Nur Gott war Zeuge

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Ruedipferd

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Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war eigentlich Theologin von Beruf gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.

Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 08.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen, den sie bereits für ihn aufbewahrt hatte. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor.
Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war schon deshalb ein Dorn im Auge des erfolgreichen Kommissars gewesen, weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht lösen konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung gehörte die Tat immer noch zu den Unaufgeklärten. Was geschah damals?

Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.

Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer heißen Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten nur als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch an diesem Roman war irgendetwas anders. Friedrich verließ den Sessel nur, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.

„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.

Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, sondern niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.

Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht, Chef. So etwas habe ich noch nie gelesen. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.

„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin herstellen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.

„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er es selbst, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.

„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet.
„Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!

„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Liebe nicht zeigen.
Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die wegen der Missbrauchsskandale schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden. Dass konnte ich auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge.

„Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus. Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen. Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.

„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“

Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Friedrich Weilheim schrieb eine unverfängliche Aktennotiz und der ungelöste Fall Professor Börner wanderte zurück ins Archiv. Andrea Sardin verfasste noch viele spannende Kriminalromane.
 

Ruedipferd

Mitglied
Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war eigentlich Theologin von Beruf gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.

Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 08.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen, den sie bereits für ihn aufbewahrt hatte. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor.
Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war schon deshalb ein Dorn im Auge des erfolgreichen Kommissars gewesen, weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht lösen konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung gehörte die Tat immer noch zu den Unaufgeklärten. Was geschah damals?

Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.

Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer heißen Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten nur als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch an diesem Roman war irgendetwas anders. Friedrich verließ den Sessel nur, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.

„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.

Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, sondern niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.

Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht, Chef. So etwas habe ich noch nie gelesen. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.

„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin herstellen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.

„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er es selbst, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.

„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet.
„Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!

„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Liebe nicht zeigen.
Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die wegen der Missbrauchsskandale schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden. Dass konnte ich auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge.

„Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus. Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen. Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.

„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“

Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick nach unten und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt.
„Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten zu meiner Nichte nach Brasilien ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine andere mehr. Die Frau Dr. Martensen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und sie macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir Transen müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“

Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Fälle zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Ach, diese dämliche Schuhwerbung, wieder. Friedrich schüttelte den Kopf. Doch, Schuhe? Was war da noch? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das ihn nie wieder los lassen sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe 43 bis 44 nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war doch, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

Ruedipferd

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Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war eigentlich Theologin von Beruf gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.

Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 08.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen, den sie bereits für ihn aufbewahrt hatte. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge:
Der erschlagene Professor.
Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er war schon deshalb ein Dorn im Auge des erfolgreichen Kommissars gewesen, weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht lösen konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung gehörte die Tat immer noch zu den Unaufgeklärten. Was geschah damals?

Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging.
Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.

Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer heißen Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben.
Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten nur als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch an diesem Roman war irgendetwas anders. Friedrich verließ den Sessel nur, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.

„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.

Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, sondern niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.

Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“
„Ich weiß nicht, Chef. So etwas habe ich noch nie gelesen. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.

„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin herstellen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.

„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen.

„Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet.
„Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar.
Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die wegen der Missbrauchsskandale schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden. Dass konnte ich auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus.

Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“

Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf.
Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen.
„Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.

Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt.
Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht aus. „Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine andere mehr. Die Frau Dr. Martensen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und sie macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir Transen müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“

Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Fälle zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Ach, diese dämliche Schuhwerbung, wieder. Friedrich schüttelte den Kopf. Doch, Schuhe? Was war da noch? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das ihn nie wieder los lassen sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war doch, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

jon

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Teammitglied
Nett ;-)
Das mit der Namensgleichheit ist viel zu fett. Willst du die Polizisten als doof hinstellen, dass sie nach dieser extremen Übereinstimmung noch den Namen brauchen und trotzdem "überrascht" sind? ("Das ist nur eine erfundene Geschichte" denkt Franzen, obwohl er weiß, dass es ein realer Fall war? Oder: “Doch an diesem Roman war irgendetwas anders." – Nicht irgendwas, der Typ weiß ganz genau, was, deshalb hat er das Buch ja sogar gekauft! Oder "Es kann auch alles ganz harmlos sein." – Wie das denn? Vielleicht kann die Autorin hellsehen, der was? )
Und: Instinkt hin oder her - die Vorsicht, mit der sich Friedrich an die Frau rantastet, ist schon eher merkwürdig.

