Nur ein Betriebsunfall

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Lisa König

Mitglied
Verkehrsunfall

Hallo flammarion,

wenn der letzte Satz nicht unter Deiner Erzählung stehen würde, hätte ich mich und Dich gefragt, ob diese Ungeheuerlichkeiten der Tatsache entsprechen. Abgesehen von den Namen könnte die Geschichte im Mittelalter vorgekommen sein wie auch heute. Selbst diese fragwürdigen Abtreibungsmethoden halte ich auch heute noch für möglich. Mich hat das auch traurig gestimmt.

Liebe Grüße

Lisa König
 

MarenS

Mitglied
Eine Geschichte die zwischen Zeitungsberichterstattung und Hinterhaustratsch schwankt und doch keins von beiden ist. Irgendetwas lässt näher hinschauen.

Eine Kleinigkeit:
Das war ihnen jedes Mal [red]ein herrliches Gaudi[/red]
Dir Gaudi ist weiblich ;-), also eine herrliche Gaudi.

Grüße von Maren
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
Nur ein Betriebsunfall

„Stell dir vor, Mama, die Gabi ist schwanger und ihre Mutter hat sie rausgeworfen! Sie hat gesagt: Wer erwachsen genug ist, sich mit einem Mann einzulassen, der ist auch fähig, einen eigenen Haushalt zu führen. Und hat ihre Sachen gepackt und vor die Tür gestellt. Darf die das überhaupt? Gabi ist doch erst siebzehn!“
Frau L. hielt im Schrubben inne. „Ja“, sagte sie dann, „das ist traurig. Wenn dir mal so was passiert wie deine Freundin, brauchst du keine Angst haben, ich werf dich nicht raus, ich machs dir weg.“
Gloria L. stutzte. Wie meinte die Mutter denn das? Sie forschte: „Du meinst abtreiben? Aber da machst du dich doch strafbar!“ Frau L. schnaufte: „Ja, ich mach mich strafbar, die Frau, die es sich machen lässt, macht sich strafbar, nur die Männer, die wild in der Gegend rumficken, die machen sich nich strafbar. Kastrieren sollte man die!“
Gloria kicherte. Dann hakte sie nach: „Machst du wirklich solche Sachen, Mama?“ – „Klar doch. Zuerst habe ich es nur bei mir selber gemacht, sonst hättest du noch viel mehr Geschwister. Dann kam diese und jene und bat mich um Hilfe. Ich bekam gutes Geld dafür. Was meinst du wohl, wer dein Kleid bezahlt hat, das du zum Geburtstag bekommen hast, dein versoffener Vater vielleicht? Mach dir keine Sorgen, Kind, solang du eine Mutter hast, danke Gott und sei zufrieden.“

Ein paar Monate später gestand Gloria ihrer Mutter, dass sie schwanger ist. Auf einer Party nach dem Schulabschluss war es hoch her gegangen und sie konnte sich nicht mehr erinnern, mit wem sie gelegen hatte. Frau L. untersuchte ihre Tochter und entsetzte sich: „Himmel, du bist ja schon Ende vierten Monat! Konnteste denn nich früher zu mir komm? Ich hab dir doch gesagt, dass ich das in Ordnung bringe, aber doch nich so spät!“ Gloria schluchzte: „Ich habs doch nich eher gemerkt! Kannst du es jetze nich mehr?“ Die Mutter antwortete: „Der Mensch kann alles, er muss nur wollen.“ Und machte sich ans Werk.
Leider war alle Mühe vergeblich. Die Frucht saß fest. Das letzte Mittel wäre, die Fruchtblase aufzustechen, aber dazu konnte Frau L. sich nicht durchringen, sie fürchtete, nicht nur das Enkelchen, sondern auch die Tochter zu verletzen.
So kam zum vorausberechneten Geburtstermin ein kleines Mädchen zur Welt. Scheinbar völlig gesund, die Angehörigen atmeten auf. Eines Tages aber ward klar: Klein Amely konnte nicht sehen.

Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Gloria eine eigene Wohnung bekommen, denn es war unzumutbar, dass sie mit dem Säugling in der Zweiraumwohnung blieb, wo sie bisher mit den Eltern und ihren beiden jüngeren Geschwistern gelebt hatte. Nun war sie immer öfter bei den Eltern zu Gast, um sich auszuheulen. Die Mutter hielt ihr vor, dass alles besser verlaufen wäre, wenn sie rechtzeitig zu ihr gekommen wäre. Als das nicht half, versuchte sie zu trösten: „So n kleener Betriebsunfall kann doch schon mal passieren.“, und bekam zur Antwort: „Das hast du nur deswegen vermasselt, damit du mich aus m Haus kriegst!“

Frau L. sah, dass die Tochter mit dem blinden Kind überfordert war, aber sie selber war es auch. Keiner in dieser Familie wusste, wie man mit Behinderten umgeht. Wenn Gloria die Kleine knuffte, mahnte die Mutter zwar: „Eine Mutter liebt ihr Kind!“, doch Gloria zischelte: „N Kind vielleicht, aber so ne Blindschleiche?“

Überhaupt ging man mit Amely ziemlich ruppig um in dieser Familie. Der Opa verließ die Wohnung, sobald das Kind in Sicht kam und die Oma wäre auch gern geflüchtet. Der jugendliche Onkel legte der Kleinen Reißzwecken auf den Stuhl, die Tante spuckte ihr ins Essen. Sie kamen sich sehr klug und überlegen vor, wenn sie etwas „vor den Augen“ der Blinden taten, was ihr nachher zum Verhängnis wurde. Das war ihnen jedes Mal eine herrliche Gaudi, die sie genießen konnten, ohne Eintritt bezahlen zu müssen.
„Besser wie Dick und Doof!“, krähten sie, wenn sie wieder einmal allerlei kleine Gegenstände auf den Fußboden gelegt hatten, über welche Amely unweigerlich stolpern musste und hinfiel.

