Ruedipferd
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Mit Spannung wurde der neue Roman erwartet. Die fünfundsiebzigjährige Autorin, Andrea Sardin, war eigentlich Theologin von Beruf gewesen. Doch nachdem sie in den Ruhestand treten konnte, hatte sie nicht nur damit begonnen theologische Fachbücher zu schreiben, sondern entwickelte auch ein besonderes Talent für Kriminalgeschichten. Nach nur zwei Jahren war die engagierte Feministin zur renommiertesten Krimiautorin Deutschlands aufgestiegen.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 08.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen, den sie bereits für ihn aufbewahrt hatte. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor.
Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war schon deshalb ein Dorn im Auge des erfolgreichen Kommissars gewesen, weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht lösen konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung gehörte die Tat immer noch zu den Unaufgeklärten. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.
Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer heißen Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten nur als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch an diesem Roman war irgendetwas anders. Friedrich verließ den Sessel nur, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.
Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, sondern niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht, Chef. So etwas habe ich noch nie gelesen. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin herstellen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er es selbst, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet.
„Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Liebe nicht zeigen.
Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die wegen der Missbrauchsskandale schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden. Dass konnte ich auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge.
„Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus. Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen. Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“
Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Friedrich Weilheim schrieb eine unverfängliche Aktennotiz und der ungelöste Fall Professor Börner wanderte zurück ins Archiv. Andrea Sardin verfasste noch viele spannende Kriminalromane.
Die Fachwelt zeigte sich beeindruckt und pries das neueste Werk der begnadeten Schriftstellerin schon etliche Wochen vor Veröffentlichung als größte Sensation im Krimigenre. Die Werbetrommel konnte für Andrea Sardin nicht besser laufen. Auch der inzwischen pensionierte Kriminalhauptkommissar Friedrich Weilheim gehörte zu ihren glühenden Verehrern. Ihre Geschichten waren stets so gut recherchiert, dass selbst der eingefleischte Kriminologe Friedrich glaubte, reale Fälle aus seinem Berufsalltag zu erleben. Fast schien es, als verschmolzen Mörder und Autorin zu ein und derselben Person. Zum besonderen Stil der Andrea Sardin gehörte es nämlich auch, dass ihre Mörder ausschließlich dem weiblichen Geschlecht angehörten.
Es regnete an diesem Montagmorgen. Friedrich hatte sich seine Regenjacke angezogen und auch den Schirm dabei, als er um 08.10 Uhr seinen Lieblingsbuchladen betrat. Die Besitzerin empfing ihn mit einem warmen Lächeln auf dem Gesicht. Sie griff gezielt unter die Ladentheke und legte ihrem besten Kunden strahlend den neuesten Band der umjubelten Autorin auf den Tresen, den sie bereits für ihn aufbewahrt hatte. Friedrich Weilheim schmunzelte. Er blickte auf den Einband und stutzte dann merkwürdig berührt. Auf dem weißen Cover stach ihm der Titel in roter Schrift ins Auge: Der erschlagene Professor.
Daneben waren Blutspritzer abgebildet und … Friedrich starrte auf das Buch: Der Fußabdruck eines Damenschuhs, genauer gesagt waren es Pumps der Größe Vierzig. Irritiert griff der Pensionär in seine Hosentasche und zog das Portemonnaie heraus. Einen Augenblick später verließ er mit einer kleinen Plastiktüte in der Hand das Geschäft und machte sich auf den Heimweg. Sein letzter Fall ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war schon deshalb ein Dorn im Auge des erfolgreichen Kommissars gewesen, weil es sich um den einzigen Mordfall handelte, den er nicht lösen konnte. Auch heute, zehn Jahre nach seiner Pensionierung gehörte die Tat immer noch zu den Unaufgeklärten. Was geschah damals?
Es war ein regnerischer Septembermorgen gewesen, wie heute, als der aufgeregte Anruf eines Gärtners auf dem Polizeirevier einging. Der Mann sollte den Rasen an der Villa des Kölner Sexualmediziners Prof. Dr. Dr. Martin Börner mähen und hatte seinen Auftraggeber vor wenigen Minuten tot in dessen Gartenhaus aufgefunden. Polizei, Spurensicherung, Gerichtsmedizin: Sie alle waren kurze Zeit später vor Ort gewesen und Friedrich Weilheim nahm natürlich sofort die Ermittlungen auf. Bei der Tatwaffe handelte es sich um einen Spaten aus dem Gartenhaus des sechzigjährigen Leiters des Sexualmedizinischen Instituts der Universität Köln. Weilheim fand ziemlich Wunderliches heraus. Der verwitwete Professor hatte ein Doppelleben geführt.