Die Absatzgestaltung wirkt ein wenig, als hättest du ausgewürfelt, wo einer sein soll und wo Leerzeile hin soll und wo nicht. Wieder sind auch die Dialoge betroffen: Ein neuer Redner bekommt einen neuen Absatz. Hier zum Beispiel ergibt sich durch die falsche Absatzgestaltung Unsinn:

… recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte …
Bei der Konstruktion sagt Franzen: „Was, Peter? Nun sprechen Sie es dich endlich aus!"

Einige weitere Details:

Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war eigentlich Theologin von Beruf gewesen.
… aber tatsächlich hat sie was beruflich gemacht?

Sie war eigentlich Theologin, schrieb dann aber theologische Fachbücher. Das ist nicht sehr sinnvoll.

um 08.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat.
"8.10 Uhr" oder altmodisch "zehn nach acht" oder "acht Uhr zehn"

und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen, den sie bereits für ihn aufbewahrt hatte.
Wozu hebt sie ihm den Tresen auf? ;)


weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht lösen konnte.
hatte lösen können


Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung gehörte die Tat immer noch zu den Unaufgeklärten.
Komma nach Pesnionierun
"unaufgeklärten"


Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln.
Der Hinweis auf Sexualmedizin reicht einmal. Ich würde es bei der Leiter-Sache stehen lassen, weil die Position später noch relevant ist.

Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer heißen Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben.
Eigentlich sollte lieber der Tee heiß sein, nicht die Kanne.

Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit.
Meinst du "nur ein Kapitel"?

Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen.
Kommas vor und nach "um wach zu bleiben"

Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, sondern niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde,
Wieso "nicht nur"? "Der nicht nur Bücher hasste, sondern sich Krimis noch nicht mal im Fernsehen ansah." würde Sinn ergeben.

wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
Moooment! Ich denke, er liest normalerweise nicht – dann ist praktisch jede Geschichte, die er liest, die merkwürdigste, die er je las.

Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu.
Naja, das sollte bei belletristisch aufbereiteten Sachen immer so sein. Die Autorin hat halt ausgeschmückt - was ist das so verwunderlich?

So etwas habe ich noch nie gelesen
… klar, wenn er sowieso nie (Bücher) liest!.

einen Termin mit der Autorin herstellen
Kontakt kann man herstellen, Termine werden nur gemacht.

Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte.
… weil Friedrich (zufällig) dieses Buch gelesen hat, ist er gleich sooo toll? Oder weil er gleich auf die Parallen zum realen Fall stieß? Wie blöd sind denn Kriminologen normalerweise?

Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben.
… als Kursiosum höchstens, eine geschichtswürdige Leistung ist das ja wohl nu nich.

Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
Weil sich herausstellt, dass er lesen kann, oder was? Nein im Ernst: Das ganze ist keine Leistung der beiden, sie sind (offenbar) nur die ersten, die es merken.

Die warme Atmosphäre überzeugte ihn.
Wovon?


Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Absatz zwischen den Rednern!
Was hat seine Jugendlichkeit mit dem Tee zu tun?

Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen,
Bemerkung am Rande: Ich bezweifle, dass eine Theologin "Lehre Gottes" sagen würde. Gott ist, soweit ich weiß, nicht "der Lehrer" (Mohammed gilt als {Prophet und} Lehrer, Jesus womöglich noch).

, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden
Image-Schaden
Am Rande: Der Missbrauchsskandal und das hier sind zwei so verschiedene Paar Schuhe wie Astronauten-Stiefel und barfuß. Dass ein Priester sich zur Frau umwandeln lässt, hat mit "Image-Schaden" nichts zu tun.

Dass konnte ich auch dem Heiligen Vater nicht antun.
Das konnte ich ihm nichtg antun.

Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und
Doch es war nicht genug. Als …", Andrea nahm

Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd.
"Noch in diesem Leben" - wie gütig!

Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen.
Komma nach beschmutzen

dass ich meinen Priesterstand kündigte.
Man seinen Stand nicht kündigen.

Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein
Sorry, aber nach all dem Gesülze, müsste der ach so tolle Instinkt des Polizisten langsam wach werden: Er/Sie hat für Martin getan, nicht für sich? Und er ist doch nicht FÜR die Umwandlung gestorben!


„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“
Friedrich ist nicht ganz bei sich, oder? Eine hoch angesehene Theologin macht ihr Seelenheilempfinden von einem Polizisten abhängig? Das müsste doch Großalarm auslösen!


Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber.
Hat es irgendeinen Sinn innerhalb der Story, dass der Kuli golden ist? Und warum schleppt Friedrich ein so wertvolles Tück mit sich rum?

Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen.
Der Einschubsatz ist überflüssig, das haben wir ja gerade bretterbreit gesagt bekommen.

Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir Transen müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Moment! Das klingt nach Transvestiten, nicht nach Transsexuellen! Achtung bei Millieu-Sprache, die muss sitzen!

Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen.
Zeitfehler: "Er konnte zu Ende bringen" geht noch, weil er durch das Schreiben des berichtes ja gerade dabei ist. Aber "er hatte sie kennenlernen können".

„Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm.
Bei so hellhörigen Decken hat er seinen Bericht schreiben können? Er muss doch die ganze Zeit von Werbung angebrüllt worden sein!

Ach, diese dämliche Schuhwerbung, wieder. Friedrich schüttelte den Kopf. Doch, Schuhe? Was war da noch?
Die Kommas sitzen merkwürdig. Warum ist vorn das "wieder" betont, wann in der Story gab es die schon mal? Und was meinst du mit dieser Doch-Frage?
 

Ruedipferd

Mitglied
Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologin von Beruf gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge:
Der erschlagene Professor.
Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er war schon deshalb ein Dorn im Auge des erfolgreichen Kommissars gewesen, weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht hatte lösen können. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unaufgeklärten. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.

Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben.
Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch an diesem Roman war irgendetwas anders. Friedrich verließ den Sessel nur, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.

„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.
Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“
„Ich weiß nicht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen.

„Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar.
Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die wegen der Missbrauchsskandale schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden. Das konnte ich doch auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus.
Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“

Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf.
Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen.
„Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt.
Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht aus. „Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine andere mehr. Die Frau Dr. Martensen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und sie macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir Transen müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Fälle zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Irgendjemand schien dort plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Doch, Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los würde. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war doch, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

Ruedipferd

Mitglied
Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologin gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge:
Der erschlagene Professor. Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg.
Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es war der einzige Mord, den der erfolgreiche Hauptkommissar nicht aufklären konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unerledigten Fällen und der Mörder lebte frei und unbehelligt unter ihnen. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.
Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben.
Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch dieser Roman irritierte ihn. Friedrich verließ den Sessel nur noch, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.
Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, sich mit der merkwürdigsten Geschichte zu befassen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch vollkommen neue Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“
„Ich weiß nicht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Es handelte sich vielleicht doch nur um einen völlig normalen Zufall. Und selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen.
„Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar.
Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der katholischen Lehre gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer Skandal entstanden. Das konnte ich doch auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus.
Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde bald dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“
Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf.
Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen.
„Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt.
Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht aus. „Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe böse Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine andere von uns mehr. Er hat seine gerechte Strafe bekommen. Eine Frau Dr. Petersen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und die macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir Transen müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Fälle zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Irgendjemand schien dort plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Doch, Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los würde. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war doch, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