Gloria knirschte mit den Zähnen: „Kleener Betriebsunfall! Mein ganzes Leben ist versaut durch dir!“ Als sie merkte, dass die Tochter intelligenter war als sie, brachte sie sie nicht mehr zur Blindenschule. Da kam das Kind in ein Heim. Endlich war Gloria die Blage los, aber dafür hatte sie der Alkohol fest im Griff . . .


Geschrieben im Mai 2003, geschehen 1953 in Ost-Berlin
Namen der Personen geändert
 

Clara

Mitglied
hallo flammarion
ich habe den Text nun heute auch gelesen.
Ich meine nicht, das die Behinderung das A und O ist,
sondern dieser dümmliche Gleichmut der Mutter.
Sie gibt vor sich zu helfen zu wissen - war ja auch damals so - mit Stricknadel und anderem Krams wurde abgetrieben -
ich will nicht sagen: es war usus. Aber eine öffentliche Möglichkeit gabs meines Wissens noch lange bis zur Pille, nur im Ausland. Oder sehr treffsichere Gründe.

Mir scheint, hier zehrt das soziale Mileu an den Kindern und Kindeskindern. Einerseits, ordentlich und moralisch sich zu verhalten, den anderen gegenüber, aber eben doch nicht mit dem Intellekt, den Frauen heute hätten (und nicht nur die - die gesamte Familie war ja durchsetzt von dem was nicht sein darf, gibt es nicht.
Gelesen habe ich zudem, dass es sich um ein Besatzerkind handelte - auch eine böse Sache - wurden doch die Frauen meist unfreiwillig schwanger, mussten sich aber quasi prostituieren um überhaupt am Leben bleiben zu können, wegen dem Mangel in jeder Hinsicht.
Erstaunlich empfand ich aber doch, das der saufende Vater wohl das Aufwachsen der Tochter mitbekam, so er denn nüchtern war. Normalerweise wurden doch die gesamten Männer eingezogen oder hatten eine Kriegsaufgabe vor Ort.

Ich habe durchaus schon bösartige Menschen kennengelernt, aber so denn doch nicht, dass man einem Balg die Reiszwecken unter den Podex klemmt - das ist wirklich alles sehr bösartig und gefühllos, was dem kleinen u.a. Enkelkind da wiederfahren ist.

Das schlimme daran ist, das diese Anfangsgeschichte durchaus ihre Wiederholungen haben könnte - es sei das Balg hat so gelitten, dass es eh in die psyhiachtrische Behandlung irgendwann gegangen ist und dieser endlose Strom von Familiengepflogenheiten und Tabus einfach mal durchbrochen wird.
Du hast in den Antworten häufiger von "ich" gesprochen - ich möchte mir grad nicht ausmalen, welches ICH aus der Geschichte sich darin spiegelt. Hoffe und bitte aber sehr, dass alles gut ausgehen wird. Das ist ja kaum zu ertragen.

lg Clara
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

liebe clara, danke, dass du dich mit meinem text so ausführlich auseinandergesetzt hast.
das ich ist nur ein außenstehender beobachter, der damals selbst noch ein kind war.
lg
 
K

Kasper Grimm

Gast
makaber

Ha, ich las die Geschichte, und gleich darunter war ne Reklame für eine Unfallversicherung, das war noch zusätzlich makaber.
Der Text berührt. Er ist hier sehr knapp. Gewiß steckt in ihm ein ganzer Roman. Die Figuren sind umrissen, skizziert. Gern hätte ich mehr von ihnen erfahren.
 
Z

zugast

Gast
was für ein blödsinn! kam nicht noch jemand ins tierheim?

jeder lindenstraßendrehbuchautor schreibt am fließband besseres.

wieso veröffentlicht man sowas? alles nur mitteilungsdrang?
wer bewertet sowas aus welchen gründen gut?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
danke

fürs lesen und kommentieren, zugast.
die bekanntschaft mit dir hat mich jedenfalls zu einer fantasy story über einen troll inspiriert.
lg
 
S

suzah

Gast
suchet so werdet ihr finden.

wer hat denn den zwei jahre alten text herausgeholt, um ihn zu kommentieren?

ach so, das war zugast - nun ja...

suzah
 

Ernu

Mitglied
Ein bedrückender Text, zu dem mir nur der Schluss "zu lapidar" ausgefallen ist. Das liegt allerdings nicht unbedingt am Erzählten, sondern wohl eher an meiner romantischen Ader, die stets nach einem Happy-end sucht.
Ja, ein guter Text. Und eine gute Möglichkeit, deinen Gruß zu erwidern, Flammarion. Ich dank' dir.
 

Lisa König

Mitglied
Verkehrsunfall

Hallo Ernu,

man sollte nicht glauben, dass nach fast 10 Jahren diese Geschichte von flammarion noch für Gesprächsstoff sorgt, aber warum ist dir das Wort "labidar" ausgefallen und nicht eingefallen? (Soll `n Späßken sein!)
Liebe Grüße an Flammarion.

Lisa König
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

authentische geschichten enden manchmal lapidar. ich hätt es höchstens noch trauriger machen können, aber ich wollte bei der wahrheit bleiben.
danke für s lesen und kommentieren.
lg
 



 
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