Nach außen nahm er als aktives und geschätztes Mitglied rege an der Gemeindearbeit der katholischen Kirche teil, ließ nie eine Sonntagsmesse aus und traf den Priester nicht nur regelmäßig zur Beichte, sondern auch, um mit ihm Wohltätigkeitsveranstaltungen zu Gunsten des Kinderheims und der Armenhilfe zu organisieren. Doch der unscheinbare Professor lebte mit einem bizarren Problem:
Er war wohl homosexuell gewesen und hatte Zugang zur Schwulenszene der Domstadt gehabt. Auch war dort seine besondere Vorliebe für Transsexuelle bekannt. Professor Börner wurde bei Konzerten oder Opernaufführungen sehr häufig in extravaganter Damenbegleitung gesehen. Als Leiter der Sexualmedizin saß er an der Quelle: Zum Gutachter für Geschlechtsangleichungen bestellt, konnte er ständig auf neue Bekanntschaften unter seinen Patientinnen zurück greifen. Natürlich ermittelte die Polizei sorgfältig in diese Richtung, zumal als einziges Indiz der Abdruck eines Damenschuhs, wahrscheinlich eines Pumps der Größe Vierzig, sichergestellt wurde.
Ansonsten:
Keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts! Der Mörder hatte ganze Arbeit geleistet und den Professor von vorne mit dem Spaten erschlagen, ohne verwertbare Spuren zu hinterlassen.
Friedrich Weilheim seufzte laut auf. Er schob seinen Regenschirm zusammen und öffnete die Haustür. Hier drinnen war es warm und trocken. Als erstes kochte er Wasser, um sich dann mit einer heißen Kanne schwarzen Tees nebst Krimi ins Arbeitszimmer zu begeben. Nachdem er sich in seinen gemütlichen Lesesessel gesetzt hatte, nahm er das Buch aus der Plastiktüte.
Die nun folgenden Stunden konnten nur als ungewöhnlich bezeichnet werden. Normalerweise las der eingefleischte Kriminalist stets ein Kapitel durch und ließ sich mehrere Tage mit seiner Lektüre Zeit. Doch an diesem Roman war irgendetwas anders. Friedrich verließ den Sessel nur, um zur Toilette zu gehen oder einmal, um sich frischen Tee aufzubrühen. Er verschlang die vierhundertfünfzig Seiten an einem Stück. Dabei schüttelte er mehrmals ungläubig den Kopf. Am späten Abend fiel dieser zur Seite und das Buch auf den Boden. Friedrich schlief bis zum nächsten Tag und erwachte erst gegen Mittag. Er dachte kurz nach und wählte unrasiert und ungewaschen eine ihm wohl bekannte Telefonnummer.
„Kriminalpolizei Köln, Kommissar Peter Franzen am Apparat“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Hörer. „Ja, Franzen, Weilheim, können Sie mir die Akte Börner herbringen, bitte? Es ist wichtig und ich brauche sie sofort hier.“ Franzen stutzte. Er kannte den Fall und wusste, wie nah er seinem ehemaligen Boss ging. Die Stimme klang sachlich wie immer.
Franzen überlegte nicht lange. „Ja, geht klar, Chef. Ich bin in gut einer halben Stunde bei Ihnen.“ Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte: Er würde die nächsten zwei Nächte nicht zu Hause sein.
Denn, Peter Franzen saß bis zur totalen Erschöpfung im Lesesessel des pensionierten Kollegen Weilheim, trank literweise Kaffee um wach zu bleiben und musste ein Buch lesen. Er, der Bücher nicht nur hasste, wie der Teufel das Weihwasser, sondern niemals freiwillig einen Krimi in die Hand nehmen würde, wurde von seinem Boss dazu verdonnert, die merkwürdigste Geschichte zu lesen, die ihm bisher untergekommen war.
In dem Buch ging es nämlich um ihren eigenen Fall. Ein Sexualmediziner war erschlagen in seinem Gartenhaus aufgefunden worden. Alles stimmte. Beruf, Tatwaffe, der Verdacht der Polizei: Es war Mord.