Ruedipferd

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Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologieprofessorin gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge:
Der erschlagene Professor. Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg.
Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es war der einzige Mord gewesen, den der erfolgreiche Hauptkommissar nicht aufklären konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unerledigten Fällen und der Mörder lebte frei und unbehelligt unter ihnen. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.
Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben.
Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch dieser Roman irritierte ihn. Friedrich verließ den Sessel nur noch, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Dessen Stimme klang sachlich wie immer. Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.
Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, sich mit der merkwürdigsten Geschichte zu befassen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie erneut durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb haargenau das bizarre Sexualleben des Getöteten und machte unglaubliche neue Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Romanpriesters und so hieß doch auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert. Handelte es sich um eine zufällige Namensgleichheit oder steckte am Ende mehr dahinter?
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“
„Ich weiß nicht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Entdeckung und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Es handelte sich vielleicht doch nur um einen völlig normalen Zufall. Und selbst, wenn sich die Autorin Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen.
„Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar.
Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der katholischen Lehre gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer Skandal entstanden. Das konnte ich doch auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus.
Ich trug Frauenkleider. Er half mir, indem er mich dazu ermunterte.Ich hatte furchtbare Angst, entdeckt zu werden. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde bald dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal bitte den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen, und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich nicht nur mir selbst, sondern auch Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie, was damals wirklich geschah. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“
Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf.
Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi anscheinend ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen.
„Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt. Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht ganz aus. „Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe böse Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine Gutachten mehr hinauszögern. Er war ein Schwein und hat seine gerechte Strafe bekommen. Eine Frau Dr. Petersen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und die macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Momente zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Irgendjemand schien dort plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Doch, Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los werden sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

Ruedipferd

Mitglied
Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologieprofessorin gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor. Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg.
Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es war der einzige Mord gewesen, den der erfolgreiche Hauptkommissar nicht aufklären konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unerledigten Fällen und der Mörder lebte frei und unbehelligt unter ihnen. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle erschienen kurze Zeit später vor Ort und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt. Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem: Als Homosexueller hatte er Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe vierzig, sichergestellt wurde. Ansonsten: Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er es sich in seinen gemütlichen Lesesessel bequem gemacht hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte. Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch dieser Roman irritierte ihn. Friedrich verließ den Sessel nur noch, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Dessen Stimme klang sachlich wie immer. Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein. Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, sich mit der merkwürdigsten Geschichte zu befassen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord. Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie erneut durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb haargenau das bizarre Sexualleben des Getöteten und machte unglaubliche neue Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt: Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin. Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin, wahrscheinlich ein Pseudonym, und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Romanpriesters und so hieß doch auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert. Handelte es sich um eine zufällige Namensgleichheit oder steckte am Ende mehr dahinter?
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht recht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “ Franzen verstummte. Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Entdeckung und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Es handelte sich vielleicht doch nur um einen völlig normalen Zufall. Und selbst, wenn sich die Autorin Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist. Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern. Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der katholischen Lehre gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer Skandal entstanden. Das konnte ich doch auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus.
Ich trug Frauenkleider. Er half mir, indem er mich dazu ermunterte.Ich war ein angesehener Gemeindepfarrer und hatte furchtbare Angst davor, entdeckt zu werden. Martin sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte gerade einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing. „Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde bald dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal bitte den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen, und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste sofort, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte das verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Bei der Beerdigung sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich nicht nur mir selbst, sondern auch meinem Arzt und Gutachter Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein und ich bin jetzt froh, meine Ängste überwunden zu haben. Nun wissen Sie, was damals wirklich geschah. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen. Das erschütternde Schicksal der Autorin berührte ihn sehr, obgleich er viele ihrer Gefühle verständlicherweise als gesunder Mann nicht nachvollziehen konnte. Aber er verstand die besonderen gesellschaftlichen Probleme, denen sie ausgesetzt gewesen war.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war selbstverständlich ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“
Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi anscheinend ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen zu meinem Roman sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt. Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht ganz aus. „Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe böse Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine Gutachten mehr hinauszögern. Er war ein Schwein und hat seine gerechte Strafe bekommen. Eine Frau Dr. Petersen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und die macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Momente zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Irgendjemand schien dort plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los werden sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

