Freitag, der 22. September, Asturianos – Puebla de Sanbría 16 km
Letzte Tag
6 Uhr, ich reibe mir die Augen. Ein anhaltendes, unheiliches Brausen liegt in der Luft. Im Halbschlaf noch ziehe ich die Jalousie hoch und bin hellwach. Draußen probt die Natur den Weltuntergang, Regen prasselt gegen die Scheiben. Ich öffne das Fenster, vor mir im Kegel des Lichts, verschwimmen alle Konturen. Wassermassen ergießen sich in einem Schwall ins Dunkel der Tiefe, was für eine Entwicklung! Ich mache mir keine Illusionen, dieser Tag verlangt Demut.
Ich schließe das Fenster und suche gleichermaßen nach Fassung und der Fernbedienung. Aber was soll der Wetterbericht schon Neues prognostizieren, die Apokalypse da draußen ist ja nicht zu ignorieren, da helfen auf „La Uno“ selbst die schönsten Formulierungsschleifchen der spanischer Wetterfee nicht weiter. Katzenwäsche, Rasieren, Zähneputzen, irgendwie und weiter hoffe ich, so werde ich aus dieser Nummer rauskommen. Ich bin kein Weichei, aber die Ahnung eines Gefühls von kühler Nässe auf der Haut und ausgerechnet am letzten Tag, ist mir doch unangenehm. Die 32 Km habe ich jetzt vom Tagesplan gestrichen, die Hälfte, von Asturianos gemessen, soll reichen und wenn der Regen noch immer nicht aufgibt, fahre ich die ganze Etappe mit dem Taxi, Punkt! Morgen um 7:30 in ist die einzige Zugverbindung von Puebla de Sanabría nach Zamora mit Anschluss Madrid, da werde ich meine Kondition heute nicht in Westkastiliens Waschküche verplempern.
Unten, im dunstschwangeren Brodem der Bar sind nahezu alle Tische besetzt. Eine gemischte Schaar Wildhüter tunkt ihre Churros in den Kaffee und bespricht dabei das bioökonomische Geschäftsmodell Wald. Ihre Uninformiertheit gebietet unterschwellig Respekt. Ich verkrieche mich in die letzte freie Ecke unter den riesigen, rabauzigen Bildschirm und tröste mich mit dem grätschenden Ballett behaarter Fußballerbeine. Um die Theke, gewissermaßen auf Durchreise, kreisen die Brummifahrer für einen Cortado, Armani und Lauren im Arbeiter Dekolleté. Gegen den Lärm bin ich altersimmun, aber der Gout von nassem Loden im Duett mit dem Odem verschwitzter Unterhemden, hat für meine Nase doch eine ganz andere Qualität, ist sozusagen Chili, nach Pfeffer und Rettich. Da spielen röscher Brötchenduft und würziges Kaffeearoma nur noch die zweite Geige im Konzert.
Mittlerweile ist es neun. Die dunklen Wolken haben sich ihrer schweren Last entledigt und nieseln betrübt in den Morgen. Wir sind unterwegs. Die Wischer radieren im Intervall mühelos das Nass von der Scheibe. Ich habe mich entschieden und Javier schmeißt mich in Asturianos raus! Hier und jetzt beginnt die letzte Etappe meiner diesjährigen Pilgerreise.
Hingestreckt, und niedrig in ihren Proportionen hockt die Dorfkirche mit weitausladendem Schieferdach auf dem weitläufigen Anger gleich einer Schildkröte mit aufgerichteten Hals. Ein matter, gelber Pfeil am verwitterten Gemäuer zeigt mir die Richtung. Unter mir quaatscht die Wiese bei jedem Sambatritt. Ich könnte heulen, aber ich muss da durch! Es ist mein ehernes Camino Versprechen und es duldet keinen Widerspruch.
Bald verschluckt mich ein gespenstischer Urwald mit knorrigen Trollen, hängenden Schlingpflanzen, Flechten und wilden Brombeeranken. Es trieft rechts und links aus den Kronen und unter dem Blätterdach ist der Pfad übersät mit Pfützen, Schlammlöchern und Sumpf. Ich muss vorsichtig sein, manchmal von einem Stein zum anderen hüpfen und balancieren, um auf dem schlüpfrigen Untergrund nicht auszurutschen. Auf 1000m Seehöhe bin ich am höchsten Punkt meiner Reise angelangt und friere erbärmlich.
Remesal, eine Häuserzeile, eine Wasserstelle und die Gedenktafel vom Besuch der Königinmutter hier oben, alles schläft in stiller Bedeutungslosigkeit. Dann verschluckt mich erneut die blaugrüne Natur. Nebel nistet zwischen den Stämmen mit ihrem knorrigen Wurzelgeflecht, beharrlich und unheimlich verbirgt er alle Weite hinter den flechtenbemoosten Gnomen. Stille. Nur das rhythmische Platsch, Platsch meiner Schritte im Nass, stört die Friedhofsruhe.
Da zieht Mutter Natur den Vorhang auf und auf der Bühne erscheint Otero, ein kleines Dorf wie aus der Zeit gefallen, auch hier kein erkennbares Leben zwischen den Mauern. Die Kirche mit ihrer merkwürdigen Turmkuppel ist grau und wie der Wald aus dem ich komme mit Flechten- und Moss überwittert. Sie bietet mir auf einer Bank in der Loggia das willkommene Plätzchen zum Verweilen. Hinter mir an der Wand, auf einem mittelalterlichen Relief flehend und nackt, betteln im lodernden Höllenfeuer Männlein und Weiblein ums Leben, darüber eine stilisierte Muschel. Da kann ich nur froh sein, so hat man früher den armen Jakobspilgern Beine gemacht. Ich verzehre meine Ration und lasse die Gedanken in das Leben einer ferner Vergangenheit wandern. Damals, konnten die einfachen Menschen weder schreiben noch lesen. Man musste zuhören und sehen, was man von den Kanzeln herab predigte und in den Bildern der Retabeln drastisch vor Augen geführt bekam. Hier wurden Gottesfurcht und Demut belohnt mit dem Leben nach dem Leben und dort Saus und Braus gesühnt mit dem Tod nach dem Irdischen. Jetzt kannst du dir’s aussuchen! Das Leben stellt die Fragen, die richtigen Antworten gibt der Himmel. Was man hatte, hatte man auf alle Fälle "erlebt" und von dem was sein würde….., aber wer weiß das schon!
Über Otero wird der Himmel freundlich und gibt den Blick frei auf eine liebliche Tal- und Berglandschaft. Noch nisten über den Wäldern der Bergflanken letzte Nebelschwaden, während man tief unten in dunkler Ferne schon das Ziel Puebla de Sanabria erkennt. Mich überkommt, wie jedes Mal, wenn ein Ende naht, neben der Erleichterung auch eine stille Wehmut. Noch muss meine innere Rückschau warten, jetzt gilt es zunächst, auf den Weg zu achten und nicht blind drauflos zu marschieren.
Puebla de Sanabria am Rio Tera ist kein Dorf mehr aber auch noch keine Stadt. Der jüngere Ortsteil schmiegt sich in die Flussschleife und oben auf einem Felsen, thront die mauerbewehrte Burg mit dem historischen Kern. Das kleine Hotel Tierra de Lobos, mein Quartier in der Unterstadt ist geöffnet, aber ohne erkennbares Leben. Ich schlage auf die Glocke am Empfang und warte.
- Fortsetzung folgt -