Sogar der bedauernswerte Gärtner als Finder der Leiche fehlte nicht. Franzen konnte in dem Roman seine ganze Akte wieder entdecken, die sich, während er las, in den Händen seines Vorgesetzten befand, der sie immer wieder durchblätterte, in der festen Überzeugung, irgendetwas übersehen haben zu müssen. Doch dann setzte Franzens Verstand endgültig aus. Die Autorin beschrieb nicht nur haarklein das bizarre Sexualleben des Getöteten, sondern machte auch noch bisher unbekannte Anmerkungen dazu. So hätte der Priester der Gemeinde selbst ein dunkles Geheimnis zu bewahren gehabt:
Der fünfundsechzigjährige Gottesmann fühlte sich bereits seit frühester Jugend als Frau und war transsexuell. Mit annähernd sechzig Jahren fasste er sich endlich ein Herz und fuhr in Zivilkleidung in eine andere Stadt, um dort Damengarderobe für sich ein zu kaufen. In der Folge mietete der ehrwürdige Pfarrer unter falschem Namen als Frau verkleidet eine Wohnung. Er führte dort viele Jahre ein Doppelleben. Als Beichtvater des Professors erfuhr er natürlich auch von dessen Veranlagung. Die beiden Menschen tauschten sich aus und der katholische Priester Andreas Sardin wurde in weiblicher Rolle die Geliebte des Leiters der Sexualmedizin.
Franzen zitterte, als er weiter las. Es war nur ein Buch, ein Krimi, eine erfundene Geschichte. Die Autorin hieß Andrea Sardin und wurde als Theologin und Schriftstellerin im ganzen Land geschätzt. Er stutzte und drehte das Buch um. Andreas Sardin war der Name des Priesters und so hieß auch der wahre Priester damals. Franzen las weiter und erfuhr, dass der Pfarrer nach dem Tod seines Freundes aus dem Priesteramt ausschied und sich als Theologe in einer anderen Stadt niederließ. Er lebte nach erfolgreicher Geschlechtsangleichung bis zum heutigen Tag als Frau und nannte sich Andrea. Franzen schluckte. Über die Tat und den Mörder erfuhr er nichts. Der Fall wurde, wie im wirklichen Leben, als ungeklärt abgelegt und archiviert.
Weilheim blickte von seiner eigenen Lektüre auf. „Was sagen Sie dazu, Franzen?“ „Ich weiß nicht, Chef. So etwas habe ich noch nie gelesen. Auf jeden Fall hat sie Insiderwissen. Zum einen kennt sie unsere Akten und zum anderen deckt sich vieles mit dem, was wir später über den Professor recherchierten. Dann weiß sie über den Fundort und die Lage des Spatens Bescheid und beschreibt das Gartenhaus sowie Einzelheiten der Gegenstände dort, die ich dadurch erst jetzt richtig zuordnen kann. Wenn Sie mich fragen, diese Andrea Sardin ist der Priester Andreas Sardin und … “
Franzen verstummte.
Ihm wurde plötzlich die Ungeheuerlichkeit seines Gedankenganges bewusst. „Was, Peter? Nun sprechen Sie es doch endlich aus!“ Der Angesprochene blickte seinen ehemaligen Chef überrascht an. Noch nie hatte dieser einen der Kollegen mit dem Vornamen angeredet. Er stotterte. „Eees scheint, a a als hätten wir den Mörder des Professors gefunden!“ Dann sackte er sprachlos in seinem Sessel zusammen.
„Ich werde den Verlag anrufen und einen Termin mit der Autorin herstellen. Wenn ich mich als ehemaliger Dienststellenleiter melde und vorgebe, sie für eine Lesung vor den Kollegen gewinnen zu wollen, werde ich ihr Vertrauen haben und kann Kontakt zu ihr aufnehmen. Wir dürfen nicht mit der Tür ins Haus fallen. Es kann auch alles ganz harmlos sein. Und wir wollen uns nicht blamieren.“ Peter Franzen sah seinen Vorgesetzten zustimmend an. Er bewunderte ihn und ahnte, dass er selbst niemals so gut werden würde, egal, wie sehr er sich auch anstrengte. Wenn das alles wahr wäre, hätten sie nicht nur einen unaufgeklärten Mordfall gelöst, sondern durch die Art der Recherche und Aufklärung wohl obendrein noch Kriminalgeschichte geschrieben. Vielleicht würde sich das für ihn positiv im Hinblick auf seine bereits lang überfällige Beförderung auswirken.