Ruedipferd

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Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologieprofessorin gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor. Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg.
Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es war der einzige Mord gewesen, den der erfolgreiche Hauptkommissar nicht aufklären konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unerledigten Fällen und der Mörder lebte frei und unbehelligt unter ihnen. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle erschienen kurze Zeit später vor Ort und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt. Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem: Als Homosexueller hatte er Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe vierzig, sichergestellt wurde. Ansonsten: Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er es sich in seinen gemütlichen Lesesessel bequem gemacht hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte. Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch dieser Roman irritierte ihn. Friedrich verließ den Sessel nur noch, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Dessen Stimme klang sachlich wie immer. Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein. Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, sich mit der merkwürdigsten Geschichte zu befassen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord. Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie erneut durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb haargenau das bizarre Sexualleben des Getöteten und machte unglaubliche neue Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt: Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin. Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin, wahrscheinlich ein Pseudonym, und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Romanpriesters und so hieß doch auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert. Handelte es sich um eine zufällige Namensgleichheit oder steckte am Ende mehr dahinter?
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht recht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “ Franzen verstummte. Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Entdeckung und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Es handelte sich vielleicht doch nur um einen völlig normalen Zufall. Und selbst, wenn sich die Autorin Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist. Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern. Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der katholischen Lehre gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer Skandal entstanden. Das konnte ich doch auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus.
Ich trug Frauenkleider. Er half mir, indem er mich dazu ermunterte.Ich war ein angesehener Gemeindepfarrer und hatte furchtbare Angst davor, entdeckt zu werden. Martin sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte gerade einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing. „Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde bald dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal bitte den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen, und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste sofort, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte das verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Bei der Beerdigung sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand aufgab. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich nicht nur mir selbst, sondern auch meinem Arzt und Gutachter Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein und ich bin jetzt froh, meine Ängste überwunden zu haben. Nun wissen Sie, was damals wirklich geschah. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen. Das erschütternde Schicksal der Autorin berührte ihn sehr, obgleich er viele ihrer Gefühle verständlicherweise als gesunder Mann nicht nachvollziehen konnte. Aber er verstand die besonderen gesellschaftlichen Probleme, denen sie ausgesetzt gewesen war.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war selbstverständlich ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“
Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi anscheinend ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen zu meinem Roman sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war wieder hergestellt. Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht ganz aus. „Das hat der Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe böse Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine Gutachten mehr hinauszögern. Er war ein Schwein und hat seine gerechte Strafe bekommen. Eine Frau Dr. Petersen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und die macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb seinen Abschlussbericht per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Momente zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. „Schrei vor Glück“, tönte es aus der Wohnung über ihm. Irgendjemand schien dort plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los werden sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er. Das Wichtigste war, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Er schloss die Akte Börner und rief Franzen an.
 

