmeißt mich in Asturianos raus! Hier und jetzt beginnt die letzte Etappe meiner diesjährigen Pilgerreise.

Hingestreckt, und niedrig in ihren Proportionen hockt die Dorfkirche mit weitausladendem Schieferdach auf dem weitläufigen Anger gleich einer Schildkröte mit aufgerichteten Hals. Ein matter, gelber Pfeil am verwitterten Gemäuer zeigt mir die Richtung. Unter mir quaatscht die Wiese bei jedem Sambatritt. Ich könnte heulen, aber ich muss da durch! Es ist mein ehernes Camino Versprechen und es duldet keinen Widerspruch.

Bald verschluckt mich ein gespenstischer Urwald mit knorrigen Trollen, hängenden Schlingpflanzen, Flechten und wilden Brombeeranken. Es trieft rechts und links aus den Kronen und unter dem Blätterdach ist der Pfad übersät mit Pfützen, Schlammlöchern und Sumpf. Ich muss vorsichtig sein, manchmal von einem Stein zum anderen hüpfen und balancieren, um auf dem schlüpfrigen Untergrund nicht auszurutschen. Auf 1000m Seehöhe bin ich am höchsten Punkt meiner Reise angelangt und friere erbärmlich.

Remesal, eine Häuserzeile, eine Wasserstelle und die Gedenktafel vom Besuch der Königinmutter hier oben, alles schläft in stiller Bedeutungslosigkeit. Dann verschluckt mich erneut die blaugrüne Natur. Nebel nistet zwischen den Stämmen mit ihrem knorrigen Wurzelgeflecht, beharrlich und unheimlich verbirgt er alle Weite hinter den flechtenbemoosten Gnomen. Stille. Nur das rhythmische Platsch, Platsch meiner Schritte im Nass, stört die Friedhofsruhe.

Da zieht Mutter Natur den Vorhang auf und auf der Bühne erscheint Otero, ein kleines Dorf wie aus der Zeit gefallen, auch hier kein erkennbares Leben zwischen den Mauern. Die Kirche mit ihrer merkwürdigen Turmkuppel ist grau und wie der Wald aus dem ich komme mit Flechten- und Moss überwittert. Sie bietet mir auf einer Bank in der Loggia das willkommene Plätzchen zum Verweilen. Hinter mir an der Wand, auf einem mittelalterlichen Relief flehend und nackt, betteln im lodernden Höllenfeuer Männlein und Weiblein ums Leben, darüber eine stilisierte Muschel. Da kann ich nur froh sein, so hat man früher den armen Jakobspilgern Beine gemacht. Ich verzehre meine Ration und lasse die Gedanken in das Leben einer ferner Vergangenheit wandern. Damals, konnten die einfachen Menschen weder schreiben noch lesen. Man musste zuhören und sehen, was man von den Kanzeln herab predigte und in den Bildern der Retabeln drastisch vor Augen geführt bekam. Hier wurden Gottesfurcht und Demut belohnt mit dem Leben nach dem Leben und dort Saus und Braus gesühnt mit dem Tod nach dem Irdischen. Jetzt kannst du dir’s aussuchen! Das Leben stellt die Fragen, die richtigen Antworten gibt der Himmel. Was man hatte, hatte man auf alle Fälle "erlebt" und von dem was sein würde….., aber wer weiß das schon!

Über Otero wird der Himmel freundlich und gibt den Blick frei auf eine liebliche Tal- und Berglandschaft. Noch nisten über den Wäldern der Bergflanken letzte Nebelschwaden, während man tief unten in dunkler Ferne schon das Ziel Puebla de Sanabria erkennt. Mich überkommt, wie jedes Mal, wenn ein Ende naht, neben der Erleichterung auch eine stille Wehmut. Noch muss meine innere Rückschau warten, jetzt gilt es zunächst, auf den Weg zu achten und nicht blind drauflos zu marschieren.

Puebla de Sanabria am Rio Tera ist kein Dorf mehr aber auch noch keine Stadt. Der jüngere Ortsteil schmiegt sich in die Flussschleife und oben auf einem Felsen, thront die mauerbewehrte Burg mit dem historischen Kern. Das kleine Hotel Tierra de Lobos, mein Quartier in der Unterstadt ist geöffnet, aber ohne erkennbares Leben. Ich schlage auf die Glocke am Empfang und warte.

- Fortsetzung folgt -
 

onivido

Mitglied
Hola John,
ich war dabei und habe gefroestelt. Wie immer sehr bildhaft zum Miterleben geschrieben. Ich kann den Neid nicht vermeiden.
Onivido
 



 
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