„Haben Sie gut hergefunden, Herr Hauptkommissar?“, fragte die elegant gekleidete ältere Dame, und musterte Friedrich Weilheim mit interessiertem Blick. „Ja, danke schön, aber im Zeitalter der Navigationsgeräte ist das heute auch kein Problem mehr.“ Die Frau wies ihrem Besucher mit der Hand den Weg. „Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wie mir der Verlag mitteilte, möchten Sie mich zu einer Lesung meiner Werke ins Polizeipräsidium einladen?“, bemerkte sie. Friedrich Weilheim blickte sich in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer um. Die warme Atmosphäre überzeugte ihn. Der Raum war mit den vielen Bücherregalen ganz nach seinem Geschmack. Gleichzeitig schüttelte er sich innerlich. Sein Verdacht war einfach absurd. Selbst, wenn sich Andrea Sardin als identisch mit dem gleichnamigen Kölner Pfarrer herausstellte, ja, selbst, wenn sich die transsexuelle Veranlagung und auch die Affäre mit dem getöteten Professor als wahr erwies: Diese freundliche, warmherzige Frau, oder war es ein Mann, egal, diese Person konnte kein Mörder sein. Weilheims Nase und Bauchgefühl lagen immer richtig. Er hatte während seiner Dienstzeit mit seiner Intuition unzählige Verbrecher zur Strecke und zur Verzweiflung gebracht. Und nun war ausgerechnet er es selbst, der abgeklärte, pragmatisch denkende Kriminalhauptkommissar, welcher sich am Rande der Verzweiflung wähnte.
„Gnädige Frau, ich muss mich entschuldigen. All das war nur ein Vorwand. Ich wollte Sie, ja, ich musste Sie einfach persönlich kennen lernen.“ Friedrich fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, der beim Lügen ertappt worden war. Andrea Sardin lächelte geschmeichelt. „Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?“ „Gerne“, antwortete der trotz seines Alters noch sehr jugendlich wirkende Polizist.
Sie läutete und gab ihrer herbeigeeilten Haushaltshilfe entsprechende Anweisungen. „Nun, Herr Kommissar, oder sind Sie am Ende gar nicht bei der Polizei?“ „Doch, gnädige Frau, aber ich bin bereits Pensionär. Und ich bin wegen Ihres neuen Romans hier. Es ergaben sich Ähnlichkeiten, über die ich gerne mit Ihnen sprechen wollte.“ Andrea Sardin sah den smarten Senior mit einem Blick an, der neben Überraschung auch eine tiefe Trauer verriet.
„Bitte“, bestärkte sie Friedrich. Dieser begann zu erzählen. Wie er den Roman las und welche Parallelen er zu dem wahren Fall in Köln herausgefunden hatte. Als er am Ende seines Berichts angekommen war, schenkte ihm die Hausherrin eine Tasse Tee ein. Sie machte aus ihrer Rührung keinen Hehl. Endlich. Andrea Sardin sprach ein stummes Gebet und dankte Gott, dass er, der als einziger Zeuge einer unfassbaren Tat geworden war, ihr nun endlich nach so vielen Jahren erlaubte, ihr Gewissen zu erleichtern.
Wie sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt!
„Das Buch erzählt wirklich von einer wahren Begebenheit, Herr Kommissar. Und doch ist die Realität um vieles grausamer. Es ist die traurige Geschichte einer unglücklichen Liebe, die niemals existieren durfte und zweier Menschen, die nicht sein konnten, wer sie wirklich waren. Martin und ich liebten uns, aber wir durften unsere Liebe nicht zeigen.
Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorbehalte gewesen, sondern gerade auch bei mir, die Konflikte, die ich als katholischer Priester mit meinem Gewissen austrug. Ich konnte doch meiner Kirche nicht erklären, dass ich als Frau leben wollte. Das wäre zum einen Hochverrat an der Lehre Gottes gewesen, und zum anderen wäre der Kirche, die wegen der Missbrauchsskandale schon tief genug in der Kritik stand, ein weiterer ungeheurer Image Schaden entstanden. Dass konnte ich auch dem Heiligen Vater nicht antun. Gott hatte mich vor die schwerste Probe meines Lebens gestellt. Doch es war nicht genug. Als,“… Andrea nahm ein Taschentuch und tupfte eine Träne aus ihrem Auge.