Ruedipferd

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Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war Theologieprofessorin gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 8.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor. Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg.
Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es handelte sich um den einzigen Mord, den der erfolgreiche Hauptkommissar nicht aufklären konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung, gehörte die Tat immer noch zu den unerledigten Fällen und der Mörder lebte frei und unbehelligt unter ihnen. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle erschienen kurze Zeit später vor Ort und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt. Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem: Als Homosexueller hatte er Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe vierzig, sichergestellt wurde. Ansonsten: Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen. Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er es sich in seinen gemütlichen Lesesessel bequem gemacht hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte. Die nun folgenden Stunden konnten als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist nur stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch dieser Roman irritierte ihn. Friedrich verließ den Sessel nur noch, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Dessen Stimme klang sachlich wie immer. Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein. Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der dicke Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, und niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, sich mit einer äußerst merkwürdigen Übereinstimmung zu befassen.
In dem Buch ging es nämlich um einen Fall, welcher interessante Ähnlichkeiten mit dem wahren Mord am Kölner Professor aufwies. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord. Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman vieles aus seiner Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie erneut durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb haargenau das bizarre Sexualleben des Getöteten und ließ dann anscheinend ihrer Phantasie freien Lauf. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin. Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin, und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sarde war der Name des Romanpriesters. Der wahre Priester damals hieß natürlich anders. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.
Der hagere Kriminalinspektor legte das Buch auf den kleinen Glastisch neben seinen Sessel und atmete hörbar aus. Weilheim blickte interessiert von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht recht, Chef. Das ist schon sehr merkwürdig. Manchmal hat man das Gefühl, sie kennt unsere Akten und es deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Allerdings ging der Fall ja auch durch die Presse. Sie weiß über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort. Der wahre Priester hieß Markus Weber und war mit dem Professor befreundet. Es ist anzunehmen, dass er sich auch auf dem Grundstück auskannte. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin kann mit Markus Weber identisch sein.“ Franzen verstummte. Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „E eein Priester als Mörder?“ Dann sackte er sprachlos zusammen. Friedrich Weilheim lächelte zufrieden. „Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin machen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen allerdings nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und ich möchte mich nicht vor meiner Lieblingsautorin blamieren.“ Peter Franzen nickte zustimmend. Er bewunderte Weilheim, der in seinen Augen der beste Kriminalist in der Kölner Polizei war. Franzen würde ihm nie das Wasser reichen können.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das ja heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim sah sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Er fühlte sich zwischen den vielen Büchern sofort wohl. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Regale wandern. Im Kamin glühte ein Holzscheit und das leise Knistern des Feuers gab dem Raum eine anheimelnde gemütliche Atmosphäre. Einfach absurd, schoss es ihm durch den Kopf. Es handelte sich vielleicht doch nur um einen normalen Zufall. Und selbst, wenn sich die Autorin Andrea Sardin als identisch mit dem Kölner Pfarrer Markus Weber herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht.
Und nun war ausgerechnet er selbst es, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte. „Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich tatsächlich fast wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte etwas geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der gutaussehende ehemalige Polizist. Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine besondere Melancholie verriet. „Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern. Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Zuneigung nicht zeigen. Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meinem Bischof nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der katholischen Lehre gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer Skandal entstanden. Das konnte ich auch dem Heiligen Vater in Rom nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge. „Als ich den Professor am Abend seines Todes besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus. Ich trug, wie immer, wenn ich ihn traf, Frauenkleider. Martin wollte mir helfen, indem er mich dazu ermunterte. Ich war ein angesehener Pfarrer und hatte furchtbare Angst davor, dass meine Problematik in der Gemeinde bekannt würde. Martin ging sanft und einfühlsam auf mich ein. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und zu meiner wahren Identität als Frau stehen. Er wollte an dem Abend trotz der späten Stunde noch einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing. „Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Ich werde bald dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal bitte den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen, und wollte ihm den Spaten reichen.
Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall gewesen. Ich geriet sofort in Panik, denn ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Mein Geliebter war tot. Und ich war schuld daran. Und dann lief alles gänzlich aus dem Ruder. Völlig kopflos rannte ich zum Auto und fuhr sofort nach Hause. Ich hatte noch nie im Leben eine solche Angst gespürt. Natürlich war mein Verhalten falsch gewesen und ich überlegte, wie ich der Polizei die Wahrheit mitteilen könnte. Der Gedanke, dass vielleicht ein Unschuldiger in Verdacht geriete, war mir unerträglich. Gottseidank wurde nie jemand verhaftet. Aber mein Gewissen lastete dann in der Folgezeit so schwer auf mir, dass ich den Priesterstand aufgab und die Geschlechtsangleichung durchführen ließ. Das tat ich für Martin und mich. Der Weg als Transsexueller ist sehr schwer. Ich überwand meine Ängste und erlebte, genau wie Martin es vorher gesagt hatte, Augenblicke der Glückseligkeit, als ich nach der Operation aufwachte. Mein Körper und meine Seele waren endlich eins geworden. Aber die Umstände, die zu Martins Tod führten, ließen mich nie mehr zur Ruhe kommen. Nun wissen Sie, was damals wirklich geschah. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen. Das Schicksal der Autorin berührte ihn sehr, obgleich er viele ihrer Gefühle als gesunder Mann nicht nachvollziehen konnte. Aber er verstand die besonderen gesellschaftlichen Probleme, denen sie sich ausgesetzt sah. Aus dem Bericht des Gerichtsmediziners wusste er, dass der Spaten den Professor an der Schläfe getroffen hatte und der Schlag sofort tödlich gewesen war. Da hätte auch ein Notarzt nichts mehr ausrichten können. Er sah die Frau an und sprach den Verdacht aus, der ihm gerade in den Kopf kam. „Haben Sie das Buch geschrieben, um Ihr Gewissen zu erleichtern?“ Andrea nickte traurig.
„Ich glaube Ihnen, dass es sich um einen bedauernswerten Unfall handelte. Aber Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beitrugen. Da gibt es allerdings wohl nichts mehr, dessen man Sie heute noch anklagen könnte. Ich werde meinen Kollegen bitten, den Bericht für die Akte diskret abzufassen.“
Die Frau tat ihm trotz ihres Fehlverhaltens leid. Er hatte ähnliche panische Reaktionen schon oft bei Leuten erlebt, von denen man es am allerwenigsten erwarten sollte. Andrea sah ihn dankbar an. Friedrich lächelte verhalten. „Würden Sie mir einen Gefallen tun und mein Exemplar signieren?“ Er reichte der erleichterten Autorin mit ihrer wirklich ungewöhnlichen Vergangenheit seinen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin begleitet ihn nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen zu meinem Roman sagen?“, fragte sie. „Ich denke: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich etwas verschmitzt.
Sie verzog die Lippen zu einem dankbaren Lächeln und schloss hinter ihm die Tür. Dann goss sie sich einen doppelten Whisky ein und nahm das Telefon in die Hand. „Ja“, meldete sich eine dunkle Stimme. „Chantale, hier ist Andrea. Es ist so gut wie ausgestanden.“
Dann informierte die gefeierte Autorin ihre beste Freundin über alle Einzelheiten des gerade geführten Gesprächs. Die Frau am anderen Ende atmete hörbar auf. „Sie haben es also geschluckt. Und hat er etwas über die Schuhe gesagt? Du hast doch größere Füße als ich, es kann deshalb nicht dein Abdruck gewesen sein?“ Andrea hielt inne. Ein kurzer Blick aus dem Fenster und ihre Wachsamkeit war sofort wieder hergestellt. Auf der Veranda standen noch ihre Gartengummistiefel. Da käme man mit Größe vierzig wohl nicht ganz aus. „Das hat der alte Trottel nicht mehr erwähnt. Ich muss zu gut gewesen sein. Doch Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Du hast völlig recht. Das ist der einzige Knackpunkt. Aber ich wollte aus Altersgründen ohnehin in ein paar Monaten nach Brasilien zu meiner Nichte ziehen. Die haben dort mit Deutschland noch immer kein Auslieferungsabkommen. Sei unbesorgt. Der liebe böse Martin wird dich niemals mehr quälen und auch keine Gutachten mehr hinauszögern. Er war ein Schwein und hat seine gerechte Strafe bekommen. Eine Frau Dr. Petersen schreibt als seine Nachfolgerin seit fünf Jahren unsere Gutachten und die macht das sehr gut. Mit dem Kommissar werde ich schon fertig. Der Fall ist eh bereits abgelegt und er darf als Pensionär eigentlich gar keine Ermittlungen mehr führen. Mein Anwalt wird ihn in Stücke reißen.“ „Danke, Andrea, ich weiß nicht, was ich ohne dich damals getan hätte.“ Andrea lächelte. „Ist schon gut, Herzchen, wir müssen doch zusammenhalten. Und nun denk an etwas Schönes. Vielleicht besuchst du mich mal in Brasilien?“ „Das werde ich bestimmt, tschau Andrea.“ „Tschau, Bella.“
Friedrich saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb den Abschlussbericht selbst per Hand für die inzwischen schon sehr abgegriffene Akte. Er fühlte sich rundherum wohl. Zum einen konnte er diesen haarsträubenden Fall endlich zu Ende bringen und, was ihn noch mehr freute, er durfte dabei sogar seine Lieblingsautorin kennen lernen. Er trank sein Glas aus. Friedrich war passionierter Weintrinker. Er liebte Burgunder über alles und diese Flasche hatte er sich für besondere Momente zurück gelegt. Ein gellender entsetzlicher Schrei drang an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken. Irgendjemand schien in der Wohnung über ihm plötzlich den Fernseher lauter gestellt zu haben. Ach, diese dämliche Schuhwerbung. Friedrich schüttelte den Kopf. Schuhe? Was war da noch gewesen? Ein kurzer Gedanke blitzte in seinem Kopf auf und war eine Sekunde später schon wieder verschwunden. Er sah ein Bild vor seinem geistigen Auge, das er nie wieder los werden sollte. Doch er wusste das Paar Gummistiefel der Größe dreiundvierzig bis vierundvierzig im Augenblick noch nicht unterzubringen. Egal, dachte er.
Das Wichtigste war, dass der Fall endlich gelöst werden konnte. Dann rief er Franzen an.
 



 
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