„Als ich Martin am Abend besuchte, fand ich ihn im Gartenhaus. Ich trug Frauenkleider. Er wollte das so. Er sagte immer, ich müsste mein eigenes Ich leben und mich an meine wahre Identität als Frau gewöhnen. Er wollte einen kleinen Baum pflanzen und blickte sich nach dem Spaten um, welcher hinter mir an der Wand hing.
„Wenn der Baum groß ist, Andrea, wirst auch du endlich du selbst sein. Glaube mir, ich werde noch in diesem Leben dein Gutachten für die Vornamensänderung schreiben und dich zur Operation begleiten“, sagte er lächelnd. „Gibst du mir mal den Spaten, er hängt hinter dir." Ich drehte mich um, nahm das schwere Gartengerät etwas zu locker in meine Hände, wohl darauf bedacht, mir nicht die neuen weißen Lederhandschuhe zu beschmutzen und wollte ihm den Spaten reichen. Dabei stolperte ich über die Schubkarre, welche der unglückliche Martin zusammen mit dem Baum vor mich hingestellt hatte. Der Spaten glitt mir aus der Hand und den Rest kennen Sie. Es war ein furchtbarer Unfall. Aber, was sollte ich tun? Ich konnte doch in meinem Aufzug nicht die Polizei anrufen! Ich wusste, dass Martin, mein geliebter Martin, der einzige Mensch, der mir je etwas bedeutet hatte, tot war. Und ich hatte es verursacht. Ich schrie in den Himmel: „Vater, warum?“ Und musste mir doch selbst die Antwort suchen. Auf dem Friedhof sprach ich das Requiem für ihn. Mein Gewissen lastete so schwer auf mir, dass ich meinen Priesterstand kündigte. Der Weg wurde nicht einfach, aber die Geschlechtsangleichung war ich Martin schuldig. Er sollte nicht umsonst gestorben sein. Nun wissen Sie alles. Wenn ich bestraft werden muss, bin ich bereit dazu.“ Andrea weinte und wischte sich erneut die Tränen ab.
Friedrich saß erleichtert in seinem Sessel. Jetzt konnte er seinen Fall abschließen.
„Liebe gnädige Frau, Sie glauben gar nicht, wie Sie mir geholfen haben. Ich habe nun endlich Gewissheit, aber wer hätte etwas davon, wenn Sie für etwas bestraft würden, was Sie nicht getan haben. Es war ein Unfall. Sicher, Sie haben die polizeilichen Ermittlungen behindert, indem Sie nicht zur Aufklärung dieses schrecklichen Geschehens beigetragen haben. Aber ich glaube, es gäbe gar nichts, wessen man Sie heute noch anklagen könnte. Und selbst wenn, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, ich denke, Sie haben vor Gott Ihre Strafe längst verbüßt und mehr als das: Sie haben die Aufgabe, vor die Er Sie einst stellte, zu Seiner vollsten Zufriedenheit gelöst.“
„Meinen Sie wirklich? Dann kann ich jetzt auch mit reinem Gewissen vor Ihn treten, wenn meine Zeit gekommen ist?“ Friedrich lächelte. „Gewiss doch, würden Sie mir einen Gefallen tun und mir mein Exemplar signieren?“
Er reichte der erleichterten Frau mit der ungewöhnlichen Vergangenheit seinen goldenen Kugelschreiber. Dann trank er zufrieden den Tee aus und stand auf. Andrea Sardin, die in ihrem neuesten Krimi ihre eigene Biographie verarbeitet hatte, begleitete den pensionierten Hauptkommissar nach draußen. „Was werden Sie Ihren Kollegen sagen?“, fragte sie. „Was halten Sie von: Dichterische Freiheit?“, antwortete Friedrich verschmitzt.
Sie sah ihn dankbar an und schloss hinter ihm die Tür. Friedrich Weilheim schrieb eine unverfängliche Aktennotiz und der ungelöste Fall Professor Börner wanderte zurück ins Archiv. Andrea Sardin verfasste noch viele spannende Kriminalromane.